Washington. Präsidentschaftskandidat Joe Biden unter Druck: Eine frühere Mitarbeiterin erhebt Vorwürfe gegen ihn. Nun will Biden Stellung nehmen.

Seit die Corona-Krise die USA lähmt, hat Joe Biden an die 20 Mal aus seinem improvisierten TV-Studio im Keller seines Hauses in Wilmington Video-Konferenzen mit Wählern, Geldgebern und prominenten demokratischen Parteigängern um Unterstützung im Präsidentschaftswahlkampf geworben. Der „Elefant im Raum” kam dabei nie zu Sprache. Dabei wird sein mediales Getrampel immer dröhnender.

Tara Reade (56) wirft dem designierten Herausforderer von Donald Trump vor, sie vor 27 Jahren im Kapitol von Washington gegen ihren Willen gegen eine Wand gedrückt und geküsst zu haben. Danach soll der langjährige Senator des Bundesstaates Delaware, für den Reade 1993 ein halbes Jahr gearbeitet hatte, ihr gegen ihre Einwilligung unter den Rock gegriffen haben, um mit den Fingern in sie einzudringen. Als sich die heute als Juristin arbeitende Frau widersetzt habe, soll Biden ihr gesagt haben: „Du bist ein Nichts für mich.“

Am Freitag will sich Biden nun erstmals zu dem Vorwurf äußern. Biden werde in der Frühstückssendung „Morning Joe“ zum ersten Mal Stellung nehmen, teilte der Kabelnachrichtensender MSNBC bei Twitter mit.

Die Anschuldigungen, die Bidens Kandidatur verschatten, sind seit Tagen bekannt und nehmen trotz des alles dominierenden Coronavirus-Thema in den Zeitungen immer mehr Raum ein. Leitmedien wie „New York Times” und „Washington Post” hatten umfangreiche Recherchen dokumentiert, die jedoch kein klares Bild ergaben.

Mehrere Personen, darunter Reades Bruder und ihre verstorbene Mutter, sollen eingeweiht gewesen sein. Eine offizielle Beschwerde, die Reade damals beim Senat eingereicht haben will, ist unauffindbar. Reade hat ihre Darstellung mehrfach verändert und ergänzt.

Schwere Vorwürfe gegen US-Demokrat Biden: Schon im Frühjahr 2019 gab es Anschuldigungen

Bidens Sprecherin Kate Bedingfield stellt kategorisch fest: „Das ist überhaupt nicht passiert.” Flankierend äußern sich ehemalige Mitarbeiterinnen des 77-Jährigen. „So etwas hätte sich tief bei mir eingebrannt, als Frau wie als Managerin”, lässt sich eine ehemalige Bürochefin zitieren.

Reade lässt das nicht stehen. Auf Twitter erklärt die Kalifornierin: „Ich wurde von Joe Biden vergewaltigt, meinem früheren Boss, eine Demokraten”. Es gebe für eine „institutionalisierte Vergewaltigungskultur keine Entschuldigung”.

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Das sind im Vergleich zum Frühjahr 2019 entschieden härtere Vorwürfe. Damals, als Biden offiziell ins Rennen um das Weiße Haus einstieg, hatten acht Frauen den Weg in die Öffentlichkeit gesucht. Sie warfen Biden vor, Zuneigung und Verbundenheit durch zuweilen als aufdringlich und grenzüberschreitend empfundene körperliche Gesten auszudrücken.

Im Fall der Demokratin Lucy Flores aus Nevada soll sich Biden von hinten genähert, an ihrem Haar geschnüffelt und sie auf den Hinterkopf geküsst haben. Berühmt-berüchtigt sind zudem Bidens überfallartige „Schultermassagen”; manchmal sogar vor laufender Kamera.

