Düsseldorf. „Herbert, du musst jeden Tag in den Spiegel schauen können“, sagte Blüm einst zum heutigen NRW-Innenminister. Auch Laschet lernte von ihm.

Als Innenminister Herbert Reul (CDU) im Frühjahr 2019 den Grenzzaun zwischen Nordmazedonien und Griechenland entlang lief, dachte er plötzlich an Norbert Blüm. Reul war eigentlich hier, um NRW-Polizisten den Rücken zu stärken, die mit der EU-Grenzschutzagentur Frontex dafür sorgen, dass sich keine neuen Flüchtlingsströme über die Balkan-Route auf den Weg nach Deutschland machen können. Reul gilt als der harte Hund in der Regierung vom Ministerpräsident Armin Laschet. Er ist das Gesicht einer „Null-Toleranz-Linie“, die in der Bevölkerung Umfragen zufolge gut ankommt und der AfD in NRW das Wasser so deutlich abgräbt wie in wenigen anderen Bundesländern.

Doch hier in Idomeni ging Reul sein alter Lehrmeister Blüm durch den Kopf. Während der Flüchtlingskrise 2015 saßen an dieser Stelle bis zu 40.000 Menschen fest, die über die Balkan-Route nach Deutschland wollten. Schuhe, Kleidungsfetzen und rostige Konservendosen erinnerten an die humanitäre Katastrophe. Blüm, der da schon 80 war, hatte mittendrin sein Zelt aufgeschlagen. Er konnte die abendlichen Tagesschau-Bilder nicht mehr ertragen. Blüm campierte aus Solidarität im Dreck neben den Flüchtlingsfamilien. „Kulturschande Europas“ nannte er die Zustände in Idomeni.

Blüm war „das soziale Gewissen“ der Union

Blüm und Reul haben in den 90er Jahren eng zusammengearbeitet. Während Blüm als Arbeitsminister und „soziales Gewissen“ der Union in Bonn wenig Zeit und Interesse für die NRW-CDU hatte, deren Landeschef er war, hielt Reul als Generalsekretär in Düsseldorf für ihn die Stellung. Die störrische Prinzipientreue des früheren Chefs bewundert Reul bis heute. „Herbert, Du musst jeden Tag in den Spiegel schauen können“, habe der ihm eingeschärft. „und wenn Du Narben siehst, ist das nicht schlimm.“In Düsseldorf herrschte am Freitag große Betroffenheit, als die Nachricht vom Tode Norbert Blüms im Alter von 84 Jahren publik wurde. Ganz unerwartet traf sie Reul und auch Ministerpräsident Armin Laschet nicht. Mitte März hatte Blüm in einem Gastbeitrag für die „Zeit“ öffentlich gemacht, dass er nach einer Blutvergiftung schon monatelang an Armen und Beinen gelähmt war. Den Text hatte Blüm seiner Frau diktiert. Nach einer Sepsis sei er ins Koma gefallen und seitdem von den Schultern abwärts gelähmt.

In der ihm eigenen Sprache reflektierte er damals seine Lage: „Wie ein Dieb in der Nacht brach das Unheil in Gestalt einer heimtückischen Blutvergiftung in mein Leben ein“, hieß es in dem „Zeit“-Text. Seine Lage verglich er mit einer Marionette, der die Fäden gezogen wurden, sodass ihre Teile zusammenhangslos in der Luft baumeln. „Mir ist das Glück abhandengekommen, ungehemmt durch die Gegend zu streifen.“Reul hat einmal über Blüm gesagt: „Von dem Mann habe ich wirklich viel gelernt.“ Vor allem dessen sozialen Kompass bewunderten Weggefährten. Er war während der gesamten gesamten 16-jährigen Regierungszeit der christlich-liberalen Koalition unter Kanzler Helmut Kohl (CDU) Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung. Auch wenn sie sich später überwarfen, war die Ära Kohl ohne den Sozialpolitiker Blüm nicht denkbar. Witz und Wärme des „Herz-Jesu-Marxisten“ hätten gefehlt. Der Anhänger der katholischen Soziallehre verstand sich als politischer „Rummel-Boxer“, der jedoch fair kämpfte. Der weiche Dialekt half dem Arbeitersohn aus Rheinhessen dabei, gerne auch unterschätzt zu werden.

Blüms größte politische Leistung: die Einführung der Pflegeversicherung

Seine vielleicht größte politische Leistung war 1995 die Einführung der Pflegeversicherung gegen erhebliche Widerstände. Verbunden wird er aber eher mit einer viel zitierten Plakataktion aus dem Jahr 1986: „Denn eins ist sicher: Die Rente“. Es wurde ihm als zweifelhaftes Rentenversprechen ausgelegt. Mit Kohl überwarf er sich in der Parteispenden-Affäre, ging aber dennoch demonstrativ zu dessen Beerdigung 2017. Im Tod werden bei einem wie ihm keine Feindschaften fortgesetzt.

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Blüm und Nordrhein-Westfalen blieb eine sonderbare Verbindung. Er lebte zwar seit Jahrzehnten in der Bonner Südstadt und war von 1987 bis 1999 Landesvorsitzender der NRW-CDU. Doch die Führung des größten CDU-Landesverbandes durch einen Bundespolitiker im Nebenjob war wenig erfolgreich. Manchem in Bonn soll es ganz recht gewesen sein, dass die zahlenmäßig mächtige NRW-CDU jahrelang im Schatten der SPD-Dominanz nicht allzu geeint und schlagkräftig auftrat. Allen voran Kohl wurde dieses Kalkül immer nachgesagt.

Legendäre Auftritte beim Aachener Karnevalsorden „Wider den tierischen Ernst“

Blüm gewann dennoch viele Freunde in NRW. Seine Auftritte beim Aachener Karnevalsorden „Wider den tierischen Ernst“ blieben legendär. Und als beim Berliner Sommerfest der Landesregierung 2018 die Kölschrock-Band Brings auftrat, wies Ministerpräsident Laschet als Gastgeber stolz auf einen ungewöhnlichen CDU-Bezug hin: Am Schlagzeug sitzt Blüms Sohn Christian. Blüm und seine Frau Marita bekamen zudem zwei Töchter.„Mit Norbert Blüm verliert unser Land eine der bekanntesten und zugleich beliebtesten Persönlichkeiten der Nachkriegsgeschichte“, sagte Laschet am Freitag in einer ersten Reaktion. Norbert Blüm sei für seine Generation stets präsent gewesen.

„Mir persönlich hat er oft Rat gegeben, man konnte mit ihm lachen und ihm stundenlang zuhören“, sagte Laschet. Seine schwere Krankheit habe seine positive Haltung zum Leben nicht verändert. „Sein letzter Brief vor wenigen Tagen machte Mut in schwierigen Zeiten, so wie er immer andere motivierte, ermutigte, inspirierte und stark machte im Engagement für das Gemeinwohl“, so Laschet.