Berlin. Bildungsministerin Anja Karliczek über Schulen im Corona-Ausnahmezustand – und warum die Herstellung eines Impfstoffs so schwierig ist.

Das Virus wird uns noch viele Überraschungen bereiten, glaubt Anja Karliczek, die in der Bundesregierung für Bildung und Forschung zuständig ist. Worauf sich die Deutschen einstellen müssen, sagt die CDU-Politikerin im Interview.

Wird die Corona-Krise zu einer Bildungskrise, Frau Karliczek?

Anja Karliczek: Wir müssen alles tun, um unseren Kindern in den nächsten Monaten Bildung zu ermöglichen - so gut es unter den Bedingungen des strikten Gesundheitsschutzes geht. Das ist eine zentrale gesellschaftliche Aufgabe. Bildung ist Zukunft. Der Bund und auch die Länder investieren in den Ausbau der digitalen Bildung. Es wird aber auch viel Engagement der Lehrerinnen und Lehrer und Schülerinnen und Schüler sowie eine breite Unterstützung durch die Eltern nötig sein, um das zu schaffen. Die Ausnahmesituation wird bis weit in das nächste Schuljahr andauern. Gute Bildung weiter zu ermöglichen, ist ebenso wichtig, wie die Wirtschaft ins Laufen zu bringen.

Wann können die Familien mit einem normalisierten Schulbetrieb rechnen?

Karliczek: Erst wenn große Bevölkerungsgruppen geimpft sind, werden wir zum gewohnten Unterricht zurückkehren. Solange werden wir eine neue Mischform von Präsenzunterricht und digitalem Unterricht haben. In der Schule werden strenge Hygiene- und Abstandsregeln gelten. Das wird sich auf die Klassengrößen, die Schulverpflegung und die Gestaltung der Pausen auswirken.

Haben Sie Verständnis, wenn einige Bundesländer forsch und andere eher zögerlich vorgehen?

Karliczek: Die Länder haben gemeinsame Leitlinien entwickelt. Die Abiturprüfungen sind dafür ein Beispiel. Im Einzelnen müssen die Länder, aber selbst die einzelnen Schulen die Möglichkeit haben, unterschiedlich vorzugehen. Die Gegebenheiten sind von Ort zu Ort unterschiedlich. Das muss berücksichtigt werden können. Die einen Schulen haben kleinere Klassenräume, die anderen größere. Dass der Schulbetrieb zu zügig anläuft, habe ich bisher nirgendwo beobachtet.

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    Die Kanzlerin berät an diesem Donnerstag ein weiteres Mal mit den Ministerpräsidenten. Was soll dabei herauskommen?

    Karliczek: Die Kultusministerkonferenz hat ein gutes Konzept entwickelt. Das ist eine Art roter Faden, an dem sich alle orientieren können. Klar ist, dass das digitale Lernen auf absehbare Zeit einen großen Stellenwert haben wird.

    Wie kann der versäumte Stoff nachgeholt werden?

    Karliczek: Denkbar sind Sommercamps in den Ferien. Das müsste sich nach den Kapazitäten der einzelnen Schulen richten und dürfte nicht verpflichtend sein. Vielleicht ließe sich auch durch engagierte Bürgerinnen und Bürger eine begleitende Unterstützung außerhalb des regulären Unterrichts organisieren – zum Beispiel auch an Samstagen am Vormittag, wenn es keinen regulären Unterricht gibt.

    Wie wollen Sie verhindern, dass die Abiturienten 2020 einen Corona-Malus bekommen - mit geringeren Chancen auf einen Studienplatz? Bildungsexperten erwarten einen schlechteren Notendurchschnitt…

    Karliczek: Der Großteil der Abiturleistungen wird schon in der Kursphase erbracht. Man muss jetzt einfach beobachten, wie die Prüfungen laufen. Wenn man deutschlandweit feststellt, dass sich die derzeitige Lage negativ auf die Noten auswirkt, kann gegebenenfalls nachgesteuert werden. Aber momentan habe ich den Eindruck, dass die Abiturienten gut mit der Situation klarkommen oder bereits klargekommen sind.

    Anja Karliczek (CDU), Bundesministerin für Bildung und Forschung, rechnet damit, dass die Herstellung eines Corona-Impfsoffs „ein riesengroßer Kraftakt“ wird.
    Anja Karliczek (CDU), Bundesministerin für Bildung und Forschung, rechnet damit, dass die Herstellung eines Corona-Impfsoffs „ein riesengroßer Kraftakt“ wird. © dpa | Bernd von Jutrczenka

    Es gibt Studien, wonach Kinder und Jugendliche bei der Verbreitung des Virus gar keine große Rolle spielen. Überziehen Sie mit den Schutzmaßnahmen?

    Karliczek: Hier gibt es keine abschließenden Ergebnisse. Wir müssen vorsichtig sein. Das Ansteckungsrisiko so gering wie möglich zu halten, bleibt das zentrale Ziel. Daher tasten wir uns schrittweise vor. Alles andere wäre verantwortungslos gegenüber denen, die Schule besuchen oder dort arbeiten. Wir machen jetzt auch in Deutschland verschiedene Studien zu dieser Frage, und ich nehme an, dass zeitnah Zwischenergebnisse vorliegen.

    Geht die Politik immer verantwortungsvoll mit den Empfehlungen der Wissenschaft um?

    Karliczek: Der Rat der Wissenschaft ist gerade in dieser Corona-Krise von ganz zentraler Bedeutung. Wir müssen diesen Rat ernst nehmen - heute und in der Zukunft. Die Aufgabe der Politik ist, auf Basis dieser Ratschläge die unterschiedlichen Gesichtspunkte abzuwägen und dann zu entscheiden.

