Die Heimat der Jesiden liegt noch immer in Trümmern. Darum leben Zehntausende in Flüchtlingslagern in Kurdistan. Fußball lenkt sie vom Elend ab.

Langsam versinkt die Sonne an diesem ungewöhnlich milden Dezembernachmittag hinter dem Hügel, auf dem in langen Reihen die Wohncontainer stehen. Die Mädchen und die Zaungäste warten, es kann noch nicht losgehen. Die Pfeife fehlt noch. Ohne Pfeife kann das Spiel nicht beginnen, sie nehmen das hier ziemlich ernst. Also gibt Kapitänin Isra Suleyman Ali ihren Mitspielerinnen vom Team Piroz noch ein paar Anweisungen, wahrscheinlich hat sie in den vergangenen Stunden wieder im Internet nach gewieften Spielzügen gesucht. Sie will gewinnen. Immer. Dann endlich der Anpfiff. Es geht los.

Das Flüchtlingscamp Mam Rashan im Norden des Irak, in der autonomen Region Kurdistan, auf dem halben Weg zwischen Erbil und Dohuk. Hier leben Menschen, die vor dem Wahnsinn fliehen mussten, der hereinbrach, als die Kämpfer des sogenannten Islamischen Staates vor fünf Jahren Dorf um Dorf, Stadt um Stadt eroberten. Sie sind Jesiden, Angehörige einer religiösen Minderheit, die von den Fanatikern als Teufelsanbeter bezeichnet und besonders brutal verfolgt wurden.

4. Minute. Das Team Piroz in den blauen Trikots beginnt stark. Das ist kein wildes Gekicke, die Mädchen teilen sich den Raum auf, passen klug. Schiedsrichter Salem muss kaum eingreifen.

Der 3. August 2014 hat sich den Menschen in Mam Rashan für immer ins Gedächtnis gebrannt. Das war der Tag, als die bärtigen, schwarz gekleideten Männer in die Region Shingal stürmten, die Heimat der Jesiden ganz im Nordwesten des Irak. Hunderttausende mussten fliehen, Hunderte wurden sofort ermordet, Tausende Frauen und Kinder verschleppt.

Menschen mussten lange in Rohbauten leben

Wer sich retten konnte, musste häufig Monate, Jahre in Rohbauten leben. Die autonome Region Kurdistan ist in etwa so groß wie Nordrhein-Westfalen, sie hat fünf Millionen Einwohner. In diesem verhängnisvollen Sommer vor fünf Jahren kamen 2,3 Millionen Flüchtlinge dazu.

8. Minute. Der erste Torschuss. Isra hat sich robust durchgesetzt, eine Gegenspielerin lenkt den Ball ins Aus. Eckball. Die gegnerische Keeperin pöllt die Kugel weg. Isra schnauft durch.

Fußball ist in diesem Camp unglaublich wichtig. Der umzäunte Kunstrasenplatz wird jeden Tag bespielt, insgesamt gibt es 86 Teams. Sechs davon sind reine Mädchenteams.

Isra (21) lebt seit drei Jahren im Camp.
Isra (21) lebt seit drei Jahren im Camp. © Jan Jessen / NRZ | Jan Jessen

Isra redet nicht gerne über den Sommer 2014. Sie musste damals wie alle anderen mit ihrer Familie aus Sibar fliehen, einer Kleinstadt, in der früher knapp 10.000 Menschen lebten. Sie hat überlebt, sie wurde nicht entführt, nicht vergewaltigt. Das zählt. Isra braucht keine psychotherapeutische Hilfe wie die Frauen im Camp, die jahrelang in der Gefangenschaft der IS-Terroristen waren und von denen manche erst in diesem Frühjahr befreit wurden.

Isra hat schon in der Heimat Fußball gespielt

Vor dem Spiel steht sie mit ihren Freundinnen auf dem Platz. Die schwarzen Haare hochgesteckt, dunkelblauer Jogging-Anzug, weiße Sneaker, sie wirkt cool und selbstbewusst. Damals, bevor das Grauen geschah, hat sie in Sibar auch Fußball gespielt. „Aber das wurde nicht sehr gern gesehen“, sagt sie. Die jesidische Gesellschaft ist eine sehr traditionelle. Jetzt spielen die Mädchen freitags und samstags, und das sind die wichtigsten Tage für sie.

