Stockholm/Berlin. Ganz Europa steht wegen Corona still - außer Schweden. Restaurants und Skigebiete sind offen, die Todeszahlen steigen. Kann das gut gehen?

Schwedens König wirkt ratlos. Der 73 Jahre alte Carl XVI. Gustaf hat sich zusammen mit seiner Frau, der aus Deutschland stammenden Königin Silvia, auf Schloss Stenhammar zurückgezogen. So haben die Monarchen 120 Kilometer Abstand zwischen sich und die Corona-Hochburg Stockholm gebracht. Dabei läuft der Alltag in der schwedischen Hauptstadt fast so wie vor Ausbruch der weltweiten Pandemie.

Während der Rest Europas und viele Teile der Welt auf strikte Kontaktsperren setzen, geht Schweden einen Sonderweg. Restaurants und Cafés sind mit milden Einschränkungen offen, ebenso Kitas und Grundschulen. Im Norden des Landes tummeln sich Tausende Skifahrer auf den weltberühmten Pisten des Ski-WM-Ortes Åre. Wie kann das sein? Sind die Schweden immun gegen Corona? Sind die Seuchenbekämpfer in Stockholm klüger als deutsche Experten?

Beim König regiert das Prinzip Hoffnung

Selbst beim Staatsoberhaupt scheint das Prinzip Hoffnung zu regieren. In einem großen Video-Interview mit der Tageszeitung „Dagens Nyheter“ erklärte der König jetzt auf die Frage, was er vom Sonderweg seines Landes bei der Corona-Bekämpfung halte: „Wir werden sehen, was dabei rauskommt.“ Er hoffe, dass die Behörden und Experten mit ihrer Erfahrung die richtigen Entscheidungen treffen. Schweden sei stark: „Wir sind ein enorm gut organisiertes Land.“

Das mag richtig sein. Das kleine, aber wirtschaftsstarke und digitalisierte Königreich ist stolz auf seine Unabhängigkeit. Äußere Bedrohungen sind den Schweden fremd. Dank ihrer Neutralität blieben sie vom Zweiten Weltkrieg verschont. Der letzte Krieg auf schwedischem Boden fand 1809 gegen die Russen statt. Carl Gustafs Vorfahren mussten danach Finnland abtreten. Nun haben es die Schweden wie der Rest der Welt mit einem unsichtbaren, heimtückischen Gegner zutun.

So wirkt der König, der die Größe und den Zusammenhalt der Nation beschwört, besorgt, weil Corona auch über sein Neun-Millionen-Volk wie eine Welle hereinbricht. „Es herrscht eine neue Geschwindigkeit. Niemand hat geglaubt, dass so etwas in Schweden passieren kann.“

Regierung in Stockholm reagierte eher lasch

Die Regierung von Schwedens Ministerpräsident Stefan Löfven hat bisher eher zurückhaltend auf die Corona-Krise reagiert. Die Grenzen für EU-Bürger sind offen, ebenso die Schulen bis zur 9. Klasse und die Kitas. Uni sind dagegen geschlossen, Abschlussprüfungen wurden abgesagt. In Stockholm sind Busse und U-Bahnen voll wie immer. Jeder, der keine Symptome zeige, könne wie immer zur Arbeit gehen, lautet die Empfehlung der Gesundheitsämter. Inzwischen hat die Regierung die Zügel ein bisschen straffer angezogen.

Gesundheits- und Sozialministerin Lena Hallengren verkündete Einschränkungen für den Betrieb in Bars, Restaurants und Cafés. Dort darf nur noch am Tisch oder außer Haus serviert werden. Die Regierung hört dabei auf den Rat eines Mannes. Anders Tegnell, der Chef-Epidemiologe, ein schwedischer Christian Drosten. Trocken appelliert der Brillenträger bei seinem Pressekonferenzen in Stockholm an die Vernunft der Bevölkerung und rät Senioren über 70, enge soziale Kontakte zu vermeiden.

Tegnell und sein Team setzt darauf, dass ein großer Teil der Bevölkerung nach und nach das Virus übersteht und so eine Herdenimmunität aufbaut, flankiert von noch zurückhaltenden Social-Distancing-Maßnahmen. Auch Großbritannien und die Niederlande schlugen zunächst diesen Weg ein, haben nach massiven Warnungen mittlerweile aber schärfere Maßnahmen zur Eindämmung des Virus getroffen.

Das jüngste Corona-Opfer in Schweden war erst 26

Hält das in den vergangenen Jahren auf Kosteneffizienz getrimmte Gesundheitssystem den steigenden Zahlen an Corona-infizierten Patienten stand? Schweden hat mittlerweile 3700 Fälle, 110 Patienten sind gestorben - darunter als bisher jüngstes Opfer im Land eine 26 Jahre alte Frau, die das Corona-Virus hatte und nach Medienberichten am Freitag in einer Stockholmer Klinik starb. Allein im Großraum Stockholm gibt es mehr als bestätigte 1.600 Fälle. Innerhalb von zehn Tagen wurden die Intensivplätze nun verdoppelt, außerdem wird in Stockholm ein Feldlazarett mit 600 Betten errichtet. Der für die Gesundheitsversorgung der Hauptstadt zuständige Direktor Björn Eriksson sagte „Dagens Nyheter“: „Der Sturm ist da, und er gewinnt an Stärke.“

Deutsche und schwedische Experten sind entsetzt und werfen der Regierung in Stockholm vor, die Gefahr massiv zu unterschätzen. Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach, der das schwedische Gesundheitssystem seit Jahren analysiert, ist überrascht, wie relativ entspannt die Behörden dort agierten. „Ich halte das für unvertretbar und sehr riskant“, sagte der Bundestagsabgeordnete und Medizinprofessor unserer Redaktion.

