Berlin. Abgeschottet: Kinderschützer und Experten von Hilfetelefonen vermuten Anstieg der Gewalt gegen Kinder während der Corona-Pandemie.

Wer sich das neue Video des Vereins Dunkelziffer e.V. anschaut, vergisst es so schnell nicht. Der Betrachter sieht unterschiedliche Wohnungstüren. Das Kopfkino beginnt: Die Türen sind geschlossen und man hört dahinter Stimmen, laute Kinder, mal einen Erwachsenen, es ist unruhig.

Was genau hinter den Türen vorgeht, erfährt man jedoch nicht. Nur Sätze werden eingeblendet wie „Das geht niemanden etwas an“ oder „Dich hört sowieso keiner“. Dann folgt das traurige Fazit des Hilfevereins für Kinder und Jugendliche, die sexuelle Gewalt erfahren: „Mit der Familie allein zu sein, ist für manche Kinder schlimmer als das Coronavirus.“

In allen Bundesländern wird derzeit diskutiert, ab wann Schüler wieder in die Schulen dürfen, welche Klassen unbedingt müssen, in welcher Konstellation und Staffelung. Auch sollen in einigen Ländern wie Nordrhein-Westfalen die Kita-Kinder möglichst bald wieder in ihre Einrichtungen gehen dürfen. Niedersachsen will den Kita-Notbetreuungsschlüssel auf 40 Prozent erhöhen.

Bei der Entscheidung, welche Kinder zuerst dürfen, werden gesundheitliche, wirtschaftliche und bildungsrelevante Faktoren gegeneinander abgewogen. Wie die Kinder, vor allem die unter zehn, elf Jahren, diese Fragen beantworten würden, lässt sich zur Zeit nur vermuten. Und das ist das Problem.

Kindeswohlgefährdung: Kindern fehlt der Kontakt zu „Fremdmeldern“

Heinz Hilgers, Präsident des deutschen Kinderschutzbundes, berichtet davon, dass seit Mitte März, seit Beginn der Corona-Krise, die Zahl der Meldungen, in denen eine Kindeswohlgefährdung vorliegen könnte, zurückgegangen sind. Was daran liege, dass die meisten dieser Meldungen sonst von sogenannten Fremdmeldern gemacht werden.

„Zirka 60 Prozent dieser Meldungen bei den Jugendämtern werden von Lehrern, Erziehern und Betreuern getätigt. Die haben aber gerade keinen Zugang zu den meisten Kindern“, so Hilgers. Hilgers erwartet dagegen einen Anstieg der verdeckten Gewalt, der Dunkelziffer. „In den Jugendämtern spricht man im Moment von der Ruhe vor dem Sturm“, was so viel heißt wie, was den Kindern wirklich in den Corona-Wochen widerfahren ist, wird man erst danach erfahren.

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    Auch im Bundesfamilienministerium fürchtet man einen Anstieg der Fälle häuslicher Gewalt gegen Kinder und Frauen. Denn, so ein Sprecher des Ministeriums, die Corona-Krise stelle viele Familien vor große organisatorische und finanzielle Probleme. Dass Familien derzeit auch noch sehr viel Zeit auf engem Raum zu Hause verbringen, erhöhe das Konflikt- und Stresspotenzial, vor allem in vorbelasteten Familien. Familienministerin Franziska Giffey nehme das Thema „sehr ernst“.

    Gewalt an Kindern: Die Täter sind ganztägig zuhause

    Heinz Hilgers ist regelrecht verärgert, wenn er über die gegenwärtige Öffnungsdiskussion in Deutschland spricht: „Im gewerblichen Bereich gibt es inzwischen wieder viele Öffnungen, in den Schulen und Kitas aber nicht wirklich. Wenn Möbelhäuser, Autohäuser und Geschäfte wieder öffnen, Kitas und Schulen geschlossen bleiben, kommen die Interessen der Kinder zu kurz.“

    Gewalt gegen Kinder sei nur die Spitze des Problems, auch wenn laut Bundeskriminalstatistik 150 Kinder in Deutschland pro Jahr an den Folgen von Gewalt und Vernachlässigung sterben.