17. Minute. Die beiden Teams schenken sich nichts, das Spiel verschiebt sich aber ins Mittelfeld. Torchancen sind rar. Isra schreit ihre Mitspielerinnen an. Hinter dem Zaun um den Platz sitzen die Jungs und rauchen Sisha. Sie grinsen so wie junge Kerle häufig grinsen, wenn sie sehen, wie Frauen Fußball spielen. Die Kleinen sitzen am Spielfeldrand und schauen gespannt.

Auf einigen der Wohncontainer stehen die Namen von Städten aus dem Ruhrgebiet. Dorsten, Mülheim, Essen, Duisburg. Diese Siedlung, das Flüchtlingsdorf Ruhrgebiet, ist der Kern des Camps. Das waren die ersten Container, die hier standen, als es im Dezember 2015 eröffnet wurde. Sie wurden gespendet von Städten, Unternehmen, Kirchengemeinden, Einzelpersonen aus Nordrhein-Westfalen.

Im Camp sind bereits 500 Kinder zur Welt gekommen

Vor vielen dieser Container haben die Menschen Bäume gepflanzt, an etlichen haben sie Anbauten hochgezogen. Das Camp ist über die Jahre zu einer kleinen Stadt geworden. Seit es eröffnet wurde, sind hier über 500 Kinder zur Welt gekommen.

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Isra ist heute 21. Sie lebt seit drei Jahren im Camp. Natürlich, sagt sie, will sie wieder nach Hause, nach Shingal. „Aber es gibt dort keine Sicherheit.“ Die Heimatregion der Jesiden liegt noch immer in Trümmern, unterschiedliche Milizen ringen um Einfluss, die türkische Luftwaffe bombardiert dort immer wieder, weil sie in Shingal Kämpfer der kurdischen Arbeiterpartei PKK vermutet.

30. Minute. Halbzeit. Noch steht es 0:0. Die Mädchen atmen tief durch, beraten sich. Dann der Wiederanpfiff.

Die meiste Zeit, erzählt Isra, verbringt sie damit, über Fußball nachzudenken. Sie schaut sich auf Youtube Trainingsvideos an oder Spielausschnitte von Barcelona, dem Lieblingsverein der Mädchen. Messi vergöttern sie. Einmal in der Woche trainieren sie zusammen, vor ihren Containern, dann machen sie Kraftübungen.

Noch immer 1,1 Millionen Geflüchtete in Kurdistan

Manchmal fahren sie raus, spielen gegen Teams aus anderen Camps. Noch immer sind in der autonomen Region 1,1 Millionen Flüchtlinge, viele von ihnen in den gut zwei Dutzend Camps, die es noch immer gibt. „Die Transporte müssen wir selbst organisieren“, sagt Isra, und das macht sie etwas wütend, weil sie glaubt, dass die Jungs bessergestellt werden und kostenlos transportiert werden. „Die dürfen auch häufiger als wir spielen.“

41. Minute. Team Piroz ist jetzt deutlich überlegen. Es grenzt an ein Wunder, dass noch kein Tor gefallen ist. Die Mädchen rennen immer wieder an, einen Pfostentreffer quittieren sie mit einem kollektiven genervten Aufschrei.

Über die Zukunft macht sich Isra wenig Gedanken. „Ich will Trainerin werden“, sagt sie. Die anderen aus ihrer Mannschaft träumen davon, Lehrerinnen zu werden oder Ärztinnen. Manche der Mädchen besuchen weiterführende Schulen außerhalb des Camps. Was sich Isra wünscht? „Neue Trikots, Hosen und Schuhe und Bälle.“

58. Minute. Tor für Piroz. Ein Schuss wird unglücklich abgefälscht, der Ball trudelt ins Tor. Die Mädchen jubeln.

Campleitung bittet um weitere Unterstützung

Für Campleiter Shero Smo, ein junger, elegant gekleideter Mann, ist es wichtig, dass die Jungs und Mädchen Fußball spielen. „Das gibt ihnen Selbstbewusstsein und es lenkt sie ab.“ Er ist dankbar für die Hilfe aus Deutschland. Weil nun nur noch selten über die Region berichtet wird, haben sich viele Hilfsorganisationen zurückgezogen. „Wir brauchen eure Unterstützung aber noch“, sagt er.

60. Minute. Das Spiel ist aus. Piroz gewinnt 1:0.

Isra schwitzt nach dem Spiel und lächelt zufrieden. „Piroz gewinnt immer.“ Piroz, den Namen für das Team, haben sich die Mädchen selbst ausgesucht. Übersetzt bedeutet er: gesegnet.

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