Brüssel/Berlin. Dramatische Szenen an der griechisch-türkischen Grenze: Flüchtlinge werden zurückgedrängt, die aufs Festland wollen. Zustände wie 2015?
- Es sind dramatische Szenen am Grenzzaun zu Griechenland
- Tausende Migranten versuchen laut Vereinten Nationen aus der Türkei die griechischen Inseln Lesbos und Chios zu erreichen
- Caritas baut die Hilfe in Griechenland für Flüchtlinge aus und kritisiert die Lage scharf
Die griechische Polizei drängt am Dienstag Hunderte Migranten aus dem Hafen von Mytilini, der Hauptstadt der Insel Lesbos, zurück. Die Menschen sollen einem Gerücht geglaubt haben, dass ein Schiff am Dienstagabend kommen werde und sie alle nach Athen zum griechischen Festland bringen werde. Reporter berichteten, die Menschen – überwiegend aus Afghanistan und Staaten Afrikas – hätten „Freiheit“ skandiert.
In der türkischen Grenzstadt Edirne harren Tausende Menschen aus, sammeln Äste für Feuer in der Nacht. Rund um die Uhr versuchen Gruppen von Geflüchteten und Migranten, den Grenzzaun zu Griechenland zu überqueren. Die griechischen Beamten feuerten laut Augenzeugen und Medienberichten am Montag Tränengas und Blendgranaten ab. Bilder zeigen Flüchtlinge, die Steine über den Zaun werfen, Barrikaden anzünden.
Flüchtlinge drängen aus der Türkei an die griechische Grenze – dramatische Szenen
Seit Tagen strömen Migranten in Richtung griechische Grenze. Mehr als 13.000 sollen es laut Vereinten Nationen derzeit sein. Tendenz steigend. Unter ihnen sollen viele Kinder sein. Und der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan droht: Die Grenze bleibt geöffnet.
Angesichts der neu eintreffenden Flüchtlinge aus der Türkei stockt die Caritas ihre Hilfe in Griechenland auf. Die Arbeit insbesondere auf den Inseln Lesbos und Chios werde ausgebaut, teilte das katholische Hilfswerk am Montag mit. „Dorthin werden vermehrt Menschen kommen und damit den bestehenden Druck auf den Inseln weiter erhöhen.“Vor allem diese Neuankommenden müssen schnell versorgt werden, erklärte die Caritas weiter.
Zugleich wenige Hundert Kilometer weiter südlich: Menschen in Schlauchbooten versuchen über die Meeresenge von der Türkei aus, die Ufer der griechischen Inseln zu erreichen. In den sozialen Medien verbreiten die türkischen Behörden ein Video, in dem die griechische Küstenwache Menschen in einem wackeligen Schlauchboot mit einer Bugwelle abdrängt. Und am Vormittag eine weitere Nachricht von der Insel Lesbos: Ein sechsjähriger Junge ertrinkt. Als die Migranten ein Patrouillenboot der Küstenwache sahen, durchlöcherten sie das Schlauchboot, um als Schiffbrüchige gerettet zu werden. So jedenfalls berichtet es das griechische Fernsehen und beruft sich auf die Küstenwache.
Flüchtlingskrise an EU-Grenzen – Bilder erinnern an 2015
Es sind Bilder, die an das Jahr 2015 erinnern, in dem die Europäische Union in die große Asylkrise rutschte. Überrascht. Überfordert. Innerhalb eines Jahres flohen Hunderttausende über Griechenland und den Balkan Richtung Westen – vor allem nach Deutschland.
Seitdem hoben deutsche Politiker bis hin zu Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hervor, dass sich „2015 nicht wiederholen wird“. Doch noch nie seitdem war der Druck an der griechischen Grenze so hoch – auch weil in Syrien heftige Kämpfe weiter Hunderttausende zur Flucht zwingen. Bisher geben sich Verantwortliche in den deutschen Innenministerien und den Asylbehörden noch betont vorsichtig. Eine Situation wie 2015 sei nicht in Aussicht. Vor allem weil sowohl Griechenland als auch die Balkanstaaten ihre Grenzen geschlossen halten wollen. Und doch steigt die Alarmbereitschaft.
Wie reagiert die EU auf die neue Flüchtlingskrise?
Die EU ist in Alarmstimmung: Die Eskalation im Syrien-Konflikt war absehbar, aber dass der türkische Präsident Erdogan deshalb so schnell eine neue Flüchtlingskrise provozieren würde, hat die Union völlig überrascht – noch am Freitag hatte man in Brüssel geglaubt, eine Mahnung an Erdogan zur Einhaltung des Flüchtlingsabkommen würde ausreichen. Die erste Reaktion der EU ist nun Hilfe beim Grenzschutz für Griechenland und voraussichtlich auch für Bulgarien.