    Verstehen das auch alle? Wir erleben Politiker, die Virologen attackieren, weil sie sich widersprechen…

    Karliczek: Die Erkenntnisse in der Wissenschaft entwickeln sich immer weiter. Es gibt in der Wissenschaft fast nie eine abschließende Gewissheit. Forschung ist immer ein Prozess, der stets von einer gewissen Vorläufigkeit und damit auch Unsicherheit geprägt ist. Wer sich mit wissenschaftlichen Erkenntnissen auseinandersetzt, sollte das immer berücksichtigen. Wissenschaft und Politik sollten mit diesem Erkenntnisprozess transparent umgehen. Und natürlich muss sich in einer Demokratie auch die Wissenschaft der Diskussion stellen. Was sie aber auch tut.

    Der Virologe Christian Drosten bekommt inzwischen Morddrohungen.

    Karliczek: Das ist ein neuer Höhepunkt in einer schrecklichen Entwicklung. Diese Polarisierung des Diskurses macht mich fassungslos. Wir müssen die Wissenschaft - und nicht nur die - vor Hass schützen. Wir müssen aufpassen, dass sich die Wissenschaft nicht aus den öffentlichen Diskussionen verabschiedet. Die Gesellschaft weiß um die Bedeutung der Wissenschaft. Aber die Politik sollte gerade jetzt noch mehr um Verständnis für die Wissenschaft werben. Wissenschaftliche Erkenntnis und wissenschaftlicher Rat ermöglichen es, faktenbasierte Entscheidungen zu treffen und die Folgen von Handeln und auch von Nichthandeln abzuschätzen.

    Forscher auf der ganzen Welt suchen nach einem Impfstoff gegen das Coronavirus. Wann wird es soweit sein?

    Karliczek: Ich hoffe, in zwölf bis 18 Monaten. Und es wird vermutlich nicht den einen Impfstoff geben. Es werden eher mehrere verschiedene Impfstoffe auf den Markt kommen. Weltweit gibt es bereits rund 90 Impfstoffentwicklungsprojekte - in Deutschland sind es drei. Dabei werden sehr unterschiedliche Ansätze verfolgt. Manche Impfstoffe könnten sich besser für ältere, andere für jüngere Personen eignen - und wieder andere für bestimmte Risikogruppen. Das ist Teil der klinischen Prüfungen.

    Wer wird als erstes geimpft?

    Karliczek: Man könnte schon in der zweiten Phase der klinischen Studien größere Gruppen auf freiwilliger Basis impfen. Dabei könnte man beim medizinisches Personal und anderen, die in systemrelevanten Bereichen arbeiten, beginnen - Beispiel Polizistinnen und Polizisten oder auch Lehrerinnen und Lehrer. Und natürlich müssen wir vorrangig an die denken, die zu den Risikogruppen zählen, also ältere Menschen oder Personen mit Vorerkrankungen wie Krebs. Es wird vermutlich eine gewisse Staffelung geben. Mir ist allerdings wichtig, dass sichere und wirksame Impfstoffe möglichst schnell allen Menschen zur Verfügung stehen - in Deutschland, Europa und weltweit. Es ist zu befürchten, dass gerade die Armutsregionen am meisten unter der Pandemie leiden werden. Deswegen unterstützen wir seit Jahren CEPI - die internationale Koalition zur Epidemiebekämpfung durch Impfstoffentwicklung - mit finanziellen Mitteln. Aktuell haben wir unseren Beitrag noch einmal um 140 Millionen Euro erhöht. Auf einer EU-Geberkonferenz am kommenden Montag wird die Bundeskanzlerin darauf hinwirken, dass sich noch mehr europäische Länder zu einem Engagement bekennen.

    Wie lange wird es dauern, bis Impfstoff für alle da ist?

    Karliczek: Das lässt sich schwer sagen. Die Entwicklung von Impfstoffen ist eine große Herausforderung. Vor einer Zulassung muss die Sicherheit und Wirksamkeit in groß angelegten Studien gezeigt werden. Solche Studien müssen sorgfältig geplant und die Probanden gut betreut werden, gerade wenn man die Studien größer anlegen will. Das ist aufwendig und teuer. Die andere bislang vielleicht unterschätzte Herausforderung ist, dann möglichst viele Impfdosen in möglichst kurzer Zeit zu produzieren. Wir müssen fast genauso viel Energie darauf verwenden, neben der eigentlichen Entwicklung auch die Impfstoffproduktion zu stärken und zu unterstützen.

    Und zwar wie?

    Karliczek: Wir sind hier noch in Gesprächen. Natürlich wird es darum gehen, schnell Produktionskapazitäten hochzufahren oder neue zu schaffen - bei den Impfstoffherstellern und bei weiteren Unternehmen mit dem nötigen Know-how. Das wird noch einmal ein riesengroßer Kraftakt. Wir wollen, soweit verantwortbar, alle Prozesse beschleunigen, damit frühzeitiger Menschen geimpft werden können. Wenn es wirklich sehr gut läuft, könnten Mitte 2021 bundesweit erste Impfungen angeboten werden.

    Kann es auch passieren, dass die Suche nach dem Impfstoff scheitert?

    Karliczek: Die Virologen sind zuversichtlich, dass es sich um ein stabiles Virus handelt, das zumindest kurzfristig nicht mutiert. Das erhöht die Erfolgsaussichten. Andererseits lernen wir jeden Tag etwas Neues über dieses Virus. Es wird also noch viele Überraschungen geben.