Deutsche Experten warnen: „Schweden ist ein schlechtes Beispiel“

Anerkannte Computer-Rechenmodelle sagten für die Herdenimmunität-Strategie enorm hohe Todeszahlen voraus, warnte Lauterbach. Die schwedischen Kliniken seien für einen Ansturm von Corona-Patienten nicht gerüstet. Schweden habe wenige Topkliniken für schwere Fälle, die Krankenhäuser in der Fläche hätten aber zu wenig Intensiv- und Beatmungskapazitäten.

Lauterbach sagte, die europäische Medizinerszene schaue mit großem Unverständnis auf die Reaktion der Schweden: „Das ist ein schlechtes Beispiel.“ Deutschland sei auf einem besseren Weg. Eine befristete Vollbremsung mit dem drastischen Herunterfahren sozialer Kontakte sei vernünftig, um Zeit zu gewinnen und eine Überlastung der Krankenhäuser zu vermeiden. Er hoffe, dass die Stockholmer Regierung bald die Notbremse ziehe wie der Rest Europas.

Ministerpräsident Löfven appellierte am Freitag noch einmal an die schwedische Besonnenheit. „Wir alle müssen als Individuen unsere Verantwortung übernehmen“, sagte er - und fügte hinzu: „Wir können nicht alles gesetzlich regeln und verbieten.“ Die Regierung begrenzte nun aber Versammlungen auf maximal 50 Teilnehmer - bislang lag die Grenze bei 500 Teilnehmern. Das hatte bis vor wenigen Tagen in Skigebieten noch dazu geführt, dass dort bis zu 499 Menschen pro Veranstaltung kräftig Après-Ski feierten. Die Ski-Pisten aber sind unverändert offen.

Trotz Coronavirus: Hotels und Gondeln sind voll - wird Åre ein zweites Ischgl?

Traumhafte Pistenabenteuer im schwedischen Pulverschnee zu Ostern, während der Rest Europas in Corona-Quarantäne in den eigenen vier Wänden schmort? Ein schlechter Scherz? Von wegen. Die Ski-Hochburg Åre in Nordschweden lockt Urlauber mit Last-Minute-Angeboten. Zu Ostern ist Åre mit seinen rund 30.000 Betten so gut wie ausgebucht. Dann wollen die Stockholmer den kleinen Ort wie jedes Frühjahr stürmen. Die Sache hat nur einen Haken. Auch in der 2800-Seelen-Gemeinde Åre, 600 Kilometer nördlich von Stockholm gelegen, ist Corona längst angekommen.

Während in den Alpen oder im Nachbarland Norwegen längst alle Lifte dicht sind, läuft der Skibetrieb auf dem 1400 Meter hohen Berg Åreskutan munter weiter. Die Kommune erklärt, sie habe keine rechtliche Handhabe für eine Schließung und verweist an die staatlichen Gesundheitsbehörden.

So quetschen sich Gäste ungehindert in Gondeln, können so Corona weiter verbreiten. Hat Schweden nichts aus dem Corona-Ausbruch im österreichischen Ischgl gelernt? Der Skiort in den Alpen gilt als einer der zentralen Seuchenherde in Europa. Von dort aus kehrten Tausende Urlauber nach Deutschland und eben Skandinavien zurück, viele davon nach Einschätzung von Fachleuten längst infiziert.

Tipps vom König: Bücher lesen, Aufräumen und Haus streichen

Tine Klintevall, eine Tierärztin und Virologin im Ruhestand, forderte in einem Beitrag für die Tageszeitung „Dagens Nyheter“ alle Schweden auf, nicht nach Åre zu kommen. Sie wohnt in dem kleinen Nest Hallen in der Kommune Åre. An Osterwochenenden würden zwischen 2.000 bis 3.000 Autos den Ort passieren - pro Tag.

Am Montag tummelten sich in Åre nichtsdestotrotz wieder Skifahrer. Alle 39 Lifte waren in Betrieb, 87 der 89 Pisten offen, Schneehöhe 1,08 Meter. Der Appell von Virologin Klintevall an ihre Landsleute und ausländische Touristen: „Bleibt Ostern zu Hause! Es kommen noch andere Osterferien!“ Andere namhafte Virologen und Experten widersprechen der Strategie der Regierung offen und fordern härtere Maßnahmen zur Corona-Eindämmung.

Und was rät Schwedens König? Carl Gustaf empfiehlt seinen Landsleuten, auf die Fachleute zu hören und möglichst viel Zeit zu Hause zu verbringen. Man könne doch ein Buch lesen, Aufräumen oder das Haus streichen. Er selbst lese gerade viel, skype mit seinen Enkelkindern und wolle ein altes Sofa restaurieren.