Brüssel. Der Brexit Ende Januar ist nach dem Wahlsieg der Konservativen in Großbritannien so gut wie sicher. Warum das Drama dennoch weitergeht.

Ein bisschen Wehmut, vor allem aber Erleichterung über eine klare Richtungsansage: Beim EU-Gipfel in Brüssel haben die europäischen Staats- und Regierungschefs das Wahlergebnis in Großbritannien überraschend positiv bewertet.

Kanzlerin Angela Merkel (CDU) fasste die Reaktion am Freitag zum Gipfelende so zusammen: „Ehrlich gesagt haben sich viele darüber gefreut, dass es jetzt ein klares Ergebnis gibt.“ Für Wahlsieger Boris Johnson fand Merkel Worte „professioneller Anerkennung“: „Chapeau, muss man sagen, dass ihm das gelungen ist.“

Für die Kontinentaleuropäer und die Iren zählt vor allem, dass nun wenigstens die Phase quälender Brexit-Ungewissheit zu Ende gehen dürfte. Der EU-Austritt zum 31. Januar auf Basis des zwischen London und Brüssel ausgehandelten Austrittsvertrags wird kommen, das ist nun so gut wie sicher. Es sei auch gut, dass Johnson eine starke Mehrheit habe, meinte Merkel. Es gibt die Hoffnung, dass dies die Verhandlungen erleichtert.

Brüssel erwartet Brexit-Entscheidung in London bis Weihnachten

Die Nachricht hatte die EU-Staats- und Regierungschefs in der Nacht zu Freitag während ihres Gipfeltreffens erreicht. Sie saßen gerade bei einem verspäteten Dinner, diskutierten über die Türkei und Libyen, als die ersten Prognosen eintrafen. Im Raum lief kein Fernseher, so starrten die Regierungschefs auf ihre Smartphones, um die Neuigkeiten aus London zu verfolgen, wie Teilnehmer berichteten.

Gerechnet wird unter den EU-Spitzen damit, dass das Unterhaus in London nun tatsächlich noch vor Weihnachten über den Austrittsvertrag entscheidet – wahrscheinlich aber erst am Samstag nächster Woche und damit zu spät, damit auch das EU-Parlament den Vertrag noch in diesem Monat ratifiziert.

„Wir erwarten die Abstimmung des britischen Parlaments über das Austrittsabkommen so schnell wie möglich“, drängte EU-Ratspräsident Charles Michel. Es sei wichtig, möglichst bald Klarheit zu haben. „Wir sind bereit“, sagte Michel.

Brexit-Ablauf: Der große Knall bleibt immer noch möglich

Premier Boris Johnson hatte den Wahlausgang zu einem zweiten Brexit-Referendum erklärt. Die Wahl bedeute, dass die Bürger die Umsetzung des Brexit unwiderruflich wollten. In die Brüsseler Erleichterung mischen sich aber auch schon neue Sorge. Es hat sich inzwischen herum gesprochen, dass mit dem Austritt am 31. Januar der Brexit noch nicht erledigt ist – das Drama geht im kommenden Jahr weiter, der große Knall bleibt noch immer möglich.

Denn wie die Beziehungen zwischen EU und Großbritannien künftig geregelt werden, ist ja im Austrittsvertrag nur in sehr groben Eckpunkten vereinbart – alles hängt jetzt von den weiteren Abkommen ab, die eigentlich bis Ende des 2020 unter Dach und Fach sein sollen.

So lange läuft die im Austrittsvertrag vereinbarte Übergangsphase, in der die EU-Regeln weiter gelten. Die Zeit ist eigentlich viel zu knapp, um bis dahin substanzielle Vereinbarungen für die Zukunft zu treffen: Für ein Freihandelsabkommen zwischen Brüssel und London veranschlagen Experten mehrere Jahre. Der Austrittsvertrag sieht die Möglichkeit vor, die Übergangsphase um zwei Jahre zu verlängern. Aber will Johnson das?

Brexit-Verträge: Ärger droht in nächster Verhandlungsrunde

Seine konservativen Tories hatten das in ihrem Manifest abgelehnt, weshalb in Großbritannien seit Monaten die Befürchtung kursiert, der Premier lasse es Ende nächsten Jahres doch noch auf einen Abgang in die regellose Freiheit ankommen, in der dann in den Handelsbeziehungen zum Rest Europas nur die Regeln der Welthandelsorganisation WTO gelten würden, die Verpflichtung zur Zollerhebung inklusive.

