Berlin. Vorläufig zählen Behörden mehr als 22.000 Delikte durch Rechte. Auch antisemitische Straftaten steigen. Die Grünen fordern Handeln.
2019 war ein Jahr, in dem der rechte Terror in Deutschland eine neue Hochphase erlebte. In Halle erschoss ein Neonazi zwei Menschen bei seinem Versuch, eine Synagoge zu stürmen. Im Juni soll der Rechtsextremist Stephan E. den CDU-Politiker Walter Lübcke in seinem Garten mit einem Kopfschuss getötet haben.
Es sind zwei Fälle, die hervorstechen. Doch Meldungen über rechtsextrem motivierte Straftaten tauchen laufend auf – und noch häufiger als in den Jahren zuvor. So registrierte die Polizei für das Jahr 2019 einen Anstieg rechtsextrem motivierter Straftaten. Demnach sind für das vergangene Jahr insgesamt 22.337 Delikte vorläufig im Kriminalpolizeilichen Meldedienst für Politisch Motivierte Kriminalität (PMK) gemeldet, bei denen die Tat einen rechtsextremen Hintergrund hatte.
Darunter fielen vor allem Propagandadelikte und Fälle von Volksverhetzung, aber auch fast 1000 versuchte und vollzogene Gewalttaten wie Körperverletzung und in Einzelfällen auch Tötungsdelikte. Das geht aus einer Antwort des Bundesinnenministeriums auf eine Anfrage der Grünen-Innenexpertin Irene Mihalic hervor, die unserer Redaktion vorliegt.
Anstieg bei Straftaten insgesamt, Rückgang bei rechtsextremen Gewaltdelikten
2018 hatte die Polizei noch 20.431 rechtsextrem motivierte Straftaten gezählt, 2017 insgesamt 20.520. Bei den rechtsextremistisch motivierten Gewaltdelikten zeichnet sich dagegen ein Rückgang ab – von 1156 im Jahr 2018 auf 986 im vergangenen Jahr.
Die Bundesregierung hob in der Antwort auf die Anfrage der Grünen allerdings hervor, dass die für 2019 genannten Zahlen vorläufig seien und „noch Veränderungen unterliegen können“. Die endgültigen Fallzahlen zur politisch motivierten Kriminalität will das Bundesinnenministerium nach eigenen Angaben im Mai vorstellen.
Insgesamt stellte die Polizei laut vorläufigen Angaben der Bundesregierung im vergangenen Jahr 41.175 politisch motivierte Straftaten fest – ein Anstieg im Vergleich zu den Vorjahren. 2018 waren es demnach 36.062 Delikte, 2017 noch 39.505. Darunter sind jeweils auch die versuchten Straftaten aufgeführt.
Fast 10.000 Taten durch Linksextremisten – Rückgang der Gewalt
Laut der vorläufigen Statistik verübten in 9849 Fällen 2019 Linksextremisten politisch motivierte Straftaten. In mehr als 1000 Fällen verübten Linke auch Gewaltdelikte, darunter in mehr als 300 Fällen waren es „Widerstandshandlungen“ gegen Polizisten. Auch hier ein Rückgang im Vergleich zum Vorjahr.
Und doch: Mehrfach hatte es in den vergangenen Jahren immer wieder auch schwere Ausschreitungen mit erheblichen Angriffen auf Polizisten gegeben. Beim G20-Gipfel 2017 in Hamburg randalierten mehrere Hundert Linksextremisten mehrere Tage. Viele von ihnen plünderten Geschäfte, legten Brandsätze.
427 Delikte waren 2019 laut vorläufiger Statistik der Polizei „religiös begründet“, darunter vor allem Taten von Islamisten. In diesem Bereich ist die Zahl der „Gefährder“ deutlich zurückgegangen – von 762 im Januar 2019 auf 659 im Februar 2020. „Gefährder“ sind Personen, denen die Sicherheitsbehörden jederzeit eine schwere politische Gewalttat wie einen Anschlag zutrauen.
