Wien. Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz über Erdogans Flüchtlingspolitik, das Grundrecht auf Asyl – und was Europa jetzt tun muss.
Es ist ein klarer, kalter Märztag im Regierungsviertel von Österreichs Hauptstadt. Die Sonne scheint hell auf das Palais am Ballhausplatz 2, in dem der Bundeskanzler residiert. Sebastian Kurz ist zwar erst 33 Jahre alt, aber nach dem Bruch des Bündnisses mit der FPÖ und der Bildung einer neuen Regierung mit den Grünen bereits zum zweiten Mal Kanzler der Republik Österreich.
In seinem Büro stellte er sich den Fragen unserer Redaktion und unserer französischen Partnerredaktion Ouest-France.
Herr Bundeskanzler, Europa erlebt an seiner Außengrenze ein neues Flüchtlingsdrama. Wie muss die EU reagieren?
Sebastian Kurz: Entschlossen und geschlossen zugleich. Was wir 2015 erlebten, darf sich nicht wiederholen. Alle diejenigen, die damals ausgesprochen haben, dass es funktionierende Außengrenzen braucht, müssen jetzt Griechenland voll unterstützen. Damit diese Grenzen auch wirklich geschützt werden. Ein Europa ohne Grenzen nach innen kann es nur geben, wenn die Grenzen nach außen gesichert sind.
Rund 13.000 Flüchtlinge sitzen an der türkisch-griechischen Grenze fest. Was soll mit den Menschen geschehen?
Kurz: Wir erleben hier einen organisierten Angriff auf Griechenland durch die Türkei und durch Präsident Erdogan. Wir hatten vor einer Woche keine humanitäre Krise in Griechenland, keine Krise an der türkisch-griechischen Grenze und auch keine in der Türkei. Das ist ein geplanter und gezielter Angriff, gesteuert und staatlich organisiert. Europa darf diesem Druck nicht nachgeben.
Aber was soll mit den Flüchtlingen geschehen?
Kurz: Wenn diese Menschen, die teilweise auch gewaltbereit sind, am Ende nach Mitteleuropa durchkommen, wird es nicht bei den 13.000 bleiben. Dann werden es bald Hunderttausende und später vielleicht Millionen sein. Wir hätten am Ende dieselben Zustände wie im Jahr 2015.
Wenn Flüchtlingsströme zu einer politischen Waffe werden, wie dies Präsident Erdogan derzeit demonstriert: Kann dann das Grundrecht auf Asyl in der EU aufrechterhalten werden?
Kurz: Nein! Griechenland nimmt völlig zu Recht für einen Monat keine Asylanträge an. Die Menschen, die jetzt an dieser Grenze ankommen, sind ja größtenteils nicht Flüchtlinge, die aus dem syrischen Kriegsgebiet fliehen. Es sind zum größten Teil Migranten, die schon jahrelang in der Türkei leben. Diese Menschen haben kein Recht auf Asyl in Griechenland, denn sie werden in der Türkei nicht verfolgt. Sie werden aber missbraucht, ihr Leid wird ausgenutzt. Und sie werden instrumentalisiert, um Druck auf die EU zu machen. Dieses Spiel dürfen wir nicht mitspielen.
Sie machen also nicht mit bei einer „Koalition der Willigen“ und nehmen beispielsweise 5000 Flüchtlinge auf?
Kurz: Jedem steht es frei, Flüchtlinge aufzunehmen. Österreich hat in den letzten fünf Jahren 200.000 Asylanträge und pro Kopf mehr Menschen aufgenommen als fast alle anderen Länder der EU. Die müssen wir jetzt erst einmal integrieren. Das ist eine große Herausforderung. Wir dürfen keine Überforderung zulassen, denn das wäre unverantwortlich.
Hat man die Griechen nicht viel zu lange hängen lassen?
Kurz: Nein, es wurden Hunderte Millionen Euro gezahlt. Viele Länder haben mehr Flüchtlinge aufgenommen als Griechenland oder Italien. Das sind zum Beispiel Österreich, Deutschland und Schweden. Daher sind wir die Hauptbetroffenen. Ja, wir müssen Griechenland unter die Arme greifen – aber in richtiger Weise. Es ist keine Hilfe für die Griechen, wenn wir sie verurteilen oder Verteilungsdebatten führen. Das wird vielleicht noch mehr Flüchtlinge anlocken. Die Griechen wollen Unterstützung bei der Grenzsicherung. Österreich steht bereit, finanziell, materiell und mit Polizisten einzuspringen.