In der Nacht zu Montag richtete die griechische Regierung ein offizielles Hilfsersuchen zur schnellen Unterstützung beim Grenzschutz In Griechenland an Frontex; jetzt wird der genaue Bedarf geklärt, auch mit Hilfe von Frontex-Experten.
Bislang sind rund 400 Beamte der EU-Grenzschutztruppe Frontex auf den griechischen Inseln im Einsatz, eine kleinere Anzahl von Beamten auf dem Festland. Wie viele Einsatzkräfte zusätzlich entsendet werden, ist noch unklar; verlegt wird aber schon Ausrüstungsmaterial.
Wie unterscheidet sich die Situation von der Flüchtlingskrise 2015?
Die schnelle Reaktion beim Grenzschutz ist ein Fortschritt gegenüber dem Desaster bei der Flüchtlingskrise 2015. Brüssel setzt alles daran, eine Wiederholung dieses Dramas zu verhindern, indem Migranten schon an den Außengrenzen gestoppt werden.
„Wir tun alles, damit nicht in Griechenland und Bulgarien der Eindruck entsteht, die EU lasse sie mit der Krise allein“, sagt ein EU-Diplomat. Deshalb wird auch – noch – das robuste Vorgehen der griechischen Sicherheitskräfte akzeptiert, die auch Tränengas einsetzen, um Flüchtlinge am Grenzübertritt zu hindern.
Deshalb steht die EU-Spitzen auch in ständigem Kontakt mit den Regierungen in Athen und Sofia. Seit Tagen halten die EU-Spitzen aber auch engen Kontakt zu den Regierungen der anderen EU-Mitgliedstaaten und zur Türkei.
Angesichts der sich zuspitzenden Migrationslage wollen sich die Spitzen der EU-Institutionen selbst ein Bild von der Lage machen. Er werde EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, EU-Ratschef Charles Michel und Europaparlamentspräsident David Sassoli am Dienstag an der griechischen Landgrenze zur Türkei treffen, schrieb der griechische Regierungschef Mitsotakis am Montag auf Twitter.
Am Montag beraten in Brüssel die EU-Botschafter. Ein Treffen der EU-Innenminister ist für die die nächsten Tage geplant, die EU-Außenminister kommen ohnehin am Donnerstag zu einer informellen Sitzung in Kroatien zusammen.
Was kann die EU jetzt tun?
Drei Ansatzpunkte zeichnen sich ab: Die EU ist bereit, mit Erdogan über weitere Hilfsgelder zur Versorgung von Flüchtlinge zu reden; sie wird aber darauf bestehen, dass auch neue Milliarden nur zweckgebunden in Flüchtlingsprojekte fließen und nicht in die türkische Staatskasse.
Doch zunächst müsse man wissen, was Erdogan wirklich wolle, heißt es in der Kommission. Bislang hat die EU im Rahmen des Flüchtlingsdeals der Türkei 6 Milliarden Euro zugesagt; die Bereitschaft der Mitgliedstaaten, Erdogans Forderung nach weiteren Geldern nachzukommen, war vor der neuen Zuspitzung verhalten – abgesehen von einer grundsätzlichen Zusage Merkels.
Zugleich werden die EU-Außenminister bei ihrem Treffen diese Woche neue Wege suchen, wie die humanitäre Lage in der syrischen Provinz Idlib verbessert werden kann. „Wir müssen Ressourcen mobilisieren, das Leiden der Zivilbevölkerung zu verringern“, sagt der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell.
Der einflussreiche Chef der christdemokratischen EVP-Fraktion im EU-Parlament, Manfred Weber, bringt sogar schon ins Gespräch, dass die EU kontrolliert Flüchtlinge aus der syrischen Provinz Idlib aufnimmt, um die Türkei auf diese Weise zu entlasten.
Man könne über feste Kontingente mit besonders hilfsbedürftigen Flüchtlingen reden, wenn die Türkei andererseits wieder Ordnung an der EU-Außengrenze zu Griechenland und Bulgarien garantiere. Ein weitergehendes Engagement der EU im nordsyrischen Konfliktgebiet ist allerdings nicht in Sicht.
Stattdessen gibt es unter den EU-Außenpolitikern Überlegungen, den Druck auf den russischen Präsidenten Wladimir Putin zu verstärken: Der soll für ein Ende der Angriffe durch die syrischen Regierungstruppen in Idlib sorgen und sich zu Verhandlungen über eine politische Lösung bereit erklären. Beim Treffen der EU-Außenminister dürfte deshalb auch über neue Sanktionen gegen Russland gesprochen werden – ein Beschluss dazu wird aber vorerst nicht erwartet.