59 besonders gefährliche Neonazis – mehr als 600 gefährliche Islamisten
Die Zahl der von der Polizei als besonders gefährlich eingeschätzten Neonazis ist 2019 dagegen deutlich gestiegen. Ende Februar dieses Jahres zählte die Polizei demnach 59 rechtsextreme „Gefährder“. Im Januar 2019 waren es noch 33. Im Juni soll ein Rechtsextremist den CDU-Politiker Walter Lübcke in Hessen erschossen haben. Im Oktober verübte ein rechtsextremer Täter einen Anschlag auf eine Synagoge und einen Imbiss in Halle und tötete zwei Menschen.
Immer wieder hatte es in den vergangenen Jahren scharfe Kritik an den Sicherheitsbehörden gegeben – vor allem von der Opposition im Bundestag. Aus Sicht der Politiker vor allem von Grünen und Linken erscheint die Zahl der von der Polizei geführten rechtsextremen „Gefährder“ als zu gering – gerade im Vergleich zu den rund 700 Islamisten, die als besonders gefährlich gelten.
Anstieg der antisemitischen Straftaten – Täter mutmaßlich vor allem Rechtsextreme
In den Angaben der Bundesregierung zeichnet sich auch ein erneuter Anstieg der antisemitischen Straftaten in Deutschland ab. Demnach registrierte die Polizei vorläufig 2032 Delikte, die sich gegen Menschen jüdischen Glaubens oder ihre Einrichtungen richtete.
2018 waren es nach endgültigen Polizeistatistiken noch 1799 Fälle. Etwa 90 Prozent der Delikte gehen von Neonazis aus. Der Großteil sind Fälle von Volksverhetzung, aber die Polizei registrierte laut Bundesregierung 2019 auch 73 antisemitische Gewaltdelikte, 62 mutmaßlich von Rechtsextremen begangen.
In der Antwort der Bundesregierung sind auch die Fälle von Übergriffen und Delikten gegen Politiker und andere Träger von Ämtern und Mandaten gelistet. Insgesamt zählte die Polizei vorläufig 1674 Straftaten gegen diese Gruppe. 609 Delikte sind demnach rechten Tätern zuzuordnen, 310 Straftaten linken Tätern. Ein Großteil der Täter ist laut Polizeiangaben „nicht zuzuordnen“.
In vielen Fällen waren Amtsträger Opfer von Drohungen und Propagandadelikten, in 89 Fällen jedoch auch Ziel von Gewaltdelikten wie Erpressung oder Körperverletzung. In einem Fall listet die Bundesregierung auch die Tötung eines Amtsträgers, hierbei handelt es sich um den im Juni mutmaßlich durch einen Rechtsextremisten erschossenen CDU-Politiker Lübcke.
Grünen-Politikerin Mihalic fordert bessere Strategien gegen rechts auch in Schulen
Die Innenexperten der Grünen im Bundestag, Irene Mihalic, sprach von einer „enormen Bedrohung“ durch Straftaten von Neonazis. Ob Gewalt gegen Journalisten Politiker oder Menschen jüdischen Glaubens – in allen Bereichen überwiege „mit Abstand die Anzahl der Straf- und Gewalttaten aus dem rechten Spektrum“, hob Mihalic gegenüber unserer Redaktion hervor. „Das zeigt die neue Qualität der rechtsextremen Gefahr.“
Der Anstieg der Fallzahlen der politisch motivierten Kriminalität 2019 zeige, dass Deutschland „dringend eine umfassende Strategie gegen Rechtsextremismus“ brauche, sagte Mihalic. „Angefangen bei der nachhaltigen Stärkung zivilgesellschaftlicher Projekte, über Bildungsstrategien in der Schule bis hin zum dringend überfälligem Ausbau der Analysefähigkeiten der Sicherheitsbehörden im Bereich Rechtsextremismus.“
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