Berlin. Seit 100 Tagen stehen Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans an der SPD-Spitze – welche Versprechen hat das Führungsduo gehalten?
Normalerweise sind es die Medien, die neue Parteivorsitzende oder Minister nach den ersten 100 Tagen im Amt beurteilen. Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans wollen den Spieß umdrehen. Kurzfristig luden die beiden für Donnerstag zu einer Pressekonferenz, um sich selbst Haltungsnoten zu geben. Diese fand erstaunlicherweise nicht in der SPD-Parteizentrale, sondern im Marie-Juchacz-Saal der Bundestagsfraktion im Reichstagsgebäude statt.
Dieser Paarlauf war auch deshalb bemerkenswert, weil zeitgleich die Kanzlerin und die Ministerpräsidenten nebenan im Kanzleramt den Kampf gegen die Auswirkungen des Coronavirus koordinierten. Und schließlich verschickte die SPD noch einen eigens produzierten 100-Tage-Podcast, in dem Mitglieder loben, wie toll das so laufe mit der Doppelspitze.
Esken (58) und Walter-Borjans (67) hatten im Herbst mit Hilfe der Jusos überraschend den Mitgliederentscheid gegen die Kandidaten des SPD-Establishments, Finanzminister Olaf Scholz und Klara Geywitz, gewonnen. Im Amt sind sie seit dem 6. Dezember. „Mein Eindruck ist, dass die 100 Tage Schonfrist bei uns schon nach 100 Sekunden vorbei waren“, sagte Esken.
Auf Ebene der SPD-Entscheider schlägt ihnen unverändert viel Skepsis entgegen. Dabei seien die Gespräche unter vier Augen hervorragend, wie Walter-Borjans erzählte. Gut lief es für sie in der Thüringer Regierungskrise. Sehr schnell zwang die SPD in der Koalition die Union zu einem klaren Abgrenzungsbeschluss gegenüber der AfD auf allen politischen Ebenen.
Anfang des Jahres hatten „Eskabo“, wie das Duo intern genannt wird, in Interviews ein Feuerwerk an Forderungen und Versprechen abgebrannt. Was ist aus Eskens Ansage geworden, die GroKo sei Mist und sollte schleunigst beendet werden? Eine Übersicht:
Mindestlohn
Eine Anhebung auf zwölf Euro, dafür wollten die neuen Vorsitzenden in der Koalition sorgen. Im Januar hörte sich das bei Esken plötzlich so an: „Ob eine Erhöhung des Mindestlohns auf zwölf Euro mit CDU und CSU in einem Schritt möglich ist, werden wir sehen. Klar ist aber, dass es eine substanzielle Erhöhung sein muss.“
Seit Jahresbeginn beträgt der gesetzliche Mindestlohn 9,35 Euro pro Stunde. Rein rechnerisch würde er 2021 auf 9,85 Euro steigen und erst 2029 die Zwölf-Euro-Marke erreichen. Im Mai tagt die Mindestlohn-Kommission. Esken bedauerte eine „Gesprächsblockade“ von CDU und CSU. Wagt die SPD-Spitze einen Großkonflikt?
Investitionen
Im Wahlkampf um die Parteispitze stellten Esken und Walter-Borjans ein 450-Milliarden-Investitionsprogramm bis 2030 ins Schaufenster. Beim Koalitionsgipfel am Sonntag lieferten sie tatsächlich einen ersten Teil davon. Der Bund wird bis 2024 dank großer Überschüsse mehr als zwölf Milliarden Euro zusätzlich investieren. Das hätte Scholz aber auch ohne Eskabo hinbekommen.
Als persönlichen Erfolg kann der Ex-NRW-Finanzminister Walter-Borjans (Spitzname Nowabo) verbuchen, dass er eine „Dynamisierung“ – also weitere Steigerungen – der Investitionen des Bundes bis 2030 durchsetzte. Die schwarze Null im Haushalt, die Borjans seit Langem bekämpft, könnte wegen der Coronavirus-Pandemie fallen.
