Berlin. Innenminister Horst Seehofer über die Lockerungen während der Corona-Pandemie, einen neuen Umgang mit Asyl und über CSU-Chef Söder.

„Wir setzen hier voll auf Abstand“, sagt der Mitarbeiter. Und führt seine Gäste zum Interview auf die Minister-Etage im Bundesinnenministerium. Auf den Gängen ist es ganz still, niemand trägt eine Maske. Der Innenminister empfängt in seinem Besprechungssaal, nimmt mit doppeltem Sicherheitsabstand am Tisch Platz.

Auch Horst Seehofer trägt keine Maske, obwohl er seit einer Herzerkrankung als gefährdet gilt. Auf dem Tisch steht für jeden eine kleine Brotzeit. So viel bayerische Gastlichkeit muss trotz Hygieneregeln sein.

Herr Minister, die Grenzen sind geöffnet, Reisewarnungen wurden zum Teil aufgehoben. Machen Sie sich Sorgen, dass es zu einer zweiten Welle von Corona kommt?

Horst Seehofer: Ich bin zuversichtlich und hoffe, dass es keine zweite Welle geben wird. Die Zahl der Infizierten und der Todesfälle in Deutschland liegt im internationalen Vergleich auf einem niedrigen Stand, weil die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung die Vorsichtsmaßnahmen sehr diszipliniert beachtet hat. Wir haben Glück gehabt. Darüber können wir uns freuen, ich tue es auch.

Was denken Sie, wenn Sie Bilder wie die von der Schlauchbootparty in Berlin sehen?

Seehofer: Das geht natürlich nicht. Ich verstehe auch nicht, was da zum Ausdruck gebracht werden soll. Ist das Ausdruck von Freiheit? Ist das Provokation? Die Infektionsherde entstehen fast immer in Situationen der Unvernunft. Der wichtigste Eigenschutz ist die Vernunft, sich an die relativ einfachen Regeln zu halten. Auch wenn wir jetzt an vielen Stellen vorsichtig lockern, ist es wichtig, dass wir alle weiterhin vorsichtig sind, bis ein Impfstoff gefunden ist.

Die Bundesliga hat die ersten Spiele ohne Publikum hinter sich. Wann ist es wieder möglich, ins Stadion zu gehen?

Seehofer: Jetzt lassen Sie die Fußballer mal die laufende Saison zu Ende spielen. Ich habe schon die Zuversicht im Herzen, dass wir in der neuen Saison nach und nach wieder Publikum zulassen können. Nicht sofort, nicht wie vor dem Corona-Ausbruch, aber mit reduzierten Zuschauerzahlen und so, dass die Abstände zwischen den Stadionbesuchern eingehalten werden. Wir werden hier – wie in anderen Bereichen auch – kluge Lösungen finden, bei denen wir Lebensfreude und Infektionsschutz miteinander vereinen.

Bundesinnenminister Horst Seehofer sagt, im Kampf gegen das Coronavirus sei ein Impfstoff am wichtigsten. Er habe die Hoffnung, dass dieser noch vor Jahresende gefunden werde.
Bundesinnenminister Horst Seehofer sagt, im Kampf gegen das Coronavirus sei ein Impfstoff am wichtigsten. Er habe die Hoffnung, dass dieser noch vor Jahresende gefunden werde. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Virologen wie Christian Drosten, aber auch Politiker bekommen Drohungen, Verschwörungstheoretiker gehen auf die Straße. Gibt es Anhaltspunkte dafür, dass Extremisten den Protest kapern?

Seehofer: Sie versuchen es, das sehen wir. Aber weder Links- noch Rechtsextremisten prägen den Protest. Wir beobachten stattdessen, dass die Bevölkerung sich nicht instrumentalisieren lässt. Das ist ein sehr beruhigender Befund und zeugt von der Aufgeklärtheit der Menschen in unserem Land.

Wie hart darf man die Wissenschaft öffentlich kritisieren?

Seehofer: Es gibt Wissenschaftler – wenn ich da beispielsweise an den Klimaschutz denke –, die eine Debatte politisieren und ideologisieren. Den Eindruck hatte ich bei den Virologen nicht. Zur Wissenschaft gehört es, dass Erkenntnisse revidiert werden, erst recht bei einem neuartigen Virus. Wir wissen vieles noch nicht. Mutiert das Virus? Ist jeder immun, der Covid-19 überstanden hat? Ist man geheilt? Oder drohen Spätfolgen? Ein Wissenschaftler darf und muss seine Position ändern, wenn die Erkenntnisse sich ändern. Das ist doch das Wesen von Wissenschaft. Am schlimmsten wäre eine Kontinuität im Irrtum, wenn ein Wissenschaftler neue Erkenntnisse ausblendet, nur um seine Position nicht ändern zu müssen.

