Berlin. Nach einigem Zögern erklärt die Kanzlerin den Kampf gegen das Virus zur Chefsache und appelliert an die Solidarität der Deutschen.

Angela Merkel ist bei öffentlichen Auftritten selten emotional. Das ist am Mittwochmorgen wieder zu beobachten, als sie vor die Presse tritt, um die Öffentlichkeit über den Stand der Corona-Bekämpfung zu informieren.

Die Kanzlerin ist Naturwissenschaftlerin, so redet die Physikerin nüchtern und klug wie eine Oberärztin über jenes Virus, das Deutschland, Europa und den Rest der Welt ängstigt. Doch mitten in der mehr als einstündigen Pressekonferenz wird die Pfarrerstochter Merkel fast pathetisch: „Unsere Solidarität, Vernunft, Herz und Miteinander werden auf eine Probe gestellt, von der ich mir wünsche, dass wir diese Probe auch bestehen.“

Ob die Corona-Plage biblische Ausmaße annimmt, kann niemand absehen. Die 65 Jahre alte Kanzlerin jedenfalls muss zum Ende ihrer Ära nun also ihre dritte große Krise meistern. 2008 die Banken, 2015 die Flüchtlinge, 2020 Corona. Gerhard Schröder hatte Hartz IV und den Irak-Krieg. Merkel lässt keinen Zweifel daran, dass die Lage ernst ist. Es sei eine „Situation, in der wir vieles noch nicht wissen. Das, was wir wissen, müssen wir sehr ernst nehmen.“

Coronavirus wird das Land Monate, wenn nicht Jahre beschäftigen

Während Merkel, Gesundheitsminister Jens Spahn und der Präsident des Robert-Koch-Instituts, Lothar Wieler, sprechen, ist auf den Laufbändern der Nachrichtensender die Information zu lesen, dass ein vierter Deutscher an den Folgen der Viruserkrankung gestorben ist.

Corona erfasst auch die Bundeswehr. Dort gibt es neun Infizierte, 45 Verdachtsfälle. Wieler erklärt, Deutschland stehe erst am Anfang einer Epidemie, die vor allem Ältere und Menschen mit Vorerkrankungen gefährde. Es werde noch mehr Tote geben. Corona werde das Land Monate, wenn nicht Jahre beschäftigen.

Klinik bietet Coronavirus-Test per Drive-in

weitere Videos

    Merkel sagt, zentrale Aufgabe sei es, die Ausbreitung des Virus einzudämmen und zu verlangsamen. Ärzten, Krankenschwestern und Pflegern im Corona-Stress spricht sie ein „Riesendankeschön“ aus. „Es ist eben nicht egal, was wir tun, es ist nicht vergeblich, es ist nicht umsonst.“

    Der Faktor Zeit sei wichtig, um das Gesundheitswesen nicht zu überlasten. Sie spricht von 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung, die sich infizieren würden – das hat sie in der Unionsfraktion am Tag zuvor schon so gesagt. Die hinter verschlossenen Türen verkündeten großen Zahlen sorgten für Schlagzeilen und Irritationen.

    Viele schütteln des Kopf über das Kompetenz-Wirrwarr

    Denn der Auftritt der Kanzlerin kommt nach Meinung vieler politischer Beobachter sehr spät. Auch in den eigenen Reihen hatte es intern Kritik an Merkel gegeben. Nicht darüber, dass sie sich nicht um die Krankheit kümmere – sie sei wieder einmal tiefer drin in den Details als die meisten, hieß es. Ihr Kanzleramtsminister Helge Braun ist Arzt. Sondern daran, dass sie die große öffentliche Bühne zunächst nicht gesucht habe. Den Bundestag etwa.

    Auch in den Staatskanzleien der Länder wartete man auf ein öffentliches Wort der Kanzlerin. Warum erst jetzt, wird sie gefragt: Spahn wisse, dass sie sich mit dem Virus schon lange intensiv beschäftige, antwortet Merkel etwas spitz. Wann sie wo etwas sage, entscheide sie je nach Sachverhalten. Die EU-Videoschalte der Staats- und Regierungschefs – eine Premiere – am Dienstag sei eine „wunderbare Gelegenheit“, um jetzt die Öffentlichkeit über das Krisenmanagement zu informieren.

    Viele Bürger schütteln seit Tagen den Kopf über das Kompetenz-Wirrwarr in Deutschland. Warum folgen Bayern oder NRW rigoros Spahns Empfehlung, Großveranstaltungen mit über 1000 Besuchern abzusagen, während Berlins Bürgermeister Michael Müller sich wegduckt? Erst nach einer Empörungswelle zieht die Hauptstadt mit, inklusive Geisterspiel-Entscheidung für die Bundesliga-Partie zwischen Union Berlin und Bayern München.

