Berlin. Zehntausende demonstrierten gegen Rassismus, darunter viele Jugendliche. Entsteht nach Fridays for Future eine neue Jugendbewegung?

Die letzten Worte von George Floyd, sie reichen an diesem Wochenende bis vor das Brandenburger Tor in Berlin, sie reichten bis auf den Hamburger Jungfernstieg und den Münchener Königsplatz. „I can’t breathe“, ich kann nicht atmen, stand bundesweit auf Schildern und Atemmasken, als sich Zehntausende am Wochenende in den Städten versammelten, um gegen rassistische Polizeigewalt zu demonstrieren.

Seit dem Tod von Floyd bei einem brutalen Polizeieinsatz demonstrieren in den USA jeden Tag Tausende Menschen im gesamten Land. Inzwischen reichen die Proteste weit über die USA hinaus. Auch in Deutschland erschüttert der Fall des 46-Jährigen Tausende. Sie gehen auf die Straße. Am Berliner Alexanderplatz demonstrierten laut Angaben der Polizei am Samstag 15.000 Teilnehmer, in München gingen sogar 25.000 Demonstranten auf die Straße, in Hamburg waren es 14.000.

Und ähnlich wie zuletzt bei den Klimaprotesten der Fridays-for-Future-Bewegung ist es wieder vor allem die jüngere Generation. Über Instagram und andere Online-Kanäle finden sich Schüler und Studenten zusammen, um gegen Rassismus zu protestieren. Demonstrationen unter dem Slogan „Black Lives Matter“ gibt es in Deutschland seit 2017 – doch so viele wie jetzt waren es noch nie. Steht die Welt nach Fridays for Future vor einer neuen Protestbewegung der Jugend?

Nach Tod von George Floyd – Proteste gegen Rassismus in Deutschland

Die Aktionen für dieses Wochenende standen unter dem Motto „Silent Protest“. Silent, also still, weil man acht Minuten und 46 Sekunden lang schweigend Opfern von Polizeigewalt gedachte. So lange hatte der US-Polizist Derek Chauvin auf George Floyds Nacken gekniet. Hinter den Aktionen stehen keine erfahrenen Akteure, keine bekannten Aktivisten – einfach „einzelne, afrodeutsche Personen“, die sich spontan zusammengefunden hätten.

Dass dessen Tod auch in Deutschland so viele Menschen aufwühlt, hänge auch mit dem zusammen, was sich in den vergangenen Monaten hierzulande abgespielt habe, vermutet die schwarze Journalistin Alice Hasters. „Ich glaube, dass da unter anderem Hanau eine Rolle spielt.“ Das Attentat im Februar, bei dem neun Menschen aus rassistischen Motiven getötet worden waren, hatte bundesweites Entsetzen ausgelöst und eine Debatte über Rassismus angestoßen.

Doch kurz darauf kam Corona, und die öffentliche Aufmerksamkeit wandte sich anderen Themen zu. Zu schnell, sagt Hasters. „Da gibt es noch eine Menge angestaute Wut und Trauer.“

Obama spricht jungen Afroamerikanern Mut zu

weitere Videos

    Journalistin und Autorin Alice Hasters: „Resignieren ist keine Option“

    Hasters hat ein autobiografisches Buch darüber geschrieben, wie es ist, als schwarzer Mensch in Deutschland groß zu werden, zur Schule zu gehen, zu arbeiten und zu lieben, es heißt „Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten“.

    Die 30-Jährige wurde deshalb in den vergangenen Tagen oft angefragt, wenn es darum ging, wie sich schwarze Menschen in Deutschland im Moment fühlen. Die „Zeit“ nennt sie „die Stimme der jungen Schwarzen in Deutschland“. Mit dem Label ist Hasters nicht glücklich. Trotzdem gehört sie zu denen, die derzeit am Eindringlichsten formulieren, warum Floyds Tod auch hier so viele Menschen aufwühlt.

    Sehr anstrengend und sehr belastend seien die letzten Tage gewesen, sagt Hasters. Dass es wieder und wieder Fälle von tödlicher Polizeigewalt gegen schwarze Menschen gibt, dass wieder und wieder erst mit dem öffentlichen Auftauchen von Videos genug Druck entsteht, all das fühle sich an „wie ein wiederkehrender Alptraum.“

    Die Journalistin und Buchautorin Alice Hasters sieht auch in dem rassistischen Attentat von Hanau einen Grund darin, dass der Tod von George Floyd hierzulande so viele Menschen aufwühlt.
    Die Journalistin und Buchautorin Alice Hasters sieht auch in dem rassistischen Attentat von Hanau einen Grund darin, dass der Tod von George Floyd hierzulande so viele Menschen aufwühlt. © Andreas Buck / FUNKE Foto Services | Andreas Buck

