Berlin. Bei den Grünen explodieren die Mitgliederzahlen. Im Interview erklärt Bundesgeschäftsführer Michael Kellner, was dahinter steckt.

Kurz nach der Hamburg-Wahl, bei der die Grünen ihren Stimmenanteil auf 24 Prozent verdoppelten, kann die Ökopartei eine neue Erfolgsmeldung verkünden. Während die Volksparteien CDU und SPD 2019 erneut viele Mitglieder verloren haben, vermelden die Grünen mehr als 20.000 Eintritte.

Im Gespräch mit unserer Redaktion erklärt Bundesgeschäftsführer Michael Kellner, warum das so ist und was seine Partei vom künftigen CDU-Vorsitzenden im Kampf gegen rechts und die AfD erwartet.

Die Grünen haben 2019 die meisten Mitglieder aller Parteien dazu gewonnen. Woran liegt das?

Michael Kellner: „Im vergangenen Jahr ist unsere Mitgliederzahl um 21.176 auf 96.487 gestiegen – ein Zuwachs um gut 28 Prozent. Das ist sensationell. Schon 2018 war ein herausragendes Jahr für uns mit rund zehntausend Eintritten. Das haben wir noch einmal verdoppelt. Ganz viele Menschen treten ein, weil wir uns leidenschaftlich für Europa und Klimaschutz engagieren. Die Angst vor dem Auseinanderbrechen der Demokratie hat sicher auch viele bewegt, ein Zeichen zu setzen und sich politisch zu engagieren. Sie wollen nicht einfach nur zuschauen, sondern sich einbringen und etwas verändern.“

Mann, Frau, alt oder jung, Ost, West, wer kommt zu den Grünen?

Kellner: „Wir sind weiblicher, ostdeutscher und jünger geworden. Ich selbst bin ja wie alle anderen ein Jahr gealtert. Der Clou ist, dass die Partei sich um ein Jahr verjüngt hat. Der Altersdurchschnitt aller Parteimitglieder ist von 49 auf 48,1 Jahre gesunken. Unseren Frauenanteil haben wir von 40,5 auf 41,0 Prozent leicht erhöht – der beste Wert aller Parteien. Aber klar, von unserem Ziel 50 Prozent sind wir noch ein gutes Stück entfernt. Da werden wir weiter dran arbeiten, um Parität zu erreichen. In den Landesverbänden liegen die Frauenanteile zwischen 36,3 Prozent in Sachsen und 44,2 in Schleswig-Holstein. Was mich als gebürtigen Thüringer besonders freut ist, dass wir in Ostdeutschland prozentual gesehen stärker wachsen als im Westen. In Brandenburg ist die Mitgliederzahl um fast 43 Prozent gestiegen.“

Wann knacken die Grünen die 100.000er-Marke?

Kellner: „Mein Ziel ist vor Ostern. Das wäre ein wunderbares Ostergeschenk.“

Ergeben sich dadurch finanzielle Spielräume, mehr Geld für Mitarbeiter und Wahlkämpfe?

Kellner: „Der Mitgliederboom ist für die ganze Partei ein Energieschub und eine Herausforderung. Das sind Menschen, die mit viel Elan und Leidenschaft das Land verändern wollen. Viele unserer Kreisverbände haben deshalb Beauftragte benannt, um die Neumitglieder an die Parteistrukturen heranzuführen. Das verlangt unseren Ehrenamtlichen enorm viel ab, lohnt sich aber. Die zusätzlichen Mitgliedsbeiträge stärken uns natürlich auch finanziell, geben uns mehr Möglichkeiten.“

Viele Wahlen, jetzt auch in Hamburg, haben gezeigt, dass Sie in einer städtischen, umweltbewussten Wählerschaft besonders stark sind. Auf dem Land und im Osten schwächeln die Grünen. Was müssen Sie dort besser machen?