Umfragen
Vor dem Dezember-Parteitag kündigte die Doppelspitze öffentlich an, dass sie die SPD-Umfragewerte bis Ende 2020 auf 30 Prozent, „vielleicht mehr“, verdoppeln wolle. Kurz nach Silvester ruderten sie zurück. „Niemand von uns hat gesagt, dass wir 30 Prozent schon bei der nächsten Bundestagswahl holen“, sagte Nowabo. Aktuell sind es zwischen 15 und 17 Prozent. Ein leichter Aufwärtstrend ist zu erkennen. Das dürfte nicht zuletzt am Wahlsieg der Hamburger SPD liegen, die sich Eskabo-Auftritte verbeten hatte.
Kanzlerkandidat
Im November schreckte Nowabo die SPD mit der Ansage auf, bei der Wahl 2021 müsse die Partei mangels Siegchancen keinen Kanzlerkandidaten aufstellen. Viele Genossen empfanden das als Selbstverzwergung. Denn der Ausgang der Bundestagswahl dürfte so offen sein wie nie. Die CDU taumelt, nach dem Ende der Ära Merkel tritt niemand mit einem Amtsbonus an.
Altkanzler Gerhard Schröder zählte kürzlich fünf SPD-Anwärter in der K-Frage auf. Die Namen der beiden Vorsitzenden suchte man vergebens. Die von vielen gefeierte Familienministerin Franziska Giffey ist keine echte Option, da sie 2021 Regierende Bürgermeisterin in Berlin werden will. Bleiben bei näherer, ernsthafter Betrachtung derzeit nur zwei Männer übrig: Hubertus Heil und Olaf Scholz.
• Die Bildergalerie zeigt die SPD-Vorsitzenden seit 1946:
Die Vorsitzenden der SPD seit 1946
Arbeitsminister Heil kann die Grundrente vorweisen. Der stets gut gelaunte und rauchende Niedersachse ist ein fleißiger Arbeiter, jedoch keine Rampensau. Dass Olaf Scholz ein Menschenfänger ist, würde nicht mal er selbst behaupten. Nach dem verlorenen Mitgliederentscheid gegen Eskabo stand er wie ein Häufchen Elend im Willy-Brandt-Haus.
Scholz blieb loyal. Das zahlt sich aus. Ohne den Vizekanzler läuft für die SPD in der Regierung nichts. Der haushohe Sieg „seiner“ Hamburger SPD (wo er lange Bürgermeister war) ist zumindest ein Indiz, dass die Sozialdemokratie mit einer pragmatischen, wirtschaftsfreundlichen Politik ein Comeback feiern könnte. Scholz ist zurück im Spiel. Aber ein Kanzlerkandidat, der in der eigenen Partei durchgefallen ist?
Borjans teilte derweil gegen Schröder aus und erklärte, Esken und er hätten im Präsidium klargemacht, dass das Vorschlagsrecht in der K-Frage bei „amtierenden, nicht früheren Vorsitzenden liegt“. Programm, Mitglieder, Wähler und Kandidat müssten zusammenpassen. Eine Entscheidung soll noch in diesem Jahr fallen.
GroKo-Aus
Nach dem Eskabo-Sieg riefen verzückte Jusos: „GroKo-Aus an Nikolaus!“ Jetzt ist bald Ostern, und die SPD fühlt sich auf der Regierungsbank offensichtlich pudelwohl. Daran ist die Machtlosigkeit der neuen Vorsitzenden abzulesen. Während der Roadshow für den Vorsitz hatte Esken immer wieder das Ende der im linken Flügel verhassten Koalition in Aussicht gestellt. Der erfahrene Borjans formulierte besonnener.
Kaum gewählt, wurde Esken von Fraktion, Ministerpräsidenten und Ministern eingenordet. Ihr zentraler Glaubwürdigkeitsverlust ist im Parteitagsbeschluss nachzulesen: „Für uns steht nicht die Frage im Vordergrund, ob wir die Koalition weiterführen oder beenden.“
Esken sagte nun, an ihrer Skepsis habe sich nichts geändert, die Kompromisssuche mit CDU und CSU sei „regelrecht schmerzhaft“. Das sieht wie ein Rückzugsgefecht aus. Denn einen Termin, wann der SPD-Vorstand über die GroKo abstimmt, blieben die Vorsitzenden erneut schuldig.
• Analyse: Corona ist der Kitt, der die GroKo wieder zusammenhält