Die EU-Innenminister kommen nach Informationen unserer Redaktion am Mittwoch zu einem Sondertreffen zusammen, um über die neue Flüchtlingskrise zu beraten.“
• Kommentar: Die EU darf sich nicht von Erdogan und Putin erpressen lassen
Sind die EU-Außengrenzen im Gegensatz zu 2015 besser geschützt?
Die EU-Außengrenze ist deutlich schärfer kontrolliert als 2015. Das zeigt die Tatsache, dass die griechische Grenzpolizei und das Militär nach eigenen Angaben den Versuch der vielen Tausend Menschen unterbinden, über die Grenze von der Türkei zu fliehen. Bisher stecken die Flüchtlinge vor dem Grenzzaun auf türkischer Seite fest.
Auch im Meer vor den griechischen Inseln sind deutlich mehr Patrouillenboote unterwegs. Der Küstenschutz wurde in den vergangenen Jahren hochgefahren, nicht nur durch griechische Beamte, sondern auch durch Boote der EU-Grenzschutzagentur Frontex. Frontex bestätigt gegenüber unserer Redaktion eine Anfrage der griechischen Regierung, jetzt mehr Personal an die Grenze zur Türkei zu schicken.
Die aktuell zugespitzte Lage an der türkisch-griechischen Grenze zeigt auch, wie fragil die Lage ist, wenn die Regierung in Ankara eine Flucht von Menschen an den Grenzzaun nicht verhindert. Der Druck auf das griechische Grenzregime ist groß. Und auch die Zahl der Menschen, die in Schlauchbooten vom türkischen Festland auf die Inseln übersetzen, steigt deutlich an. Sobald die Türkei die Grenzkontrollen lockert, steigt die Zahl der Einreisen nach Europa.
Ist das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) besser vorbereitet als 2015?
Die deutschen Behörden sind besser vorbereitet als 2015. Zum einen hat die Regierung das Personal im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge um mehrere Tausend Mitarbeiter aufgestockt. Der Schritt war notwendig – mehrfach hatten Bamf-Leiter vor 2015 gewarnt: Das Bamf ist personell ausgedünnt. Das ist jetzt nicht der Fall. Im Notfall, so heißt es aus der Behörde, könne man innerhalb von 48 Stunden sogar Reserven hochfahren.
Zudem ist der Austausch zwischen Bamf, den Ausländer- und Sozialbehörden verbessert worden. Datenaustausch funktioniert, Fingerabdrücke von Asylantragstellern werden automatisch gespeichert. Auch das war 2015 nicht der Fall. Mehrere Hunderttausend Menschen wurden damals gar nicht erst mit einem intensiven Verfahren registriert – sondern nur per Fragebogen.
Wie verhält sich die Politik in Deutschland?
Deutschland könnte nach Ansicht der Fraktionsvorsitzenden der Grünen, Katrin Göring-Eckardt, mehr Flüchtlinge aufnehmen. Sie sagte der „Saarbrücker Zeitung“, es gebe viele Kommunen, die Kapazitäten hätten und bereit seien, weitere Flüchtlinge aufzunehmen. „Das sollten wir nutzen.“ Der CDU-Vorsitzkandidat Friedrich Merz warnte dagegen vor einer Situation wie 2015. Es müsse ein Signal an die Flüchtlinge geben, dass es „keinen Sinn hat, nach Deutschland zu kommen“, sagte Merz dem MDR. „Wir können Euch hier nicht aufnehmen.“
In Deutschland seien sich alle Beteiligten einig, so etwas wie 2015/2016 dürfe sich nicht wiederholen, fügte Merz hinzu. Deutschland müsse natürlich auch die Kontrolle über seine eigenen Grenzen behalten, wenn es eine solche Situation erneut geben sollte. Das Wort „Kontrollverlust“ sei 2015 und 2016 in Deutschland zu Recht verwendet worden; das dürfe sich nicht wiederholen, forderte Merz.
FDP-Chef Christian Lindner forderte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) auf, öffentlich zu sagen, dass es eine unkontrollierte Einreise nach Deutschland nicht mehr geben dürfe. Die Kanzlerin habe versprochen, dass sich ein Kontrollverlust nicht wiederholen dürfe. Daran werde sie selbst, Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) und die Unionsparteien gemessen. Die Bilder rund Nachrichten aus Griechenland zeichneten mitnichten das Bild einer kontrollierten Lage, betonte Lindner.
• Flüchtlinge in Europa – Mehr zum Thema
Neue Kämpfe hatten die Lage in Syrien verschärft. Das Nachbarland Türkei befürchtete daraufhin mehr Migranten: Kein Land nimmt so viele Flüchtlinge auf wie die Türkei. Viele Migranten sind indes im Niemandsland gestrandet. Alle Entwicklungen lesen Sie in unserem Newsblog: Flüchtlinge aus der Türkei: Bundesregierung warnt Migranten.