Rechte Kommentatoren werfen Demokraten „Einäugigkeit“ vor

Alle Frauen, auch Tara Reade, zogen seinerzeit allerdings eine klare Trennlinie zu sexueller Belästigung oder gar Vergewaltigung. Das hätten sie nicht erlebt, sagten sie. Biden zeigt sich reuig und versprach, er werde künftig respektvoller mit der Intimsphäre anderer umgehen. Vorwürfe aus rechten Kreisen, die Biden als „creepy” (unheimlich, gruselig) bezeichneten, verstummten mit der Zeit.

Warum Reade erst jetzt so massiv nachgelegt hat? In US-Medien wird eine politisch motivierte Vergeltungsaktion nicht ausgeschlossen. Reade, eine traditionell demokratische Wählerin, war Anhängerin von Bidens Hauptrivalen Bernie Sanders. Sie selbst sagt dagegen: 2019 sei sie psychisch noch nicht so weit gewesen, die ganze Wahrheit über die Begegnung mit dem Senator 1993 öffentlich auszubreiten.

Obama- Biden kann USA heilen

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    Teile des linken Flügels der Demokraten, die noch nicht die Niederlage ihres Heroen Bernie Sanders verwunden haben, machen seither in Internetforen gegen Biden mobil und verlangen seinen Rückzug aus dem Rennen um die Präsidentschaftskandidatur; mindestens aber schonungslose öffentliche Aufklärung. Rechte Kommentatoren und republikanische Strategen holen das „creepy”-Etikett wieder hervor und werfen den Demokraten „Einäugigkeit” vor.

    Seit Hollywood-Mogul Harvey Weinstein und der #MeToo-Bewegung, spätestens aber seit den Vergewaltigungsvorwürfen der Psychologieprofessorin Christine Blasey Ford gegen den von Donald Trump persönlich ausgewählten ultrakonservativen Top-Richter Brett Kavanaugh, hat sich bei den Demokraten eine Faustregel etabliert: Frauen, die sexuelle Übergriffigkeit mächtiger Männer öffentlich machen, ist Glauben zu schenken. Auch wenn die Taten Jahrzehnte zurückliegen. Auch wenn wasserdichte Beweise nicht mehr beizubringen sind.

    Demokratische Spitzenpolitikerinnen verteidigen Biden

    Mit dieser Haltung wollte sich die Partei Bill Clintons bewusst von den Republikanern und Donald Trump absetzen. Dessen Verhältnis zum anderen Geschlecht gilt nicht erst als stark belastet, seit im Wahlkampf 2016 Tonbandaufnahmen auftauchten, in denen Trump davon schwärmte, er könne Frauen einfach so in den Schritt fassen („Grab them by the pussy”). Fast 20 Frauen haben dem New Yorker Geschäftsmann in den vergangenen Jahren sexuelle Nötigung vorgehalten, einige Fälle stecken noch im juristischen Prozess. „Daraus Kapital für den Wahlkampf zu schlagen, wird Joe Biden nicht mehr gelingen“, sagen US-Analysten.

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    Delikat ist die Lage auch für demokratische Top-Frauen, die sich Hoffnung auf eine Nominierung als Vizepräsidentschaftskandidatin machen. Joe Biden hatte sich früh festgelegt, er werde eine Frau mit aufs Ticket nehmen. Leicht favorisierte Persönlichkeiten wie die Senatorinnen Amy Klobuchar und Kamala Harris, die Gouverneurin Gretchen Whitmer aus Michigan oder die afro-amerikanische Regional-Politikerin Stacey Abrams aus Georgia versuchten gestern den Spagat.

    Natürlich seien die Vorwürfe schwerwiegend, dürften nicht abgetan werden und müssten aufgeklärt werden, sagten sie in ähnlich klingenden Stellungnahmen. Allerdings könne Biden auf eine vier Jahrzehnte umspannende Biografie verweisen, in der die Eindämmung von Gewalt gegen Frauen und Förderung von Frauen in Politik und Arbeitswelt eine zentrale Rolle gespielt hätten.