Lesbos. EU und Türkei streiten über Flüchtlinge – auf dem Rücken von Familien wie der des Syrers Abdul Kafi Rommo. Eine Reportage aus Moria.
Fatemeh ist ganz still. Rundherum um das Mädchen ist Trubel, Erwachsene reden in mehreren Sprachen laut durcheinander, Kinder flitzen zwischen den regennassen Zelten hin und her. Doch die Fünfjährige verfolgt das Geschehen nur mit großen, dunklen Augen. Vom Zelt ihrer Familie bewegt sie sich nicht weg. Fatemeh kann nicht hören und nicht sprechen, erklärt ihre Mutter Taghrid Homed. Sie glaubt, dass es an den Bomben liegt.
Als die 21-Jährige schwanger war mit Fatemeh, geriet sie in einen Bombenangriff in ihrer Heimatstadt Aleppo. Die Narben hat sie noch: am rechten Knöchel, am linken Ellbogen und Handgelenk. Jetzt ist Taghrid wieder schwanger, im vierten Monat, der Bauch unter dem langen schwarzen Kleid wölbt sich erkennbar. Bomben gibt es dort, wo sie jetzt sind, zwar nicht. Doch eine Zukunft gibt es ebenso wenig in Moria, wo Taghrid, ihr Ehemann Abdul Kafi Rommo, Fatemeh und der einjährige Mohammad jetzt leben.
Flüchtlingscamp Moria: Ausharren zwischen 20.000 Geflüchteten
Auf einer Hügelkette auf Lesbos, wo früher vor allem Olivenbäume standen, erstreckt sich heute eine weitläufige Zeltstadt: Moria, das größte Flüchtlingscamp Europas. Die Schätzungen, wie viele Menschen hier leben, gehen auseinander, von 18.000 bis 22.000. Viele, die im Lager leben, kommen aus Afghanistan, andere aus Somalia, der Demokratischen Republik Kongo oder, wie die Familie Rommo, aus Syrien. Gemeinsam ist ihnen, dass sie hier wegwollen – und doch festsitzen auf der Insel.
Moria wächst seit Monaten, die 2800 Plätze, die es hier ursprünglich gab, sind längst überschritten. 2019 kamen 75.000 Flüchtlinge in Griechenland an, rund 24.000 mehr als im Jahr zuvor. Das Ergebnis: ein überfordertes griechisches Asylsystem, monatelange Wartezeiten für die Menschen in den Lagern, eine zunehmend frustrierte und wütende Inselbevölkerung, die sich von der Regierung in Athen, aber auch vom Rest Europas alleingelassen fühlt.
Rechte Gruppen zünden NGO-Zentrum an und attackieren Journalisten
Nachdem der türkische Präsident die Grenze für offen erklärt hatte, entluden sich die Spannungen in Gewalt: Rechte Bürgerwehren bauten Straßenblockaden, verhinderten, dass Neuankömmlinge auf der Insel ins Camp gebracht wurden, attackierten Journalisten und NGO-Mitarbeiter. Am Wochenende brannte ein Gemeinschaftszentrum einer Organisation aus der Schweiz, unter anderem die Schule des Zentrums fiel dem Brand zum Opfer. Viele Helfer haben die Insel verlassen.
Für die Bewohner des Lagers bedeutet das: An einem Ort, wo die NGOs oft das Schlimmste abgefedert haben, sind sie jetzt noch mehr auf sich gestellt. „Es ist nicht gut hier für die Kinder“, sagt Taghrid.
Mit dem einen Arm hält sie Mohammad, der auf ihrer Hüfte sitzt, mit dem anderen weist sie in einer großen, kreisrunden Bewegung um sich herum, wie um zu sagen: Schaut euch doch um. Sie steht unter der kleinen Plastikplane, die sie aufgespannt haben zwischen ihrem Zelt und dem der Nachbarn, als Schutz gegen den Regen des griechischen Winters.
In einem Camp lernt man zu improvisieren
Gebracht hat es wenig. Es hat nicht lang geregnet an diesem Tag, aber es hat gereicht, um die Erde unter den Zelten in rutschigen, weichen Schlamm zu verwandeln. Er klebt an den Holzpaletten, auf denen die Zelte stehen, er kriecht über den Rand der Schlappen, die Taghrid an den Füßen trägt, Fatemeh und Mohammad haben ihn an den Händen.
- Hintergrund: Regierung will Kinder und Jugendliche aufnehmen
„Wir wollen hier nicht bleiben, wir wollen weiter“, sagt Vater Abdul Kafi Rommo und dreht sich eine Zigarette. Er sieht älter aus als seine 24 Jahre, müder. Zu Hause, in Aleppo, hat er als Maler gearbeitet, in einer Bäckerei war er für ein paar Jahre, auch als Landwirt hat er sich versucht. Er spricht ein bisschen Englisch, für ein ausführliches Gespräch reicht es nicht. Doch in einem Camp, wo es sowieso an allem fehlt, lernt man zu improvisieren.
Eine Nachbarin wird gefunden, die Arabisch spricht und Farsi, und ein junger Afghane übersetzt vom Farsi ins Englische. Es ist genug, um die Geschichte zu erzählen. Im Herbst 2019 machten sie sich auf den Weg, erzählt Abdul Kafi. Als sie das erste Mal in die Türkei einreisen wollten, schickten türkische Grenzer sie mit Waffengewalt zurück.
„Fast hätten sie mich getroffen“, sagt er und fährt sich mit der Hand über die Schulter, um zu zeigen, wie knapp die Kugeln ihn verfehlt haben. Beim nächsten Mal schaffte die Familie es in die Türkei und an die Küste. Sechsmal versuchten sie, über das Wasser nach Lesbos zu kommen, sechsmal fanden sie türkische Polizei oder Küstenwache.
Beim siebten Versuch schafften sie es nach Lesbos
Zu diesem Zeitpunkt war der EU-Türkei-Deal noch in Kraft. Mehrmals wurde Abdul Kafi von der türkischen Polizei festgenommen und erst nach Tagen wieder freigelassen. Beim siebten Mal schließlich waren sie erfolgreich: In einem Schlauchboot, zusammen mit 50 anderen, schafften sie es nach Lesbos.
Seit drei Monaten sind sie jetzt auf der Insel. 2050 Euro, sagen sie, haben sie den Schleppern für die Überfahrt bezahlt. Im Lager wird es Abend. Die Feuer, die rund um das Zelt der Familie angehen, werden gefüttert mit dem Holz der Olivenbäume. Er mag das Zelt nicht, sagt Abdul Kafi, „nachts wird es so kalt“. Er seufzt. Wäre es in Syrien sicher, sie wären niemals hierhergekommen. Doch in Syrien ist es nicht sicher.
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