Berlin. Im Streit um die Grundrente ist die große Koalition zu einem Ergebnis gekommen. Das Thema drohte beinahe die Regierung zu sprengen.
Am Ende dauerte es noch einmal fast sechs Stunden, um den letzten Knoten zu durchschlagen: Um zehn Uhr hatten sich die Spitzen der großen Koalition am Sonntag im Kanzleramt getroffen, kurz vor 16 Uhr drang dann die Nachricht von der Einigung nach draußen: Union und SPD haben sich nach monatelangem Ringen auf einen Kompromiss bei der Grundrente verständigt.
Eine Stunde später traten die drei Parteichefs von CDU, CSU und SPD vor die Kameras: Die Grundrente soll am 1. Januar 2021 kommen – für bis 1,5 Millionen Rentner, die trotz langer Beitragszeit nur eine kleine Rente bekommen.
„Die Kuh ist vom Eis“, fasste CSU-Chef Markus Söder sichtlich erleichtert die Stimmung in der Runde zusammen. Die Einigung bei der Grundrente runde die Halbzeitbilanz der großen Koalition perfekt ab, so der bayerische Ministerpräsident. „Aus meiner Sicht gibt es jetzt auch keinen Grund mehr, über den Fortbestand zu diskutieren.“
Einigung bei der Grundrente „auch für die CDU vertretbare Lösung“
CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU), die um die großen Widerstände in den eigenen Reihen weiß, betonte: Der Kompromiss sei „eine gute, auch für die CDU vertretbare Lösung“. Die kommissarische SPD-Chefin Malu Dreyer sprach von einem „sozialpolitischen Meilenstein“. Vor allem Frauen mit kleinen Renten würden von der neuen Grundrente profitieren.
Streit hatte es vor allem darüber gegeben, ob die Grundrente von einer Bedürftigkeitsprüfung abhängig gemacht wird. Teile der Union hatten bis zuletzt darauf beharrt, die SPD lehnte eine solche Prüfung anfangs komplett ab. Am Sonntag einigten sich die Koalitionäre nun auf einen Mittelweg: Nun soll der „Bedarf“ in jedem Einzelfall durch eine umfassende Einkommensprüfung ermittelt werden. Dabei sollen auch Einkünfte aus Kapitalbesitz einbezogen werden. Ermöglicht werden soll die Prüfung durch einen automatisierten Datenaustausch zwischen Rentenversicherung und den Finanzämtern.
Mit der Grundrente bekommen jene Rentner einen Zuschlag, die 35 Beitragsjahre haben und deren Beitragsleistung unter 80 Prozent, aber über 30 Prozent des Durchschnittseinkommens liegt. Flankierend zur Grundrente will die Koalition zudem einen noch nicht näher bezeichneten Freibetrag beim Wohngeld einführen. So soll verhindert werden, dass die Verbesserung in der Rente nicht durch eine Kürzung des Wohngeldes aufgefressen wird.
Koalition: 1,2 bis 1,5 Millionen Rentner könnten von der Grundrente profitieren
Die Koalition schätzt, dass auf diesem Weg zwischen 1,2 bis 1,5 Millionen Rentner von der Grundrente profitieren könnten – die Kosten dafür dürften laut Söder bei einer Summe von bis zu 1,5 Milliarden Euro pro Jahr liegen. Finanziert werden soll die Grundrente über Steuern und aus Beiträgen der Rentenversicherung. Dafür soll der Zuschuss aus dem Bundeshaushalt erhöht werden. Eine Erhöhung der Rentenbeiträge soll es nicht geben. Die nötigen Steuermittel kommen aus einer Steuer auf Börsengeschäfte, die es allerdings noch gar nicht gibt.
Zudem will die Koalition die betriebliche Altersvorsorge für Geringverdiener mit einem Monatseinkommen bis 2200 Euro brutto stärker fördern. Um die Attraktivität von Mitarbeiter-Kapitalbeteiligungen zur Vermögensbildung zu erhöhen, wollen Union und SPD auch den steuerfreien Höchstbetrag in diesem Bereich von 360 Euro auf 720 Euro anheben.
Eine Einigung hatte auch deshalb als kompliziert gegolten, weil die Koalitionsspitzen einen Kompromiss in ihren Parteien vertreten müssen. Sowohl in der Union als auch bei der SPD gibt es intern erhebliche Vorbehalte gegen die Zugeständnisse, die den Kompromiss am Ende möglich machten.
Vizekanzler Olaf Scholz muss die Einigung beim SPD-Parteitag Anfang Dezember vertreten. Auch Kramp-Karrenbauer musste gegen erhebliche Vorbehalte gegen die Grundrente etwa im Wirtschaftsflügel ihrer Partei angehen. Die CDU-Chefin hat Ende November einen schwierigen Parteitag vor sich: Zwar stehen hier keine Personalentscheidungen an – doch der Parteitag wird ein wichtiger Stimmungstest für die CDU-Chefin und die Frage, wer die Union als Kanzlerkandidat in die nächste Wahl führen wird.
