Historische Beschlüsse – So lief der Tag im Bundestag
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Berlin. Abgeordnete auf Abstand, desinfizierte Rednerpulte, historische Beschlüsse: Rückblick auf einen außergewöhnlichen Tag im Bundestag.
Olaf Scholz ist sehr früh da. Um 8.35 Uhr setzt er sich auf seinen Stuhl auf der Regierungsbank und studiert sein Redemanuskript. Sein linker Platz ist wie am Mittwoch im Kabinett leer. Die Kanzlerin schmort zu Hause in Corona-Quarantäne. Ihr zweiter Test auf das Virus ist ebenfalls negativ. So bekommt der Vizekanzler die Chance, die großen Linien der Regierung zur Eindämmung der Krise zu ziehen.
Zuvor inspiziert Alexander Gauland das Rednerpult. Misstrauisch beäugt der AfD-Fraktionschef das Pult, als ob er versuchen würde, fiese Coronaviren mit bloßem Auge zu erkennen. Mit 79 Jahren zählt Gauland zur Hochrisikogruppe.
Aber auch Jüngere wappnen sich auf ihre Art. Katja Kipping, die Parteichefin der Linken, hebelt das Vermummungsverbot aus. Sie hat sich einen grauen Wollschal um Hals und Mund gewickelt. Virologen hatten wegen der Knappheit ja dazu geraten, einen Mundschutz zu basteln.
Bundestag im Corona-Modus: Desinfektionsmitteln an allen wichtigen Eingängen
Wolfgang Schäuble hat das nicht nötig. Er hustet zwar, ist aber sonst wie immer. Der Bundestagspräsident hat viel erlebt in 48 Jahren, in denen er als dienstältester Abgeordneter dem Hohen Haus angehört. Dort ist diesmal alles anders. Wie im Rest der Republik ist eine konzentrierte Anspannung zu spüren.
Aber auch Nervosität und Wachsamkeit. Der Bundestag im Corona-Ausnahmezustand. Alle wichtigen Eingänge im Reichstagsgebäude sind mit Desinfektionsspendern ausgestattet. Die Abgeordneten selbst sitzen versetzt und füllen so den ganzen Saal unter der gläsernen Kuppel aus.
Das wirkt wie eine Riesengruppe an Prüflingen, die nicht voneinander abschreiben sollen. Sogar auf zwei Besuchertribünen sitzen vereinzelt Abgeordnete und schauen ihren Kollegen zu. Für jeden Redner bringen die mit Einweghandschuhen und Feuchttüchern ausstaffierten Saaldiener nicht wie sonst ein Glas Wasser ans Pult. Da steht nun ein Plastik-Wegwerfbecher.
Alle Abgeordneten erheben sich und applaudieren
Die namentliche Abstimmung am Nachmittag über das Aussetzen der Schuldenbremse findet an sechs, in einem langen Flur aufgestellten Urnen in der Westlobby statt, um die übliche Rudelbildung an nur einer einzigen Urne zu verhindern. 469 Abgeordnete sagen Ja zu einem Krisen-Nachtragshaushalt.
Es gibt nur drei Gegenstimmen. 55 Abgeordnete enthalten sich. Das sind 527 abgegebene Stimmen, bei einem Parlament mit 709 Abgeordneten. Einige sind positiv auf Covid-19 getestet worden oder bleiben aus Vorsicht zu Hause.
In seiner Eröffnungsansprache beschwört Schäuble die Anwesenden, als gewählte Repräsentanten des Volkes ihre Aufgaben unverändert wahrzunehmen. In der Corona-Krise schlage zwar die Stunde der Exekutive, also der Bundesregierung: „Aber die parlamentarische Demokratie wird nicht außer Kraft gesetzt.“
Die Handlungsfähigkeit des Bundestages müsse „unter allen Umständen“ gewahrt bleiben. Schäuble sorgt für den eindringlichsten Moment dieses denkwürdigen Corona-Tages, an dem das Regierungspaket im irren Tempo mit erster bis dritter Lesung an einem Tag beschlossen wird. Schäuble dankt Ärzten, Pflegekräften, Polizisten und Kassierinnen, die täglich an die Grenzen ihrer Belastbarkeit gingen. Da erheben sich alle Abgeordneten und applaudieren.