    Vieles baut auf früheren Errungenschaften der afro-deutschen Bewegung

    Sie sei am vergangenen Wochenende auf einer der Demonstrationen in Berlin gewesen, erzählt Hasters. Viele der Anwesenden hätten zum Ausdruck gebracht, wie müde sie sind, wie erschöpft, berichtet sie. Auch sie sei erschöpft. „Man verzweifelt, aber man weiß auch, resignieren ist keine Option.“

    Doch diejenigen, die jetzt auf die Straße gehen, hätten einen Vorteil gegenüber denen, die vor ihnen kamen: Schwarze Deutsche in früheren Generationen, in der afro-deutschen Bewegung der 80er und 90er Jahre, seien viel isolierter gewesen, sagt Hasters. „Wir können auf deren Errungenschaften und Erkenntnisse aufbauen“, erklärt Hasters. „Und wir können uns viel besser finden und vernetzen.“

    Die Erschöpfung, von der die Autorin berichtet, kommt nicht nur von den traumatisierenden Bildern aus den USA.

    Antidiskriminierungsstelle: Anfragen haben sich mehr als verdoppelt

    Tatsache ist, dass Menschen mit dunklerer Hautfarbe auch bei uns immer wieder Rassismus erfahren. Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes verzeichnet in den letzten Jahren eine deutliche Zunahme von Anfragen zu Diskriminierung aufgrund von ethnischer Herkunft. Die Meldungen hätten sich „seit 2015 mehr als verdoppelt“, sagte der Leiter der Stelle, Bernhard Franke, unserer Redaktion. Rund ein Drittel aller 28.752 Anfragen seit 2006 betreffe rassistische Diskriminierung.

    Franke kritisiert, was den „alltäglichen Rassismus angeht, fehlt es in Deutschland an Bewusstsein. Oft werden solche Dinge verharmlost oder als Frotzeleien abgetan, auch wenn es sich für Betroffene um tief kränkende, rassistische Beleidigungen handelt“.

    Die Grünen-Politikerin und Vizepräsidentin des Landtags in Schleswig-Holstein, Aminata Touré, plädiert für strukturelle anti-rassistische Maßnahmen in Ministerien und Institutionen. Bekenntnisse „im Stil von ‘Wir sind gegen Rassismus’ sind schön, aber reichen nicht“.

    Und auch Einzelpersonen können handeln, so die Politikerin. Wer selbst nicht von Rassismus betroffen ist, müsse eingreifen, sagt sie: „Wenn Menschen rassistisch angegangen werden, aber auch bei rassistischen Aussagen, wenn die Betroffenen gar nicht im Raum sind.“ Die Aufgabe von nicht Betroffenen sei es, dagegen zu halten.

    Laut Franke sind auch rassistische Polizeimaßnahmen hierzulande verbreitet. Sogenanntes Racial Profiling, also Kon­trollen von Personen aufgrund ihrer ethnischen Herkunft, seien „definitiv auch in Deutschland ein Problem“. Das zeigten allein die rund 200 Anfragen, die seine Behörde dazu erhalten habe. Er verlangt, dass „alle Bundesländer künftig eigene Polizeibeauftragte schaffen“, um Rassismus durch Beamte zu untersuchen.

    Laut Angaben der Polizei demonstrierten allein in München 25.000 Menschen gegen Polizeigewalt.
    Laut Angaben der Polizei demonstrierten allein in München 25.000 Menschen gegen Polizeigewalt. © dpa | Peter Kneffel

    Antidiskriminierung: Der Wandel beginnt in den Köpfen

    Auch Tahir Della, Sprecher der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland, sieht in Polizeigewalt gegen schwarze Menschen ein Problem, das sich keineswegs auf die USA beschränkt. „Fälle wie der von George Floyd, die gefilmt werden, sind nur die Spitze des Eisbergs“, erklärt er, „der weitaus größere Teil von rassistischer Gewalt durch Behörden wird unsichtbar gemacht, auch in Deutschland“.

    George Floyd- Ein Schicksal bewegt die Welt

    weitere Videos

      In der Politik ist das Thema inzwischen auf den obersten Ebenen angekommen. Ein nach Hanau angekündigter Kabinettsausschuss zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus tagte Ende Mai zum ersten Mal. Auftrag des Gremiums sei es, Rassismus zu erkennen, zu benennen und in allen Bereichen zu bekämpfen, sagte Integrationsstaatsministerin Annette Widmann-Mauz (CDU) unserer Redaktion, „Rassismus gegen schwarze Menschen ist nicht nur ein Problem in den USA.“

      Die zunehmenden Proteste auch in Deutschland seien Ausdruck der Verzweiflung und zugleich der Hoffnung, betont die CDU-Politikerin. Die Aktionen zeigten, „wie Ausgrenzung und Diskriminierung die Gesellschaft spalten können“. Sie seien aber auch ein starkes Zeichen der Solidarität und des Drangs nach Veränderung. Das mache Mut. Denn Wandel beginne in den Köpfen.

      Bei der Bewegung Fridays for Future war es zumindest so.

      Mehr zum Thema: „Black Lives Matter“-Demo: Warum wir alle hingehen sollten