Der Schutz der Grenzen wird Europa viel Geld kosten. Wie soll das bezahlt werden, wenn Sie das EU-Budget kürzen wollen?
Kurz: Das Budget wird nicht gekürzt, sondern es steigt in absoluten Zahlen. Was wir im Moment erleben, ist doch nicht in erster Linie eine Frage des Geldes. Es ist eine Frage der Entschlossenheit. Entscheidend ist: Wie geht Europa damit um, wenn die Türkei einen Ansturm von Flüchtlingen an der EU-Außengrenze organisiert?
Wird es wieder Grenzkontrollen innerhalb Europas geben, wenn der Schutz der Außengrenze nicht funktioniert?
Kurz: Wenn die Grenzen nach außen nicht funktionieren, wird es wieder Grenzen innerhalb Europas geben. Ich erinnere daran, dass Deutschland in der Flüchtlingskrise 2015 als erstes Land Grenzkontrollen eingeführt hat. Ich hoffe sehr, dass Europa aus dieser Zeit gelernt hat.
Sie sprechen von einem „Angriff“ Erdogans auf die EU-Außengrenzen. Müssten die Staaten der Gemeinschaft im äußersten Fall auch Militär zum Schutz der Grenzen einsetzen?
Kurz: In Österreich ist das üblich und deshalb keine emotionale Debatte. Grenzkontrollen werden bei uns vom Bundesheer und der Polizei gemeinsam vorgenommen. Es ist nicht relevant, welche Uniform die Beschützer von Grenzen tragen. Entscheidend ist, dass der Grenzschutz funktioniert.
Die Machthaber Baschar al-Assad, Wladimir Putin und Erdogan schalten und walten in Syrien, wie sie wollen. Hätte Europa nicht viel früher eingreifen müssen – mit scharfen Sanktionen oder Soldaten?
Kurz: Es braucht einen europäischen Friedensplan für Syrien. Die EU muss stärker aktiv werden. Die Lösung kann nur sein, eine Friedenszone in Syrien zu schaffen, vorzugsweise im Norden. Diese Mission unter UN-Mandat muss dort Stabilität und Sicherheit bieten. Es gibt in Syrien rund sechs Millionen Binnenflüchtlinge, die eine derartige Friedenszone verdient haben. Auch wenn alle Versuche bislang gescheitert sind: Wir dürfen nicht aufgeben.
Ein UN-Mandat setzt auch Soldaten voraus. Wäre Österreich bereit, Militärkräfte abzukommandieren?
Kurz: Österreich gehört keinem Militärbündnis an und unterstützt als neutraler Staat mit mehr als 1000 Mann Friedensmissionen in aller Welt. Wir werden das weiter tun – so, wie wir das derzeit etwa im Kosovo oder im Libanon zeigen.
Ein UN-Mandat geht nicht ohne die Zustimmung Russlands. Wie wollen Sie Moskau zur Teilnahme an einer Friedenszone bewegen?
Kurz: Selbstverständlich brauchen wir Gespräche und Verhandlungen mit Russland. Aber ich sehe keinen anderen Weg, als dass Russland und die Türkei einen Waffenstillstand für die Rebellenhochburg Idlib in Nordwestsyrien beschließen. Die EU könnte eine Vermittlerrolle einnehmen.
Die Türkei hat mehr als vier Millionen Flüchtlinge aufgenommen und damit ein gewaltiges Problem. Wie sollte Europa mit Erdogan umgehen: ihm helfen oder scharfe Sanktionen auflegen?
Kurz: Es hängt immer davon ab, wie uns Ankara begegnet. Dass die Türkei von der EU Geld erhält, um Migranten im eigenen Land zu versorgen, ist absolut richtig. Deshalb unterstützen wir den Flüchtlingsdeal zwischen der EU und der Türkei. Aber Europa sollte nie erpressbar sein. Wer uns Druck macht, sollte nicht den Eindruck gewinnen, dass er sich damit durchsetzt.
Hat Europa überhaupt noch einen Hebel, um Erdogan zu bewegen?
Kurz: Die EU ist der größte Binnenmarkt und eine der wichtigsten Volkswirtschaften der Welt. Zudem ist sie ein bedeutender Handelspartner der Türkei. Wir haben ein enormes Gewicht. Wir müssen nur den Mut haben zu agieren.
Im Zweifelsfall auch mit Sanktionen?
Kurz: Im Moment geht es erst einmal darum, dem Druck nicht nachzugeben. Das allein würde in der Türkei bereits als Zeichen europäischer Stärke wahrgenommen.