    Alle müssten auf ein Stück Alltag verzichten

    Sie wolle niemanden an den Pranger stellen, sagt Merkel. Auch in der Wirtschafts- und Flüchtlingskrise habe sich die föderale Struktur bewährt. Aber: „Föderalismus ist nicht dafür da, dass man Verantwortung wegschiebt, sondern Föderalismus ist dafür da, dass jeder an seiner Stelle Verantwortung wahrnimmt“. Alle Ebenen täten gut daran, Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts nachzukommen.

    In Sachen Stadien wird der Fußballfan Merkel dann doch sehr deutlich: Ein Spiel ohne Zuschauer könne auch polizeilich angeordnet werden. Sie sehe aber nicht, dass sich die Deutsche Fußball-Liga dem widersetze. Um die Maßnahmen von Bund und Ländern noch besser zu verzahnen, wird Merkel an diesem Donnerstag mit den Ministerpräsidenten reden.

    Spahn sagt, es sei gut, dass viele Veranstaltungen abgesagt würden. Er verstehe, dass vielen Fußballfans das Herz blute, wenn sie nicht ins Stadion könnten. Auch wenn 80 Prozent der Infizierten milde bis keine Symptome aufwiesen, dürften Jüngere nicht denken: „Was habe ich denn damit zu tun?“ Alle müssten auf ein Stück Alltag verzichten, Club- oder Konzertbesuche sausen lassen, um andere zu schützen.

    Gilt das auch für die CDU und den Sonderparteitag am 25. April mit weit mehr als 1000 Teilnehmern? Merkel antwortet: „Ich bin ja nicht mehr CDU-Vorsitzende, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sich die CDU nicht an die entsprechenden Regeln halten wird.“ Man werde zeitgerecht informieren. Übersetzt heißt das: Der Parteitag wird nicht stattfinden. Interessant ist, dass mit Spahn nun ausgerechnet derjenige im Mittelpunkt steht, der zugunsten des NRW-Ministerpräsidenten Armin Laschet zurückgezogen hat.

    Der erst 39 Jahre alte Spahn war lange einer der härtesten Kritiker von Merkel. Nun loben sich beide gegenseitig. „Ich finde, dass Jens Spahn einen tollen Job macht“, sagt Merkel. „Ich habe da volles Vertrauen.“ Es gebe einen „Super-Austausch“. Selbst in der Grenzfrage, 2015 noch der große Reibungspunkt, sind sich Merkel und Spahn bei Corona einig.

    Coronavirus in Deutschland- Es werden noch mehr Menschen sterben

    weitere Videos

      Merkel trifft sich mit Arbeitgebern und Gewerkschaften

      „Wir sind in Deutschland der Meinung, dass Grenzschließungen keine adäquate Antwort auf die Herausforderungen sind“, sagt die Kanzlerin. Und ihr Gesundheitsminister ergänzt: „Die Grenzen pauschal zu schließen, verhindert nicht, was da passiert.“ Die Lage in Norditalien und am Brenner, wo Österreich kontrolliert, sei speziell.

      Verhindern will die Regierung wie in der Bankenkrise, dass die Wirtschaft unter die Räder kommt. Dafür würde Merkel wohl selbst das Prinzip der schwarzen Null im Haushalt vernachlässigen – für die Union finanzpolitisch eine heilige Kuh. Man könne im Kampf gegen Corona nicht jeden Tag fragen, „was bedeutet das für unser Defizit“. Erst am Ende werde geschaut, „was bedeutet das für unseren Haushalt“, sagt sie. „Das andere geht jetzt vor.“

      Dazu trifft sich Merkel am Freitagabend mit Arbeitgebern und Gewerkschaften. Zuvor wollen Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) und Finanzminister Olaf Scholz (SPD) verkünden, dass der Bund mit Kreditbürgschaften einen Corona-Schutzschirm für Firmen aufspannen will, bei denen das Geld knapp wird. Im Eiltempo wurde bereits das Kurzarbeitergeld freigeschaltet.

      Ist Corona mit der Finanzkrise vergleichbar? „Wir müssen mit viel mehr Unbekannten noch agieren, deshalb ist die Situation schon noch eine andere.“ Bankbilanzen und ein neuartiges Virus, das sind zwei Paar Schuhe.

      Wie reagiert die mächtigste Politikerin der Welt selbst auf Corona? Sie trete vor Fotografen zurück, um einen Meter zwischen sich und die Menschen zu bringen. Und sie achte darauf, ob sich Menschen ins Gesicht fassen.

      Von Hamsterkäufen hält Merkel wenig. Auch im Supermarkt sollten „Maß und Mitte“ gewahrt bleiben. Was ist mit Händeschütteln? Lieber nicht mehr. „Dafür eine Sekunde länger in die Augen gucken und lächeln“, sagt Merkel, „und nicht schon mit der Hand beim Nächsten sein, ist auch eine gute Möglichkeit.“