London. Coronavirus in Großbritannien: Es fehlt an Masken, Schutzbekleidung und Krankenhausbetten. Schuld trägt daran vor allem die Politik.

Niemand kann sagen, es hätte keine Warnungen gegeben. Seit Wochen melden sich britische Ärzte und Krankenpfleger mit immer dringenderen Appellen an die Öffentlichkeit, ihre sozialen Kontakte einzuschränken. Am Wochenende machte auf Twitter das Selfie einer Anästhesistin die Runde, auf der sie ihr völlig übermüdetes Gesicht zeigt. So sehe jemand aus, der sich neun Stunden lang in Schutzbekleidung um Corona-Patienten gekümmert habe, schrieb sie dazu.

„Ich fühle mich kaputt – und wir befinden uns erst am Anfang. Ich flehe die Leute an, bitte praktiziert ‚social distancing‘ und isoliert euch“, flehte die Anästhesistin.

Noch ist die Lage in Großbritannien nicht so dramatisch wie in anderen europäischen Ländern. Nach offiziellen Statistiken haben sich bisher rund 5700 Menschen nachweislich mit dem Virus angesteckt, 281 sind gestorben. Aber die Kurve geht steil nach oben. Dem Gesundheitspersonal macht derzeit vor allem der Mangel an Schutzausrüstung zu schaffen. Masken, Kittel, Gesichtsschutzschirme – an allem fehlt es.

Corona in Großbritannien: Abfallsäcke und Plastikschürzen dienen als „Schutzkleidung“

Am Montagabend verhängte Großbritannien schließlich eine mindestens dreiwöchige Ausgangssperre. Die Maßnahme gelte ab Montagabend, erklärte Premierminister Boris Johnson. Er wies seine Landsleute an, das Haus nur noch so wenig wie möglich zu verlassen. „Von heute Abend an muss ich dem britischen Volk eine einfache Anordnung geben: Sie müssen zuhause bleiben“, sagte Johnson.

Alle Läden, mit Ausnahme von Lebensmittelgeschäften und Apotheken, werden mit sofortiger Wirkung geschlossen. Sportliche Aktivitäten sind nur noch einmal am Tag und nur gemeinsam mit Mitgliedern desselben Haushalts erlaubt. Ansonsten dürfe das Haus nur noch für den Einkauf wesentlicher Dinge wie Lebensmittel und Medikamente und für den Weg zur Arbeit verlassen werden, sagte Johnson. Versammlungen von mehr als zwei Personen seien nicht mehr erlaubt und würden von der Polizei aufgelöst.

Rinesh Parmar, der Vorsitzende des Berufsverbands Doctors’ Association, erklärte, dass sich die Mitarbeiter des staatlichen Gesundheitsdienstes (National Health Service, kurz: NHS) wie „Kanonenfutter“ vorkämen. In der Presse liest man von Fällen, in denen Krankenpfleger Abfallsäcke über ihre Schuhe stülpen und ihre Köpfe in Plastikschürzen hüllen, weil man ihnen keine professionelle Schutzkleidung zur Verfügung stellt.

Dass der staatliche Gesundheitsdienst auf die Corona-Krise völlig unvorbereitet ist, sieht jeder, der in den vergangenen Jahren die Entwicklung verfolgt hat. Das NHS-Budget wurde laufend gestutzt, Kritiker sagen: kaputtgespart. Anders als in vielen Ländern finanziert sich der NHS, der eine kostenlose Versorgung beim Hausarzt und im Krankenhaus vorsieht, nicht über Sozialbeiträge, sondern aus Steuermitteln.

Seit dem Privatisierungskurs der „Eisernen Lady“ Margaret Thatcher in den 80er-Jahren wurde an das öffentliche Gesundheitswesen die finanzielle Axt angelegt. Gab es 1987 noch 300.000 Krankenhausbetten, ist die Zahl heute auf weniger als 150.000 geschrumpft, Zehntausende Fachkräfte fehlen. So kommt es jeden Winter zu Engpässen in den Notaufnahmen. Eine normale Erkältungswelle wird für viele zum Horror.

Die Kritik an der Regierung wird lauter

Doch trotz der Erfahrungen mit dem Coronavirus in anderen Ländern kam die britische Regierung kaum in die Gänge. Zunächst versuchte sie sogar, die Massenimmunisierung der Bevölkerung – also im Prinzip die Inkaufnahme einer großflächigen Ansteckung mit dem Virus – zur Strategie zu erheben. Aber der Aufschrei unter Experten war so groß, dass Premierminister Boris Johnson eine Kehrtwende vollzog. Die Eindämmung des Coronavirus gilt seither als oberstes Ziel.

Großbritanniens Premierminister Boris Johnson scheute bisher drastische Maßnahmen im Kampf gegen die Coronavirus-Pandemie.
Großbritanniens Premierminister Boris Johnson scheute bisher drastische Maßnahmen im Kampf gegen die Coronavirus-Pandemie. © dpa | Ian VoglerDaily Mirror

Dennoch konnte sich die Regierung zunächst nicht dazu durchringen, drastische Maßnahmen zu ergreifen. Das „social distancing“ – also die Einhaltung eines Sicherheitsabstands von rund 1,50 Meter – wurde erst Anfang vergangener Woche als Empfehlung ausgegeben. Wer von zu Hause aus arbeiten kann, solle das tun, hieß es etwa. Als klar wurde, dass die Bevölkerung diesen Anweisungen nur sporadisch folgte, ordnete Johnson einige Tage später die Schließung von Restaurants, Bars und Schulen an.

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Die Kritik an der Regierung hat mittlerweile auch auf die normalerweise regierungsfreundliche Presse übergegriffen. Die „Times“ schrieb am Montag eine scharf formulierte Warnung: Wenn der NHS in die Knie gehe, „dann wird die Öffentlichkeit fragen, weshalb Schulen, Pubs und Restaurants nicht früher geschlossen wurden“. Wenn striktere Einschränkungen kämen, „dann fragt man sich, weshalb sie nicht früher eingeführt wurden, so wie im Rest der Welt. Das Land muss wissen, dass Johnson eine kohärente Strategie hat“. Im Fußball würde man sagen: Letzte Ermahnung vor der roten Karte.

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