Berlin. Michail Gorbatschow, der frühere Präsident der Sowjetunion, hat mit uns zum Mauerfall-Jubiläum über das Europa von heute gesprochen.

Michail Gorbatschow, ehemals Präsident der Supermacht Sowjetunion, und Fritz Pleitgen, früher Moskau-Korrespondent und langjähriger WDR-Intendant, sind sich bei vielen Gelegenheiten begegnet – auf Konferenzen, bei Staatsbesuchen und zuletzt bei Lesungen. Jetzt wollten sie sich wieder treffen, um über 30 Jahre nach dem Mauerfall, das gegenwärtige Wettrüsten und Gorbatschows letztes Buch „Was jetzt auf dem Spiel steht“ zu sprechen. Doch dann kam aus Moskau die Nachricht, dass es Michail Sergejewitsch gesundheitlich nicht gut geht.

Er sei aber gerne bereit, auf unsere Fragen in Ruhe schriftlich zu antworten. Wir sind auf sein Angebot eingegangen. Seine Antworten wollen wir Ihnen nicht vorenthalten, auch wenn Michail Sergejewitsch nicht alle Fragen beantwortet hat.

Die Beziehungen Russlands zum Westen sind heute so schlecht wie in den dunkelsten Zeiten des kalten Krieges. Wer hat Schuld: Russland oder der Westen?

Der ehemalige Präsident der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, sitzt in seinem Büro.
Der ehemalige Präsident der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, sitzt in seinem Büro. © dpa | -

Michail Gorbatschow: Ja, Konfrontation, Zusammenbruch des Vertrauens – das ist die aktuelle Situation. Wer daran schuld ist? Ich denke, zu dieser Frage hat es bereits genug Polemik gegeben. Beide Seiten beschuldigen sich gegenseitig. Ich vertrete die Meinung, dass mit den gegenseitigen Anschuldigungen Schluss sein sollte. Aber um einen Weg aus der gegenwärtigen Sackgasse zu finden, müssen wir die Ursachen verstehen. Der wichtigste Punkt ist meiner festen Überzeugung nach, dass nach dem Ende des Kalten Krieges in Europa keine moderne Sicherheitsarchitektur geschaffen wurde, unsere gemeinsamen Vorstellungen von der Schaffung eines Systems der Konfliktverhütung und Konfliktlösung nicht umgesetzt wurden. Wir haben das mit Mitterrand, Genscher und Scowcroft besprochen. Alle waren dafür. Aber dann ist es in Vergessenheit geraten. Auch die Charta von Paris wurde vergessen. Stattdessen erklärte der Westen, er habe den Kalten Krieg gewonnen. Dieses Siegergehabe war ein großer Fehler des Westens. Danach ging es los: die Erweiterung der Nato, die militärische Intervention in Jugoslawien, der Rückzug aus dem ABM-Vertrag, dem INF-Vertrag et cetera pp. Was muss jetzt unternommen werden? Das ist die Hauptfrage. Die Erfahrungen der Jahre nach Beendigung des kalten Krieges zeigen, dass Probleme gelöst werden können, wenn der politische Wille zum Dialog und zur Wiederherstellung des Vertrauens vorhanden ist.

Die Welt verdankt Ihnen und dem amerikanischen Präsidenten Reagan den umfassendsten Abrüstungsvertrag der Menschheitsgeschichte. In Ihrem Buch „Was jetzt auf dem Spiel steht“ warnen Sie vor einem neuen Wettrüsten. Sie schreiben: „Die größte Bedrohung für unsere Sicherheit ist die amerikanische Entscheidung, den Vertrag zu kündigen, der die Beseitigung von atomaren Mittel- und Kurzstreckenraketen vorsieht“. Der Westen wirft wiederum Moskau vor, bereits gegen den INF-Vertrag durch die Aufstellung neuer atomarer Mittelstreckenraketen verstoßen zu haben. Wer hat recht?

