Berlin. Die SPD hat beim Parteitag in Berlin zwei neue Vorsitzende gewählt und wird noch Richtungsentscheidungen treffen. Was das bedeutet.
Um kurz vor drei kriegt die SPD in der futuristischen Messehalle Cube im Berliner Westen die Kurve. Der Hamburger Niels Annen, ein getreuer Scholz-Mann und so im Verliererlager dieser turbulenten Woche, verkündet das Ergebnis. Saskia Esken bekommt 75,9 Prozent.
Bei Norbert Walter-Borjans legen die Delegierten noch eine Schippe drauf: 89,2 Prozent. Jubel im Saal. So viel Rückhalt für das neue Duo, damit hätte kaum einer gerechnet. Selbst eine Andrea Nahles musste sich seinerzeit mit 66 Prozent begnügen.
Malu Dreyer, die Grande Dame, die die Partei nach dem Nahles-Rücktritt im Sommer durch manche Untiefen schiffte, überreicht Esken einen Strauß roter Rosen. Die Vorsitzenden herzen sich, recken die Arme in die Höhe. Sie haben es gegen viele Widerstände aus dem Establishment geschafft. Der frühere NRW-Finanzminister und die Digitalexpertin aus der Nähe von Stuttgart sitzen im schönsten Amt neben Papst, wie es Franz Müntefering einmal beschrieb. Habemus Doppelspitze! Bald werden „Nowabo“, wie Walter-Borjans gerufen wird, und Esken im Kanzleramt Angela Merkel, Markus Söder und Annegret Kramp-Karrenbauer gegenübersitzen.
SPD-Parteitag: Saskia Eskens Geschichte ist eine, die die Partei liebt
Eskens Wahl galt als Wackelpartie. Sie hatte Irritationen in ihrem linken Fanlager ausgelöst. Raus aus der GroKo, wenn die Union nicht spurt – so war Esken während 23 Regionalkonferenzen und in den Talkshows unterwegs. Unter der Woche wurden sie und Walter-Borjans von Bundestagsfraktion, Ministern und Ministerpräsidenten eingefangen. Würden die Delegierten das übelnehmen?
Sie antwortet darauf mit einer respektablen Rede, zeichnet ihren Weg von der Paketbotin über Software-Entwicklerin zur Bundestagsabgeordneten nach. Eine klassische sozialdemokratische Aufstiegsbiografie. „Ich habe nicht vergessen, wo ich herkomme!“ So etwas liebt die Partei.
Das wärmt an dunklen 13-Prozent-Tagen. Mit elf Jahren war Esken elektrisiert, als im Bundestag Willy Brandt per Misstrauensvotum gestürzt werden sollte. Sie erzählt, wie sie mit einer Freundin dazu wütend eine Kassette aufnahm, eine eigene Radiosendung produzierte.
Eskens politisches Herz schlägt links. Sie will die SPD zum „Betriebsrat der Digitalisierung“, wieder zum Korrektiv auf dem Arbeitsmarkt machen, um die Wunden aus den Schröder-Jahren zu heilen („Wir sind die Partei, die Hartz IV eingeführt hat und überwinden will“). Deutschland leiste sich mit mehr als 20 Prozent einen der größten Niedriglohnsektoren Europas. In Skandinavien sei vieles besser: „Ich will schwedische Verhältnisse auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Jeder Mensch muss von seiner Hände Arbeit leben können.“
Walter-Borjans stellt sich gegen schwarze Null
Ein Mindestlohn von mindestens zwölf Euro, mehr Klimaschutz, eine starke Grundrente. Esken verspricht viel. Kann die SPD das in den Gesprächen mit der Union einlösen? CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer provozierte den Koalitionspartner vor dem Parteitag mit der Ansage, die vereinbarte Grundrente werde im Bundestag nur bei einem klaren GroKo-Bekenntnis der SPD umgesetzt. Dieser Versuch von AKK sei „wirklich respektlos“, sagt Esken. Aber wie steht sie denn nun zur Zukunft der Regierung?
