Mytilini. Die Lager auf der Lesbos stehen vor dem Kollaps. Rätselraten gibt es um Schüsse an der Grenze zur Türkei. Eindrücke von der Insel.
Es ist ein Bild, das zeigen soll, dass die Griechen alles im Griff haben: Rund 200 Menschen, darunter viele Kinder, sind es geworden, die griechische Regierung hat sie herbringen lassen, auf das Hafengelände von Mytilini, der größten Stadt auf Lesbos. Vor ihnen sind Gitter, hinter ihnen die Busse, die sie gebracht haben. Der Wind, der vom Wasser kommt, ist kalt. Wer Decken hat, wickelt sich ein.
Ein paar Flaschen Wasser haben die Behörden vor die Absperrungen gestellt, dazu Fladenbrot. Viel ist es nicht. Viel brauchen die Menschen auch nicht, das ist wohl der Gedanke dahinter, schließlich sollen sie möglichst bald weg von hier.
Das Schiff, auf dem die Flüchtlinge zunächst untergebracht werden sollen, um sie anschließend aufs Festland zu bringen, wartet schon. Die Menschen, viele Afghanen und auch Syrer, sind erst in diesen Tagen auf Schlauchbooten aus der Türkei nach Lesbos geflohen. Das Schiff dient als Lager, weil im Landesinneren kein Platz mehr ist für die Menschen. Die Insel ist am Limit.
Journalisten beobachten die Szene aus einigen Metern Entfernung, näher lassen die griechischen Polizisten niemanden heran. Aber die Bilder, die sollen sich verbreiten. Denn sie haben eine Botschaft: Der griechische Staat, sollen sie sagen, hat die Lage unter Kontrolle.
Reporter hören Schüsse an der Grenze zwischen Türkei und Griechenland
Denn genau das steht spätestens seit dem Wochenende infrage. Seit der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan die Grenze nach Griechenland für Geflüchtete geöffnet hat, steht die Grenzregion unter enormem Druck.
An den griechisch-türkischen Grenzübergängen warten Tausende Menschen, die Regierung in Athen gibt an, allein in den vergangen Tagen 24.000 Flüchtlinge zurückgewiesen zu haben. Die griechischen Grenzer reagieren mit Warnschüssen in die Luft und Tränengas, auch vonseiten der Flüchtlinge flogen Berichten zufolge Gaskartuschen. Die deutsche Regierung verspricht, 20 Polizisten und Hubschrauber nach Griechenland zu schicken, zur Unterstützung.
Angaben der türkischen Seite, dass durch die Schüsse ein Mensch getötet worden sei, dementierte Griechenland am Mittwoch vehement: Es gebe keinen solchen Vorfall mit Schüssen von griechischen Beamten, sagte ein Regierungssprecher.
Ohrenzeugen berichteten allerdings von Schüssen im Grenzgebiet. Es gibt Bilder von Verletzten aus dem Krankenhaus im türkischen Edirne, sie sollen Einschusslöcher in der Brust eines Mannes zeigen. Ein Foto liegt unserer Redaktion vor. Laut türkischen Nachrichtenagenturen hat die Staatsanwaltschaft Ermittlungen aufgenommen. Die griechische Regierung spricht von „Fake News“.
Kampf um die Hoheit der Bilder
Zugleich zeigen Videos, wie Busse in der türkischen Metropole Istanbul am Straßenrand stehen. Trauben von Geflüchteten drängen sich an der Tür. Griechenlands Behörden werfen der Türkei vor, Menschen in „konzertierten Aktionen“ an die Grenze zu transportieren.
Die europäische Asylkrise ist auch zu einem Kampf um die Hoheit über Bilder und Informationen geworden. Vieles ist für Reporter kaum zu prüfen. Gerüchte verbreiten sich rasch, auf allen Seiten.
Doch die bloßen Zahlen verraten, wie brisant die Lage am Rand der EU ist. Auf den Inseln der Ost-Ägäis kamen allein in den ersten Märztagen nach Angaben der Vereinten Nationen rund 1200 Menschen an. Bei Weitem nicht so viele wie 2015 oder 2016, aber genug, um auf Lesbos die angespannte Stimmung zum Kippen zu bringen.
Am Sonntag kam es zur Eskalation: Inselbewohner versuchten, ein Flüchtlingsboot am Anlanden zu hindern. Mehrmals attackierten Gruppen von Menschen Flüchtlingshelfer und Journalisten. Mit Straßensperren blockierten Anwohner und Rechtsradikale den Zugang zu Moria, dem größten Camp auf den Inseln. Zeitgleich verbreiten Menschen auch in der Türkei Videos, in denen ein Mob aufgebrachter Anwohner Syrer anschreit und ihnen hinterherjagt.
Und die Angriffe treffen nicht nur Geflüchtete. „Die Gewalt, die wir sehen, ist auf einem nie dagewesenen Niveau“, sagt Nikolaos Panagiotopoulos vom International Rescue Committee. Einige Organisationen haben Mitarbeiter von Lesbos abgezogen. Ärzte ohne Grenzen, die auf der Insel zwei Kliniken betreiben, schlossen die Anlaufstellen zunächst.
Lange seien die Menschen auf der Insel solidarisch gewesen, sagt Stratis Kitelis, Bürgermeister von Mytilini, der größten Stadt auf Lesbos. Sie hätten geholfen und die Ankommenden versorgt. Doch jetzt sei die Situation außer Kontrolle geraten. „Wir fühlen uns vergessen“, sagt Kitelis. Die Kommune hat deshalb die Regierung gebeten, für den Anfang drei- bis viertausend Menschen aus Moria auf das Festland zu holen. Eine Antwort stehe noch aus.
20.000 Menschen in einem Lager – gebaut für 3000
Konzipiert für 3000 Menschen, ist Moria das größte Flüchtlingslager Europas. Zwischen 19.000 und 22.000 Menschen leben hier, niemand zählt mehr genau. Auch Marziye und ihre Familie leben hier. Am Dienstag sitzen sie aber am Hafen. Marziye hatte von einem Schiff gehört. Von einer Chance, ans Festland zu gelangen. In die Freiheit. So dachten sie. So wollten sie das Gerücht lesen.
Auf der fast leeren Promenade drängen sich Marziye und ihre Familie um eine Bank. Die Strahlen der Sonne sind bereits warm an diesem Morgen, doch Marziye ist dick eingepackt, Wollmütze auf dem Kopf. Oben in Moria schlafe die Familie zu acht in einem Zelt. Es gebe kaum Decken, kaum Schlafsäcke. „Mein Baby ist krank“, sagt Marziye und mimt einen Husten. Aus Baglan im Norden Afghanistans seien sie vor der Gewalt geflohen. Seit sieben Monaten ist die Familie jetzt auf Lesbos. Sie wollen nur: weg. Deutschland oder die Schweiz, sagt sie, das wäre schön.
Aufs Festland und dann weiter, das wollen im Lager alle. Die Nachricht, dass ein Schiff kommt, hatte deshalb schnell die Runde gemacht. Dass auf der anderen Seite des Meeres nicht die Weiterreise Richtung Deutschland oder Schweiz wartet, dieser Teil der Nachricht ist verloren gegangen. Auf dem griechischen Festland erwartet die Menschen erst mal ein weiteres Lager.
Migrationskrise – Mehr zum Thema
Die EU stellt Griechenland indes 700 Millionen Euro zu Verfügung: Von der Leyen lobt Griechenland als „Schutzschild“ der EU. Grünen-Chefin Annalena Baerbock gab der CDU eine Mitschuld an der Flüchtlingskrise. Die Zustände an der griechischen Grenze sind dramatisch.