Wien. Verbraucherschützer bereiten eine Sammelklage gegen Tourismusanbieter in Tirol vor. Viele Deutsche haben sich mit dem Virus infiziert.
Bergzinnen, weiß leuchtender Pulverschnee, Wedeln und danach Abfeiern. Die Silvretta-Arena nahe dem österreichischen Ischgl stand bisher für einen Traumurlaub. Doch seit Anfang März haben viele Tirol-Urlauber aus dem Party-Mekka der Skifahrer ein grausiges Souvenir mitgenommen: eine Coronavirus-Infektion.
Aus Traum wird nun ein Albtraum. Auf die Pisten-Paradiese rollt eine Prozesslawine zu: Der Österreichische Verbraucherschutzverein (VSV) bereitet eine Sammelklage vor.
„Wenn Sie sich in der Zeit ab 5. März 2020 in den Ski-Gebieten Ischgl, Paznauntal, St. Anton am Arlberg, Sölden oder Zillertal aufgehalten haben und kurz darauf feststellen mussten, mit dem Corona-Virus infiziert worden zu sein, dann haben Sie – wenn sich Nachlässigkeit durch Berichte oder im Strafverfahren beweisen lassen – Schadenersatzansprüche gegen die Tiroler Behörden und auch gegen die Republik Österreich“, schreibt der VSV auf seiner Homepage.
Verbraucherschützer reichen Klage ein – krimineller Umgang mit Touristen?
Denn „das Offenhalten von Ski-Gebieten, obwohl man von einer Gefahr der massenhaften Ansteckung weiß oder wissen müsste“, sei ein Grund, Schadenersatzansprüche zu prüfen. Die Informationen der VSV sind auch auf Englisch verfügbar, da sich viele Touristen aus Skandinavien in Tirol aufhielten. Am Montag hatten sich in Österreich bereits 2500 Urlauber beim VSV gemeldet – vor allem Deutsche. Das Robert-Koch-Institut (RKI) in Berlin meldete 340 Erkrankungen von Rückreisenden aus Tirol.
Auch Hoteliers müssen sich auf Klagen von Gästen einstellen, denn sie übernehmen Schutz- und Sorgfaltspflichten. Falls sie Infektionsfälle bewusst verschwiegen oder geleugnet haben sollten, könnten sie zur Verantwortung gezogen werden. Sogar die Republik Österreich könnte durch das Amtshaftungsgesetz betroffen sein, obwohl ein mögliches schuldhaftes Verhalten bei den Behörden in Tirol lag.
Der VSV hat jedenfalls bereits eine Anzeige gegen den Tiroler Landeshauptmann Günther Platter, Landesräte, Bürgermeister und Seilbahngesellschaften eingebracht. Letztere sind für ihren Einfluss auf die Politik in Tirol bekannt.
Hinter dem fahrlässigen – möglicherweise sogar kriminellen – Umgang mit der Corona-Epidemie im Tiroler Oberland steckt vor allem eines: Gier und Brutalität gegenüber Urlaubern. Offensichtlich ging es darum, noch möglichst viel Geld aus den Touristen herauszuholen, bevor sie wieder abreisten, auch wenn dies ihre Gesundheit gefährden würde.
Coronavirus versus Geld: Österreichs fahrlässiges Spiel mit der Zeit
Das Behördenversagen beruht einerseits darauf, dass die Touristen nicht früh genug informiert und in Sicherheit gebracht wurden. Zweitens wurde die Ausreise der Feriengäste so schlecht organisiert, dass viele Infizierte wieder zur Gefahr für andere wurden.
Fest steht, dass Ischgl bereits am 5. März vom isländischen Chef-Epidemiologen wegen 14 zurückgekehrter infizierter Urlauber als Risiko-Gebiet bezeichnet wurde. Am 7. März wurde in Ischgl selbst erstmals ein Coronavirus-Fall bestätigt. Doch der Tiroler Landessanitätsdirektor Franz Katzgraber meinte damals noch, dass es aus „medizinischer Sicht wenig wahrscheinlich ist, dass es in Tirol zu einer Ansteckung gekommen ist“.