„Ich war und bin skeptisch, was die Zukunft der großen Koalition angeht. Da habe ich meine Meinung nicht geändert.“ Es gebe eine realistische Chance auf eine Fortsetzung, „nicht mehr, aber auch nicht weniger“. Die Delegierten können damit ihren Frieden machen. Der Lohn für einen soliden klassenkämpferischen Auftritt sind knapp 76 Prozent.
Dann kommt Walter-Borjans. Er versucht, die größeren außenpolitischen Linien zu ziehen. Er erinnert an das friedenspolitische Erbe von Brandt, geißelt Aufrüstung und die Pläne der CDU-Verteidigungsministerin AKK für weltweite Einsätze der Bundeswehr als „Militarisierung der Außenpolitik“.
Sich selbst lässt Nowabo in hellem Licht strahlen. Für 19 Millionen Euro ließ er als Minister in NRW Steuer-CDs kaufen, dem Fiskus spülte das mehr als sieben Milliarden Euro in die Kassen. Darauf sei er stolz, sagt der 67-Jährige. Superreiche müssten mehr zahlen. Umverteilung finde schon lange statt, aber von unten nach oben.
Der Staat müsse in der Krise in die Vollen gehen können. Schwarze Null und Schuldenbremse im Grundgesetz? Will Walter-Borjans beides abräumen. „Wenn die schwarze Null einer besseren Zukunft unserer Kinder im Wege steht, dann ist sie falsch. (...) Dann muss sie weg.“ Für eine Grundgesetzänderung sind aber keine Mehrheiten in Sicht. Die Union wird die schwarze Null mit Zähnen und Klauen verteidigen. Und es ist ein Foulspiel gegen den eigenen Finanzminister. Die schwarze Null von Wolfgang Schäuble machte der sich stets zu eigen.
Scholz: Heiserer und solidarischer Parteisoldat
Olaf Scholz präsentiert sich in Berlin als Parteisoldat. Er ist heiser, eine Erkältung plagt ihn. „Herzlichen Glückwunsch an Saskia und Norbert. Sie werden die Unterstützung der gesamten Partei bekommen“, sagt er und reicht so die Hand zur Versöhnung der Parteiflügel. Seine Getreuen haben die Hoffnung nicht vollends aufgegeben, dass der Vizekanzler – diese Woche in einer Umfrage beliebtester Politiker im Lande – trotz seiner Niederlage um den Vorsitz vielleicht doch Kanzlerkandidat wird. Mit Genugtuung registriert Scholz, dass Esken in der Aussprache einräumt, die GroKo-Bilanz der SPD-Minister könne sich sehen lassen.
Franziska Giffey, deren später Freispruch in der Plagiatsaffäre einen Sprung an die Spitze verhinderte, fordert vom linken Flügel Solidarität. Mit der „Endzeitdebatte“, raus aus der GroKo, müsse Schluss sein, sonst werde die SPD jegliches Vertrauen verspielen. Und Kevin Kühnert? Er ist der Königsmacher der Doppelspitze. Lange sieht es aus, als ob ein Duell zwischen dem kraftstrotzenden Juso-Chef und Hubertus Heil um einen Stellvertreterposten eskalieren könnte.
Das hätte die Kür der Vorsitzenden überschattet. Heil wollte unbedingt in den Führungskreis. Manche sagen, als Aufpasser aus der „Regierungs-SPD“. Würde nach Scholz ein zweiter Bundesminister desavouiert? Mit vereinten Kräften wird eine Eskalation verhindert. Lesen Sie hier alle aktuellen Entwicklungen des SPD-Parteitages im Newsblog.
Kühnert hält eine flammende Bewerbungsrede als Vize, feiert Youtuber Rezo, watscht AKK ab. Zum Schluss zeigt der 30-Jährige beim Heimspiel in Berlin eine rote Socke. Gegner wollten die Partei kleinmachen. Zwei Mal habe die SPD linke Mehrheiten im Bundestag nicht genutzt.
Dann zieht Kühnert eine „käsefußstinkende“ blaue aus der roten Socke – gemeint ist die AfD. Der Rest ist Jubel, die Jusos toben. Bei nur wenigen Gegenstimmen wird der Kurs der neuen Spitze bestätigt, in Sachen GroKo auf Sicht zu fahren. Geklärt ist damit nichts. Die SPD bleibt in einer Pattsituation gefangen. Ausgang ungewiss.