Brüssel/Berlin. Corona dürfte Extremisten gezeigt haben, wie verwundbar moderne Gesellschaften sind. Drohen uns künftig Anschläge mit Biowaffen?
In der Corona-Krise treibt Mediziner derzeit vor allem eine große Sorge um: Wann kommt die zweite Infektionswelle und wie gefährlich wird sie? Doch in Sicherheitskreisen wird international inzwischen eine noch brisantere Frage diskutiert: Folgt Corona bald eine menschengemachte Katastrophe – eine absichtlich verursachte Epidemie, die Terroristen durch ein ausgesetztes Virus oder einen anderen Krankheitserreger auslösen könnten?
Eine Gruppe von Sicherheitsexperten des Europarats warnt jetzt nachdrücklich vor der Gefahr durch Bioterrorismus nach Corona: „Die Covid-19-Pandemie hat gezeigt, wie verwundbar moderne Gesellschaften durch Virusinfektionen und ihr Erschütterungs-Potenzial sind“, heißt es in einer Stellungnahme des Europarats-Ausschusses für Terrorbekämpfung in Straßburg, die unserer Redaktion vorliegt.
Es gebe keinen Grund zu der Annahme, dass terroristische Gruppen diese Lektion aus der Corona-Pandemie vergessen würden. Die absichtliche Verwendung eines Krankheitserregers oder eines anderen biologischen Wirkstoffs durch Terroristen „kann sich als äußerst wirksam erweisen“, warnt die Expertengruppe, in der Sicherheitsfachleute der Europarats-Mitgliedstaaten zusammenarbeiten.
Der Schaden für Menschen und Wirtschaft könnte weitaus größer sein als bei „traditionellen“ Terroranschlägen.
Corona-Pandemie erhöht Risiko eines bioterroristischen Angriffs
Es ist nicht die erste Warnung. UN-Generalsekretär Antonio Guterres stuft die Gefahr durch Bioterroristen als eine von acht Bedrohungen der internationalen Stabilität durch Corona ein: „Die Schwächen und mangelhafte Vorbereitung, die durch die Corona-Pandemie offengelegt wurden, geben Einblicke darin, wie ein bioterroristischer Angriff aussehen könnte – und erhöhen möglicherweise das Risiko dafür“, sagt Guterres.
Auch auf der Nato-Führungsebene ist das Thema nach Informationen unserer Redaktion bereits diskutiert worden: „Es kann sein, dass die Corona-Krise jemanden auf die Idee bringt, biologische Waffen einzusetzen“, heißt es aus Kreisen des Nordatlantikrats. „Die Krise zeigt unsere Verletzlichkeit. Wir müssen unsere Widerstandsfähigkeit grundsätzlich durchdenken.“
Die akute Bedrohung ist wohl überschaubar. Der EU-Koordinator für die Terrorismusbekämpfung, Gilles de Kerchove, berichtet in einem neuen Report zwar vom Versuch eines tunesischen Islamisten, Corona als Waffe gegen Sicherheitskräfte zu verwenden. Und in den USA rufen Rechtsextremisten im Internet dazu auf, dunkelhäutige Menschen und Juden mit Corona-Viren zu infizieren. Doch wirklich bedrohlich wirkt das bisher nicht.
Experten in Deutschland halten die Gefahr eines Anschlags mit Biowaffen wie Viren derzeit auch für gering: Dies sei im Moment kein wahrscheinliches Szenario, sagt ein ranghoher Mitarbeiter einer Sicherheitsbehörde unserer Redaktion. Auch das Bundesamt für Verfassungsschutz sieht dafür keine Anhaltspunkte. Bislang konnten in Deutschland „keine konkreten oder abstrakten Tatplanungen“ oder „ernsthafte Ideen oder Gedankenspiele zu bioterroristischen Aktivitäten“ festgestellt werden, erklärt der Inlandsgeheimdienst auf Anfrage.