    Kinder brauchen für ihre Entwicklung dringend den Kontakt zu anderen Kindern und ihren Vertrauenspersonen und sind jetzt durch die Auswirkungen der Corona-Pandemie von der Außenwelt abgeschirmt. Personen, die sonst zusätzlich zu der Familie auf das Wohl der Kinder geachtet haben wie Sporttrainer, Vereine oder auch die Großeltern haben keinen Zugang zu ihnen.

    Seit Ausbruch der Corona-Pandemie ist die Zahl der Hilfegesuche bei einigen Beratungshotlines angestiegen. Andere Hilfsangebote dagegen melden keinerlei Veränderungen. Kinderschutzexpertinnen wie Silke Noack vom „Hilfetelefon Sexueller Missbrauch“ befürchten, dass gerade das ein Indiz für die Zunahme familiärer Gewalt in der Corona-Krise sein könnte: Täter und Täterinnen sind ganztägig zuhause, Kinder können so nicht heimlich telefonieren.

    Berater von Hilfetelefonen beschreiben das als den sogenannten „Feiertags-Effekt“: Immer nach Zeiten des „verordneten Familienlebens“ wie zum Beispiel Weihnachten, steigt die Zahl der Kinder, die anrufen und Hilfe suchen, stark an. Corona wird vermutlich ähnlich wirken.

    Ausmaß dürfte erst nach Corona bekannt werden

    Hilfsorganisationen wie Dunkelziffer e.V. können das nur bestätigen. Vereinsvorständin Vera Falck berichtet, dass die Kinder sich selbst ab zwölf Jahren bei dem Verein melden würden. Die Jüngeren haben nicht das Wissen darum oder auch nicht die Möglichkeit, weil sie kein eigenes Telefon haben. „Wir wollten uns mit unserem Video an die Erwachsenen wenden und verdeutlichen: Wenn ihr vermutet, ein Kind ist in Gefahr, dann meldet euch.“

    Falck ist sich sicher, erst wenn die Kinder wieder zurück in Schule und Kita gehen, werde man erfahren, was wirklich passiert ist. „Gerade wenn Kinder zu Hause von sexueller Gewalt betroffen sind, ist im Moment ein Entkommen nicht möglich“.

    Die Experten der „Nummer gegen Kummer“, einer bundesweiten Online- und Telefonberatung für Kinder und Eltern haben bereits im März 2020 einen deutlicher Anstieg der Beratung verzeichnet. So fanden beim Elterntelefon 22 Prozent mehr Beratungen statt als im Vormonat. Bei der Chat-Beratung für Kinder und Jugendliche lag der Anstieg an Anfragen bei 26 Prozent.

    Corona-Krise wirkt „wie ein Brennglas“

    Der Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, warnt davor, die schrittweise Öffnung der Schulen als Rückkehr in eine behütete Normalität misszuverstehen: Denn Gewalt in der Familie habe auch vor Corona zur gesellschaftlichen Realität gehört. Aber erst jetzt werde die Hilflosigkeit von Kindern, wenn sie von familiärer Gewalt bedroht sind, besonders deutlich. „Die aktuelle Krise wirkt wie ein Brennglas.“

    Rörig ruft dazu auf, jetzt auf Kinder zu achten, die in den vergangenen Wochen wegen der Ausgangsbeschränkungen wenig sichtbar waren. Rörig appelliert an alle Lehrer, gerade jetzt bei ihren Schülern auf Verhaltensänderungen zu achten. „Ich weiß, dass alle stark gefordert sind, um den Lehrbetrieb unter widrigen Bedingungen wieder anlaufen zu lassen.“ Um Kindern Schutz zu bieten, werde aber die Hilfe aller gebraucht.