Kellner: „Wir stellen im Osnabrücker Land die erste grüne Landrätin. In Bayern haben wir zwei Landräte, bei den Kommunalwahlen im März kommen hoffentlich weitere dazu. Diese Entwicklung wollen wir ausbauen. Wir merken, dass grüne Themen wie die Klimakrise auf dem Land genauso angekommen sind wie in den Städten. Das Artensterben ist im ländlichen Raum sogar noch viel stärker spürbar und ein Thema in den Gesprächen.“

Im Bund liegen sie konstant bei bis zu 24 Prozent Zustimmung, weit vor der SPD, die CDU ist in Schlagdistanz. Fühlen Sie sich schon als Volkspartei?

Kellner: „Das Konzept der Volksparteien ist nicht zeitgemäß, das ist 20. Jahrhundert, mit abgeschliffenen Ecken und Kanten. Wir formulieren klare Ziele und suchen Bündnispartner in der Gesellschaft, um diese umzusetzen. Das meinen wir mit Bündnispartei. Im Übrigen haben CDU und SPD mit über 400.000 immer noch vier Mal so viele Mitglieder wie wir. Deren Wahletats sind nach wie vor mehr als doppelt so groß wie unsere. Das müssen wir mit Schnelligkeit, Gewitztheit und den richtigen Themen wettmachen.“

In der CDU sind nur Männer für den Parteivorsitz im Gespräch. Ist die CDU an diesem Punkt von gestern?

Kellner: „Die CDU hatte mit der Kanzlerin viele Jahre eine starke Frau an der Spitze. Aber sie hat es als Partei nicht geschafft, ihre Strukturen zu modernisieren. Der Frauenanteil im Bundestag liegt bei gerade einmal 31,2 Prozent, bei der Unionsfraktion noch deutlich darunter. Es spricht für sich, dass die Debatten für Frauenquoten auf den Parteitagen von CDU und CSU abgeschmettert worden sind.“

Wenn die anderen Parteien bei der Bundestagswahl nur Männer nach vorne stellen, müssen die Grünen 2021 folgerichtig auf eine Frau setzen.

Kellner: „Wir haben mit Annalena Baerbock und Robert Habeck eine grandiose Doppelspitze, die im Team zusammenarbeitet. Alles andere entscheiden wir rechtzeitig vor der nächsten Wahl.“

Sie sind aus Thüringen. Hat die CDU dort ihren Kompass verloren?

Kellner: „Ich kann bei der CDU in Thüringen weder Richtung noch Kurs erkennen. Es ist aberwitzig, erst mit FDP und AfD zusammen so ein Desaster anzurichten, dann aber keinen Ausweg zu finden. Ich stehe fassungslos vor den Kapriolen der dortigen CDU.“

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Also soll die CDU kommende Woche im ersten Wahlgang für Ramelow stimmen?

Kellner: „Ich würde mir das wünschen. Auch geordnete Neuwahlen im nächsten Jahr wären für Thüringen das Beste. Ich kann nur hoffen, dass die CDU zur Besinnung kommt. 2021 wird in Sachsen-Anhalt gewählt. Wer garantiert uns denn, dass sich das Drama da nicht wiederholt?“

Erwarten Sie vom künftigen CDU-Vorsitzenden, dass er die faktische Gleichsetzung von Linkspartei und AfD aufhebt?

Kellner: „Die CDU ist in Realitätsverweigerung gefangen. In größeren Teilen Ostdeutschlands ist die Linkspartei eine zweite sozialdemokratische Partei. Dieser westdeutsche Blick aus dem Adenauer-Haus ist Teil des Problems.“

Ist eine glaubwürdige Abgrenzung der neuen CDU-Spitze nach rechts und zur AfD eine Bedingung für Schwarz-Grün im Bund?

Kellner: „Die Frage, ob die Brandmauer nach rechts außen hält und das auch gegenüber den 16 Landesverbänden durchgesetzt wird, ist für mich der Lackmustest für die künftige CDU-Führung. Da darf es keinen Millimeter Interpretationsspielraum geben. Das muss für jeden Parteivorsitzenden gelten.“