Für die Corona-Bedrohung aber „gibt’s kein Drehbuch“
Dann ist Frühaufsteher Scholz dran. Er übermittelt „herzliche Grüße der Bundeskanzlerin, die gerne dabei gewesen wäre“. Deutschland und die Welt erlebten eine schicksalhafte Herausforderung. „Vor uns liegen harte Wochen. Wir können sie bewältigen, wenn wir solidarisch sind“, sagt Scholz. Aus der Bankenkrise habe die Politik einiges gelernt.
Für die Corona-Bedrohung aber „gibt’s kein Drehbuch“. Die Bundesregierung will mit sehr viel Geld gegen den dramatischen Einbruch der Wirtschaft und den drohenden Verlust vieler Jobs ankämpfen. Scholz wird dafür 156 Milliarden Euro an Schulden aufnehmen. „Das ist eine gigantische Summe, fast die Hälfte unseres normalen Haushalts.“
AfD-Mann Gauland sagt, seine Fraktion trage die Maßnahmen begrenzt mit. Nach der Krise werde die AfD über die „Fehler“ der Bundesregierung reden. Das Land sei schlecht gerüstet für den Ausnahmezustand. Die Grenzkontrollen seien viel zu spät gekommen, ebenso wie die Einlagerung von Schutzausrüstung. Gauland warnt, der Shutdown sei nicht lange durchzuhalten.
„Was ist der Plan für in drei Monaten?“ Die Antwort rufen Gauland zwei SPD-Frauen von der Tribüne zu: „Meine Güte!“ Unruhig wird es, während CDU-Gesundheitsminister Jens Spahn redet. Vor den Pulten der AfD kommt es zur Grüppchenbildung. Die parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen, Britta Haßelmann, regt das furchtbar auf: „Wir haben klare Regeln vereinbart“, brüllt sie.
Unionsfraktionschef Ralph Brinkhaus will Mut machen: „Die Menschen in Deutschland wachsen derzeit über sich hinaus.“ Doch der Westfale macht auch klar, dass diese Krise nicht kalkulierbar ist: „Wir wissen nicht, ob wir jetzt alles richtig entscheiden.“ CSU-Mann Alexander Dobrindt rechnet vor, wie gigantisch die Rettungspakete sind – alles zusammen belaufe sich auf etwa 1400 Milliarden Euro.
„Wir können uns das leisten, weil wir in der Vergangenheit solide gewirtschaftet, solide gehaushaltet haben“, sagt er mit Stolz auch darauf, dass die Union in den vergangenen Jahren immer an der schwarzen Null im Haushalt festgehalten hat. Christian Lindner tritt ebenfalls staatsmännisch auf. Die jetzigen Beschränkungen seien verhältnismäßig, sagt der FDP-Chef.
Er denke nicht an statistische Größen bei den Corona-Fallzahlen, „sondern an meine Omas“. Man müsse jedoch aufpassen, dass der wirtschaftliche Schaden nicht irreparabel werde. Wenn die Akzeptanz der Menschen nachlasse, sei der soziale Frieden in Gefahr. Deshalb müssten Regierung und Behörden alles dafür tun, „damit die Menschen schnellstmöglich in die Freiheit zurückkehren können“.
Coronavirus-Pandemie – Bilder der Krise
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Mützenich knöpft sich Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán vor
Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt, die aus Thüringen kommt, erzählt, als Ostdeutsche schlucke sie schon, wenn Menschen auf der Straße wieder nach dem Ausweis gefragt würden. Beschämt habe sie, dass als Erstes in Europa Grenzen geschlossen worden seien. Der SPD-Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich räumt ein: „Wir werden Fehler machen.“ Er sei aber froh, in einem Land zu leben, wo nicht gleich nach Schuldigen gesucht werde.
Mützenich knöpft sich noch Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán vor, der bei Corona von einer „italienischer Krankheit“ spricht: „Das ist peinlich.“ Der Kölner Mützenich prägt noch ein Bild, das vielen im Bundestag im Kopf bleiben dürfte. Im Mittelalter habe die Pest 25 Jahre gebraucht, um nach Europa zu kommen. Beim Coronavirus seien es in der globalen Welt 25 Tage gewesen. Dass der Ausnahmezustand in 25 Tagen wieder vorbei ist, daran glauben die wenigsten.
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