Friedrich Merz sieht Grundrente nur als ersten Schritt
Der CDU-Politiker Friedrich Merz bewertete den Kompromiss der Koalition am Sonntagabend allenfalls als ersten Schritt. „Vorbehaltlich einer genaueren Prüfung der Details könnte diese Einigung einen Weg aufzeigen, wie in Zukunft eine Grundrente mit Einkommens- und Vermögensprüfung vernünftig ausgestaltet werden kann“, sagte der frühere Unionsfraktionschef unserer Redaktion Positiv beurteilte Merz einen anderen Aspekt: „Die Vereinbarung zur betrieblichen Altersversorgung ist sehr sinnvoll, denn sie kann zur Vermeidung von zukünftiger Altersarmut beitragen.“
Auch die Opposition reagierte umgehend auf die Grundrentenpläne der Koalition: Linksfraktionschef Dietmar Bartsch kritisierte den Kompromiss scharf. „Zynisch ist: Bei E-Autos gibt es üppige Kaufprämien mit der Gießkanne und bei der Grundrente schaut die Koalition ins Portemonnaie der Rentner, die jahrzehntelang eingezahlt haben“, sagte Bartsch unserer Redaktion. Von der Grundrente würden viel weniger Menschen profitieren, als von Sozialminister Hubertus Heil (SPD) ursprünglich vorgesehen.
Die Grünen verlangten Nachbesserungen: „Im Gesetzgebungsverfahren werden wir dafür werben, dass die Zugangshürden der Grundrente abgesenkt – 30 statt 35 Jahre an Beitrags- und Versicherungszeiten – und eine unbürokratische Einkommensprüfung durchgeführt wird“, sagte Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt unserer Redaktion. „Es kann nicht sein, dass die GroKo nur eine aufwändige, umfassende Einkommensprüfung durchführt, um den Wirtschaftsflügel der Union zufrieden zu stellen.“
Wie hart erkämpft der Kompromiss auch am Ende noch war, darauf deutete nicht zuletzt eine kleine Szene vor den Kameras an: Söder hatte die angespannte Stimmung auflockern wollen und erzählte, dass die Verhandler zwischendurch auch mal ein Erdbeereis gegessen hätten – das sorgte erneut für Streit. Für unseren Kommentator ist die Einigung zur Grundrente sogar ein fataler Kompromiss.
Streit gab es schon seit Monaten über die Frage der Bedarfsprüfung. Vor dem Treffen hatten die Vorsitzenden von SPD und CDU Kompromissbereitschaft signalisiert: „Eine Einkommensprüfung im Sinne eines Freibetrages (...) könnte in Sachen Zielgenauigkeit ein guter Kompromiss sein“, sagte Dreyer der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“. Nun soll es eine eine umfassende Einkommensprüfung geben, hieß es. Zugang in das neue System bekomme der, der einen Bedarf habe, sagte Kramp-Karrenbauer.
Kanzlerin Merkel über Grundrente: „Der gute Wille ist da“
Kanzlerin Merkel hatte noch Freitag vorsichtigen Optimismus verbreitet: „Der gute Wille ist da, wir sind auch auf einem ganz guten Weg, wie ich finde. Aber es sind noch schwierige Gespräche“, sagte sie, betonte aber auch: „Wenn es noch ein weiteres Treffen geben würde, wäre das kein großes Unglück.“
Merkel hatte vor der Unionsfraktion am Dienstag für das Grundrenten-Ergebnis der Arbeitsgruppe geworben. Sie mahnte ihre Parteifreunde, nicht unentwegt Beispiele von Villenbesitzern anzuführen, sondern Bäcker, Reinigungskräfte oder Mitarbeiter von Logistikunternehmen in den Blick zu nehmen. Wenn die Union Volkspartei bleiben wolle, müssten auch diese ihre Wähler sein, genau wie Mittelständler und andere Unternehmer.
CSU-Landesgruppenchef Dobrindt dagegen griff vor der Verhandlungsrunde erneut Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) an. „Die Hubertus-Heil-Konfettikanone, mit der er einfach Geld verteilen will, wird nicht abgefeuert“, sagte er der „Bild am Sonntag“. Für eine praktikable Bedürftigkeitsprüfung habe die Union der SPD einen Vorschlag gemacht, der gerecht und zielgenau sei. „Ich hoffe, dass bei der SPD Vernunft vor Sturheit steht.“
Nach den Verhandlungen gab es auch noch eine kleine Spitze aus Reihen der CSU. Markus Söder irritierte mit einer Aussage zu kühlen Pausensnacks. So gab es bei der Regierungs-PK: eine Einigung bei der Grundrente, aber Streit um Erdbeereis.
Rentenversicherung warnt: Tausende neue Stellen nötig
Eine Arbeitsgruppe unter Kanzleramtschef Helge Braun und Heil hatte für die Spitzenrunde am Sonntag ein Kompromissmodell ausgearbeitet, das anstelle einer Bedürftigkeitsprüfung nur eine Einkommensüberprüfung auf Grundlage der Finanzamtsdaten vorsieht. Die Grundrente würde dann nur bis zu einem bestimmten Einkommensfreibetrag gezahlt.
Die Arbeitsgruppe ließ zunächst aber offen, wie hoch der Freibetrag sein soll und bis zu welcher Höhe geringe Rentenansprüche aufgestockt würden. Die SPD will sicherstellen, dass mindestens 1,5 Millionen Rentner davon profitieren. Die Union will erreichen, dass die Kosten unter zwei Milliarden Euro betragen. Der Streit hatte auch die Halbzeitbilanz der Großen Koalition Mitte der Woche getrübt.
Die Deutsche Rentenversicherung warnte unterdessen vor einem hohen Verwaltungsaufwand, sollte die Grundrente wie diskutiert umgesetzt werden. „Je nach Ausgestaltung der Neuregelung ist von einem Mehrbedarf von mehreren tausend zusätzlichen Stellenbei der Rentenversicherung auszugehen, sollte sie mit der Umsetzung der Grundrente beauftragt werden“, sagte ein Sprecher der Rentenversicherung der „Bild“-Zeitung. (mit dpa, epd, rtr)