Klarer wird man sehen, wenn Johnson jetzt als eine der ersten Aufgaben die britischen Prioritäten für die neue Verhandlungsstufe festlegen wird – die große Mehrheit gibt ihm jetzt zwar Spielraum, frühere Festlegungen zu ignorieren. Aber wenn Johnson frühere Ansagen umsetzt, riskiert er großen Ärger: Er will möglichst breiten, zollfreien Zugang zum EU-Binnenmarkt, aber ohne an die EU-Standards etwa bei Arbeitnehmerrechten, Umweltstandards oder Subventionen gebunden zu sein.

Die EU möchte aber keinem Wettbewerber vor der Haustür großzügigen Zugang zu ihrem Markt verschaffen, der sich mit Standarddumping Vorteile verschafft. Der Konflikt ist absehbar – ein böses Erwachen droht in Großbritannien, wo Johnson Illusionen über die Nach-Brexit-Zeit verbreitet hat. Im Entwurf der Gipfelerklärung der EU-Regierungschefs heißt es schon warnend, die künftigen Beziehungen zwischen EU und Großbritannien müssten auf der Basis ausgewogener Rechte und Pflichten geregelt sein.

Barley warnt vor „Crash-out-Brexit“

Die Vizepräsidentin des EU-Parlaments, Katarina Barley (SPD), warnt: „Jetzt droht doch noch ein Crash-out-Brexit. Der schwierige Teil beginnt ja erst nach dem 31. Januar.“ Dass Johnson die Verhandlungen bis zum Ende 2020 erledigt haben wolle, sei „ziemlich illusorisch“. Auch der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im EU-Parlament, David McAllister, äußerte Zweifel: Das Ziel, die Verhandlungen über die künftigen Beziehungen zwischen der EU und Großbritannien bis Ende 2020 abzuschließen, sei „extrem ambitioniert, meines Erachtens ausgeschlossen“, sagte der CDU-Politiker im Deutschlandfunk.

In Brüssel wurde aber das Signal gesendet, man sei willens, umgehend mit den Verhandlungen zu beginnen. „Wir sind bereit zu den nächsten Schritten“, sagte Ratspräsident Michel. Es stehe viel Arbeit bevor, um eine enge Kooperation mit Großbritannien auf den Weg zu bringen und dabei die Einheit der EU-Mitgliedstaaten zu garantieren. Auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen erklärte, die internen Vorbereitungen seien getroffen: „Wir sind bereit zu verhandeln, was immer benötigt wird.“ EU-Handelskommissar Phil Hogan arbeitet bereits an einem neuen Verhandlungsmandat, das die EU-Regierungschefs sofort nach dem Briten-Austritt absegnen sollen.

Kann das Chaos noch abgewendet werden?

Zwei Optionen werden diskutiert, um ein Chaos Ende nächsten Jahres abzuwenden: Zum einen könnte Johnson doch noch beantragen, die Übergangsfrist zu verlängern; bis zum 1. Juli müsste der Antrag gestellt sein. Oder es wird kommendes Jahr erstmal nur ein knappes Rahmenabkommen für die künftigen Beziehungen abgeschlossen, das sich an bestehenden Handelsverträgen der EU mit Drittstaaten orientiert. Details und besondere Regelungen kämen dann später. Diese Idee hat die Bundesregierung lanciert. Man könne in kurzer Zeit sehr viel verhandeln, wenn man klare Ziele habe, heißt es in Berlin.

Doch die deutsche Wirtschaft ist beunruhigt: „Mit Annahme des Austrittsabkommens gibt es kein Zurück mehr“, sagt der Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands der deutschen Industrie (BDI), Joachim Lang. Spätestens 2020 oder 2022 müssten die Verhandlungen zum zukünftigen Verhältnis abgeschlossen sein. Der Zeitplan sei sportlich, aber die Wirtschaft brauche eine Lösung: „Leider ist ein harter Brexit keinesfalls vom Tisch“, warnt der BDI-Spitzenmann. „Ohne Lösung droht der harte Brexit zu einem späteren Zeitpunkt.“