Gorbatschow: Ich habe Grund, der russischen Führung zu vertrauen. Wie Sie wissen, hat sie die Version einer angeblichen Vertragsverletzung durch Russland zurückgewiesen. Darüber hinaus hat sie dem Militär der USA und der Nato-Länder angeboten, diese Rakete vorzuführen. Jedoch wurde die Einladung abgelehnt. Obwohl sie doch immer für Kontrolle waren! Dies ist eine Frage der Technik. Sie und ich sind keine Experten darin. Russland hat ähnliche Vorwürfe gegen die Vereinigten Staaten erhoben. Da müssen Fachleute, das Militär eine Antwort geben. Ziel muss sein, sich auf Maßnahmen zu einigen, die den Anliegen beider Seiten Rechnung tragen. Früher haben wir dieses Ziel letztendlich immer erreicht. Warum ist es nicht mehr möglich? Das ist die Frage, die wir uns stellen müssen. Was geht hier vor sich? Jedwedes Problem wird von den Amerikanern als Vorwand für eine Verschärfung der Situation gesehen. Jetzt ist gerade die Rede davon, dass die USA sich aus dem Open-Skies-Abkommen zurückziehen wollen. Dahinter steht meines Erachtens der Wunsch, sämtliche Einschränkungen zu beseitigen und volle Handlungsfreiheit zu bekommen. Das Ergebnis wird ein neues Wettrüsten sein. Alle vernünftigen Menschen sollten sich dagegen zusammenschließen.

Das heutige Szenario erinnert an die Diskussion, die vor 40 Jahren geführt wurde. Damals ging es um die atomaren Pershing-Raketen und Cruise-Missiles sowie um die SS20-Raketen, deren Existenz der sowjetische Außenminister Gromyko bis zum Letzten abgestritten hat. Tatsächlich hat es sie aber doch gegeben. Verstehen Sie, dass der Westen, misstrauisch ist, wenn der Kreml heute bestreitet, dass er neue Mittelstreckenraketen besitzt?

Gorbatschow: Bitte lassen Sie uns hier kein Wortgeplänkel führen. Die Geschichte dieser Frage ist mir gut bekannt, denn ich habe mich nach meiner Wahl zum Generalsekretär gründlich damit auseinandergesetzt. Ich kam zu dem Ergebnis, dass die Entscheidung über die Stationierung von Mittelstreckenraketen, die Mitte der 70er-Jahre durch die Führung des Landes getroffen wurde, ein Fehler war. Übrigens hat das auch Gromyko später auf den Sitzungen des Politbüros gesagt. Aber weder er noch andere Mitglieder der sowjetischen Führung haben die Existenz dieser Raketen geleugnet. 1980 erklärte sich die UdSSR bereit, über dieses Thema zu verhandeln. Die Verhandlungen waren schwierig, denn die Positionen der Seiten unterschieden sich zunächst stark. Aber nachdem wir die Problematik mit Militärfachleuten sorgfältig geprüft und abgewogen hatten, kamen wir im Politbüro zu dem Schluss, dass die Beseitigung von Mittel- und Kurzstreckenraketen im Interesse der Sicherheit unseres Landes liegt. Wir haben uns geeinigt, diese Frage losgelöst von den allgemeinen Kernwaffenproblemen zu behandeln. Als Ergebnis der Verhandlungen wurde der Vertrag über die Beseitigung dieser Raketen geschlossen. Der erste Vertrag über eine echte nukleare Abrüstung mit einem bislang beispiellosen System der gegenseitigen Kontrolle! Es war der Beginn einer groß angelegten Reduzierung der Kernwaffen. Mehr als 30 Jahre lang erkannten beide Seiten an, dass der Vertrag eine der wichtigsten Säulen der strategischen Stabilität ist. Und jetzt wurde dieser Vertrag auf Initiative der Vereinigten Staaten gekündigt. Und was passierte unmittelbar danach? Es stellte sich heraus, dass die USA jetzt an vier Raketenarten dieser Klasse arbeiten, unter anderem an ballistischen Raketen. Es ist klar, dass diese Projekte schon lange vorher begonnen haben. Also: Wer kann jetzt wem nicht vertrauen?