Auch die norwegische Gesundheitsbehörde FHI informierte das Gesundheitsministerium in Wien mittels des Alarmmechanismus der europäischen Gesundheitsbehörde ECDC über Tirol-Urlauber, die sich infiziert hatten. Am 8. März fügte das FHI Tirol als Gebiet mit weit verbreiteter Covid-Infektion hinzu.
Am 9. März wurde die Après-Ski-Bar „Kitzloch“, wo sich offensichtlich viele angesteckt hatten, behördlich gesperrt. Doch erst am 13. März wurden Ischgl und andere Teile Tirols durch die Erklärung von Bundeskanzler Sebastian Kurz unter Quarantäne gestellt.
Auf Flüge wartende Urlauber buchten sich in Hotels ein
An diesem Tag passierten weitere gravierende Fehler. Denn die Urlauber in St. Anton und in Ischgl sorgten sich, dass sie nun mindestens zwei Wochen festsitzen würden. Manche gerieten in Panik, weil die Quarantäne so plötzlich kam. Hunderte versuchten, mit Bussen oder Taxis das Quarantäne-Gebiet zu verlassen. In dem Gedränge wurde der Sicherheitsabstand nicht eingehalten.
Die Urlauber mussten zwar einen Passierschein unterschreiben und zusichern, dass sie ohne weiteren Zwischenstopp zügig nach Hause reisen würden. Das war für viele aber gar nicht möglich, denn sie hatten ihre Rückflüge erst für Tage danach gebucht. Einige Touristen suchten sich deshalb selbst Übernachtungsmöglichkeiten und buchten sich in anderen Hotels – etwa in Innsbruck – ein, um auf ihren Weiterflug zu warten. Das Virus wurde noch weiter verbreitet.
Nun wurden auch Mobilfunkdaten ausgewertet, die zeigen, dass Gäste danach von Tirol aus nach Berlin, Hamburg, Köln, Frankfurt und München reisten, aber auch nach London, Birmingham, Manchester, Oslo, Helsinki und Örebro. Es ist anzunehmen, dass es dabei und danach zu weiteren Sekundärinfektionen kam.
Verantwortungsloser Auftritt des Tiroler Gesundheitslandesrats
Auch die Staatsanwaltschaft Innsbruck hat mittlerweile Ermittlungen wegen des Verdachts der fahrlässigen Gefährdung von Menschen durch übertragbare Krankheiten eingeleitet. Konkret geht es darum, dass in einem Gastronomiebetrieb in Ischgl offenbar schon Ende Februar ein positiver Fall bekannt gewesen sein soll. Das Lokal soll es jedoch unterlassen haben, den Fall bei der Gesundheitsbehörde zu melden, wozu der Betrieb allerdings verpflichtet ist.
Von strafrechtlicher Relevanz ist der Fall dann, wenn durch das Nicht-Melden die Ansteckungsgefahr herbeigeführt wurde. Es gilt aber zunächst die Unschuldsvermutung.
Der dritte Fehler, der nach der Quarantäne begangen wurde, macht die Tiroler Behörden in ganz Österreich zur Lachnummer. Kürzlich wurde der Tiroler Gesundheitslandesrat Bernhard Tilg im ORF von Armin Wolf interviewt. Tilg machte daraus ein Lehrbeispiel für billige Ausreden, Verharmlosung und Beschönigung.
Er betonte immer wieder, dass „die Behörden in Tirol richtig agiert“ hätten, obwohl zu dem Zeitpunkt bereits jeder wusste, dass eine Schließung des Skigebiets viel früher hätte eingeleitet werden sollen. Der Landesrat räumte zudem ein, dass man bereits ab dem 6. März in Ischgl von den Infektionen gewusst habe. Von Einsicht und Verantwortung keine Spur.
Das fahrlässige Verhalten der Tiroler Behörden wird Österreich noch lange beschäftigen. Aber auch Wien kann man nicht ganz aus der Verantwortung lassen, denn die Ministerien haben das Versagen in der Provinz nicht gestoppt oder korrigiert.
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