Islamischer Staat hilft bei Herstellung biologischer Kampfstoffe
Im „eher unwahrscheinlichen Fall“ eines solchen Anschlags dürfte am ehesten der Islamische Staat oder Al-Qaida dahinter stehen: Vor allem der IS habe verschiedene Anleitungen zur Herstellung biologischer Kampfstoffe verbreitet, so das Bundesamt. Aber in der Praxis gäbe es große Hürden: Biowaffen, etwa eine Viren-Bombe, wären für Terroristen nur sehr schwer herzustellen. Sie bräuchten dafür Labore, Schutzkleidung und vor allem das Wissen etwa von Virologen.
Der Hamburger Biowaffenforscher Gunnar Jeremias sagt unserer Redaktion: „Dass Terroristen in der Lage wären, eine Biowaffe herzustellen, die eine globale Pandemie auslösen kann, ist sehr, sehr zweifelhaft.“ Die Täter müssten zum einen „mehr können als die Spitzenforscher dieser Welt“, erläutert Jeremias, der eine Forschungsgruppe an der Uni Hamburg leitet. „Einen solchen Virus wie Sars-2, der sich so massiv ausbreitet, selbst zu erschaffen, ist technisch kaum möglich. Ein anderer Weg wäre es, bereits existierende Viren nachzubauen, das hat man etwa mit Polio-Viren auch schon gemacht, aber auch das ist voraussetzungsvoll.“
Und anschließend auch die Pandemie in Gang zu setzen, „wäre alles andere als einfach“, meint Jeremias. Doch es sei sicher möglich, dass terroristische Organisationen eine Art „Low-tech-Bioterrorismus“ versuchen könnten und etwa mit biologischen Toxinen wie Rizin operierten, die recht einfach herstellbar seien – auch wenn sich damit keine Massenvernichtungswaffen herstellen und schon gar nicht eine Pandemie mit übertragbaren Erregern auslösen ließe.
Das ist keine Theorie mehr: In Köln haben Sicherheitsbehörden vor zwei Jahren den Bau einer Rizin-Bombe durch Islamisten vereiteln können. Der Tunesier Sief Allah H. und seine Frau Yasemin hatten bereits 84 Gramm des Giftstoffs hergestellt, als Ermittler zugriffen, inzwischen sind sie zu zehnjährigen Haftstrafen verurteilt. In den USA gab es bereits mehrere kleinere Anschläge mit Biowaffen, etwa eine Serie von Briefen mit Milzbrandsporen 2001, der fünf Menschen zum Opfer fielen.
Entwickelt Nordkorea Biowaffen?
Der frühere Vize-Verteidigungsminister der USA, Andrew Weber, warnt davor, dass irgendwo auf der Welt staatliche Stellen in böser Absicht versuchen könnten, das Corona-Virus weiter zu entwickeln. Zwar sind Biowaffen weltweit verboten, die meisten Staaten haben sich einer entsprechenden Konvention von 1975 angeschlossen. Aber einige Staaten stellen solche Waffen offenbar trotzdem her: Nordkorea steht im dringenden Verdacht, mit ausländischen Forschern ein entsprechendes Programm voranzutreiben. „Nordkorea wird viel wahrscheinlicher Biowaffen einsetzen als eine Atombombe“, sagt Weber.
Eine Sorge, die nun diskutiert wird: Was, wenn es Verbindungen gibt zwischen einem Regime, das an der Biobombe forscht, und Terror-Gruppen, die sie einsetzen könnten?
Die Experten des Europarats fordern eine verstärkte und koordinierte Antwort der europäischen Staaten auf die Bedrohung. Notwendig sei eine internationale Zusammenarbeit, die personelle und materielle Ressourcen mobilisiere, ein gemeinsames Überwachungssystem, das verdächtige Fälle aufdecken könne und praktische Übungen zur Bekämpfung biologischer Angriffe.
Gut möglich, dass sich die Corona-Krise als Weckruf erweist. Im Zuge der Corona-Pandemie werde jetzt das Krisenmanagement für Epidemien auf die Probe gestellt, Lücken im Katastrophenschutz seien erkannt, sagt ein ranghoher Mitarbeiter einer Sicherheitsbehörde unserer Redaktion. Schwachstellen würden geschlossen oder verkleinert.
Wenn Terroristen jetzt einen solchen Angriff planen würden, sagt der Experte, dann sei die Welt „besser denn je vorbereitet“.
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