Die Pandemie wird uns das Jahr begleiten. Was sind die Mittel und Methoden, in die Sie Hoffnung setzen? Ist es die Corona-App?

Seehofer: Die Corona-App ist ein kleiner Beitrag auf freiwilliger Basis, um Kontakte zurückverfolgen zu können und damit die Ausbreitung des Virus einzudämmen. Am wichtigsten ist ein Impfstoff. Es heißt, das könne bis Jahresende gelingen. Ich habe die Hoffnung, dass es vielleicht auch schneller geht. Und ich bin davon überzeugt, dass die große Mehrheit der Bürger geimpft werden möchte. Ich bin nicht dafür, eine Impfung vorzuschreiben.

Sie haben in Ihrer Zuständigkeit das Bundesamt für Bevölkerungsschutz, das im Spannungs- und Verteidigungsfall zum Einsatz kommen soll …

Seehofer: … also hoffentlich nie. Ich habe in dieser Krise meine Mitarbeiter oft nach diesem Amt gefragt.

Was haben sie Ihnen geantwortet?

Seehofer: Dass das Bundesamt nur für den Spannungs- und Verteidigungsfall zuständig ist. Das können sie der Bevölkerung schwer erklären, eigentlich gar nicht. Deswegen werde ich in Kürze mit dem Präsidenten der Behörde darüber reden, wie wir das Amt künftig aufstellen sollten. Ich bin schon der Meinung, dass eine solche Behörde bei einer Pandemie oder anderen Katastrophen – Waldbränden, Hochwasser – helfen kann. Dafür müssen wir uns die rechtlichen Grundlagen anschauen und mit den Ländern sprechen.

Geht das Corona-Krisenmanagement auf Kosten Ihrer ureigenen Aufgabe – der inneren Sicherheit? Wieso kommt etwa das neue Verfassungsschutzgesetz nicht voran?

Seehofer: Bei uns sind sämtliche Arbeiten weitergegangen, parallel zur Corona-Krise. Ich habe sehr schwierige Verhandlungen mit der SPD hinter mir. Die SPD ist bereit, dem Verfassungsschutz mehr Befugnisse zu geben, um eine laufende verschlüsselte Telekommunikation zu überwachen, die sogenannte Quellen-TKÜ. Aber die SPD will die Online-Durchsuchung von Festplatten oder Computern nicht mittragen. Jetzt können Sie als Minister sagen: Ich mache nichts. Oder ich setze um, was politisch möglich ist. Wir haben uns in der Union entschieden, das neue Verfassungsschutzgesetz ins Kabinett einzubringen, mit der Quellen-Telekommunikationsüberwachung, aber ohne Online-Durchsuchung.

Der Mord an Regierungspräsident Lübcke ist ein Jahr her. Inwieweit hat er ihren Blick auf den Rechtsextremismus verändert?

Seehofer: Seit ich in der Politik bin, bekämpfe ich den Rechtsextremismus. Dem Phänomen ist in der Vergangenheit oft nicht genug Beachtung geschenkt worden. Aber ich halte es für unsere momentan größte Bedrohung und habe dafür gesorgt, dass die Sicherheitsbehörden mehr Befugnisse und Personal erhalten haben, 600 zusätzliche Stellen für den Verfassungsschutz und das Bundeskriminalamt allein für die Bekämpfung des Rechtsextremismus. Wir haben in Deutschland über 12.000 gewaltbereite Rechtsextremisten. Das ist meine größte Sorge. Die Sicherheitsbehörden achten sehr aufmerksam auf diesen Bereich. Sie haben jetzt mehr Ressourcen und optimieren ihre Methoden. Auch damit erklärt sich, dass die Zahl der als rechtsex­treme Gefährder eingestuften Personen deutlich gestiegen ist.

Antisemitische Straftaten auf Rekordniveau

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    Der Staat gibt Milliarden für eine Mehrwertsteuersenkung aus, die den Leuten nur etwas bringt, wenn alle Preise gesenkt werden. Andernfalls wird das eine staatlich finanzierte Preiserhöhungsorgie.

    Seehofer: Das Wirtschaftsförderprogramm ist ein großes Werk. Es zeigt, dass die Koalition, die viele schon abgeschrieben hatten, erst bei der Bewältigung der Corona-Krise auf dem Zenit ihres Schaffens ist. Ich habe in 50 Jahren in der Politik viele Förderprogramme erlebt: Das ist das bislang beste, weil es zum Beispiel mit dem Kinderbonus die Kaufkraft stärkt. Und ich vertraue darauf, dass alle sich wie der Verband der Automobilhersteller dazu verpflichten, die Mehrwertsteuersenkung an die Kunden weiterzugeben.

    Sie kommen aus einem Autostandort, Ingolstadt. Wird es Jobs kosten, nichts für den Absatz von modernen Verbrennungsmotoren getan zu haben?

    Seehofer: Wir haben mit dem Kurzarbeitergeld viele Jobs geschützt und schützen sie noch heute. Die Absenkung der Mehrwertsteuer kurbelt den Absatz bei allen Fahrzeugen an. Dass wir den Schwerpunkt der Förderung auf Elektro- und Hybridautos legen, hat damit zu tun, dass wir ein Klimaziel zu erfüllen haben. Das ist für künftige Generationen ebenso wichtig. Deshalb war es richtig, die Prämien für den Kauf von Elektro- und Hybridautos zu erhöhen.

    Mehr Schubkraft gab es im Zuge der Corona-Krise jedenfalls für die Union, gerade für die CSU. Was fängt Ihre Partei damit an?

    Seehofer: Die Umfragen zeigen, dass das Potenzial der Union um die 40 Prozent liegt. Darüber freue ich mich. Ich würde die Zahlen trotzdem nicht überhöhen. Sie sind das Produkt eines guten Krisenmanagements und können sich ändern, wenn die Krise wieder in den Hintergrund rückt.

    Hätten Sie das gedacht – Markus Söder der beliebteste Politiker Deutschlands?

    Seehofer: Wir alle in der CSU freuen uns über die aktuelle Zustimmung. Solche persönlichen Anerkennungswerte hängen aber immer auch ein Stück weit von einem Thema, einer spezifischen Situation ab. Das Krisenmanagement hat Markus Söder sehr gut gemacht. Aber es ist wichtig, dass wir auf diesem Niveau weitermachen. Dann können wir das stabilisieren.

    Geht für die CSU ein Zeitfenster auf, um einen Kanzlerkandidaten zu stellen?

    Seehofer: Für diese Frage ist es zu früh. Im Dezember können Sie gerne wiederkommen und mir diese Frage noch einmal stellen.

    Sie haben EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen kritisiert, weil die gemeinsame Asylpolitik nicht vorankommt. Hat es geholfen?

    Ich bin ein großer Anhänger der europäischen Integration. Und ich bin sehr daran interessiert, dass diese Idee in der Praxis auch funktioniert. Ob bei der Seenotrettung, bei der Rückholung von Kindern aus Griechenland oder bei der Verteilung von Flüchtlingen – im Moment sind es immer nur wenige Staaten, die einspringen. Wir müssen das Thema gemeinsam anpacken und endlich sichtbar vorankommen. Die Kommission spielt da eine ganz wichtige Rolle. Ich bin sehr gespannt, welche Vorschläge für ein Gemeinsames Europäisches Asylsystem von dort jetzt bald vorgelegt werden.

    Werden Sie das unter der deutschen EU-Präsidentschaft ändern können ?

    Das werden wir erst danach beurteilen können, aber der Anspruch ist da. Wir müssen da endlich Fortschritte machen. Für Europa steht viel auf dem Spiel.

    Was wollen Sie konkret?

    Unsere Position ist klar. Wir wollen, dass an den Außengrenzen geprüft wird, ob jemand dem Grunde nach asylberechtigt ist. Ist er es nicht, kann er nicht verteilt, sondern muss zurückgeführt werden.. Dazu müssen wir die europäische Grenzschutzpolizei Frontex massiv ausbauen.

    Aber das scheitert an den osteuropäischen EU-Staaten…

    Wenn ein Staat, sich bei der Verteilung nicht beteiligt, dann muss er das System anderweitig unterstützen. Es kann durchaus eine Form von flexibler Solidarität geben.“