Die Geschichte der Berliner Mauer

Lang trennte die Berliner Mauer die Menschen in Ost und West – von 1961 bis 1989. Das Bollwerk stand 28 Jahre, 2 Monate und 26 Tage. Am 5. Februar ist die Mauer nun genauso lange weg wie sie da war.
Lang trennte die Berliner Mauer die Menschen in Ost und West – von 1961 bis 1989. Das Bollwerk stand 28 Jahre, 2 Monate und 26 Tage. Am 5. Februar ist die Mauer nun genauso lange weg wie sie da war. © Getty Images | Central Press
Jubelnde Menschen standen am 10. November 1989 auf der Berliner Mauer am Brandenburger Tor. Am frühen Abend des 9. November 1989 kurz vor 19 Uhr gab Zentralkomitee-Sekretär Günter Schabowski am Ende einer Pressekonferenz eher beiläufig das Inkrafttreten einer neuen Reiseregelung für DDR-Bürger bekannt.
Jubelnde Menschen standen am 10. November 1989 auf der Berliner Mauer am Brandenburger Tor. Am frühen Abend des 9. November 1989 kurz vor 19 Uhr gab Zentralkomitee-Sekretär Günter Schabowski am Ende einer Pressekonferenz eher beiläufig das Inkrafttreten einer neuen Reiseregelung für DDR-Bürger bekannt. © dpa | Wolfgang Kumm
Bilder, die um die Welt gingen.
Bilder, die um die Welt gingen. © dpa | DB dpa
Wenige Wochen nach der Maueröffnung 1989 schwebte kein geringerer als der Sänger und Schauspieler David Hasselhoff („Baywatch“, „Knight Rider“) bei der ersten deutsch-deutschen Silvesterfeier am 31. Dezember 1989 am Brandenburger Tor im Korb eines Hebekrans über der feiernden Menschenmenge an der Berliner Mauer – „Looking for freedom“ singend.
Wenige Wochen nach der Maueröffnung 1989 schwebte kein geringerer als der Sänger und Schauspieler David Hasselhoff („Baywatch“, „Knight Rider“) bei der ersten deutsch-deutschen Silvesterfeier am 31. Dezember 1989 am Brandenburger Tor im Korb eines Hebekrans über der feiernden Menschenmenge an der Berliner Mauer – „Looking for freedom“ singend. © picture-alliance / dpa | dpa Picture-Alliance / Wöstmann
Der Staatsratsvorsitzende der DDR, Walter Ulbricht, auf der internationalen Pressekonferenz am 15. Juni 1961 im Haus der Ministerien in Ost-Berlin. Hier fiel sein berühmter Satz
Der Staatsratsvorsitzende der DDR, Walter Ulbricht, auf der internationalen Pressekonferenz am 15. Juni 1961 im Haus der Ministerien in Ost-Berlin. Hier fiel sein berühmter Satz "Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten", der nur wenige Wochen später durch den Beginn des Mauerbaus am 13. August 1961 ad absurdum geführt wurde. © picture alliance / Günter Bratke | dpa Picture-Alliance / Günter Bratke
Seit dem 13. August 1961 ließ die DDR die Sektorengrenze in Berlin mit Stacheldrahtrollen sperren, alle Verbindungen zwischen Osten und Westen wurden getrennt. In den nächsten Wochen folgte der Aufbau einer Mauer aus Betonelementen, die wie hier entlang der Zimmerstraße in Kreuzberg anfangs eine geringe Höhe hat. Als Schutz vor dem Überklettern der Mauer dienten Metall-Abweiser mit Stacheldraht.
Seit dem 13. August 1961 ließ die DDR die Sektorengrenze in Berlin mit Stacheldrahtrollen sperren, alle Verbindungen zwischen Osten und Westen wurden getrennt. In den nächsten Wochen folgte der Aufbau einer Mauer aus Betonelementen, die wie hier entlang der Zimmerstraße in Kreuzberg anfangs eine geringe Höhe hat. Als Schutz vor dem Überklettern der Mauer dienten Metall-Abweiser mit Stacheldraht. © Stiftung Berliner Mauer | Michael-Reiner Ernst
Am 14. August 1961 entstand diese Aufnahme: Zwei Kinder auf einer westdeutschen Straße unterhielten sich mit ihren Großeltern, die sich aus einem Fenster des genüberliegenden Hauses lehnten. Das Haus befand sich im östlichen Sektor. Ein Stacheldraht trennte die zwei Paare.
Am 14. August 1961 entstand diese Aufnahme: Zwei Kinder auf einer westdeutschen Straße unterhielten sich mit ihren Großeltern, die sich aus einem Fenster des genüberliegenden Hauses lehnten. Das Haus befand sich im östlichen Sektor. Ein Stacheldraht trennte die zwei Paare. © Getty Images | Keystone
Zwischen Brandenburger Tor und Potsdamer Platz entstand ein Niemandsland mit zahlreichen Sperrelementen, die im ersten Jahrzehnt das Erscheinungsbild des Grenzstreifens prägten. Dazu gehörten die vordere Grenzmauer mit aufgesetztem Stacheldraht, die Höckersperren gegen Durchbrüche mit schweren Fahrzeugen und Stacheldrahtzäune. Die Wachtürme waren überwiegend noch als Holzkonstruktion ausgeführt.
Zwischen Brandenburger Tor und Potsdamer Platz entstand ein Niemandsland mit zahlreichen Sperrelementen, die im ersten Jahrzehnt das Erscheinungsbild des Grenzstreifens prägten. Dazu gehörten die vordere Grenzmauer mit aufgesetztem Stacheldraht, die Höckersperren gegen Durchbrüche mit schweren Fahrzeugen und Stacheldrahtzäune. Die Wachtürme waren überwiegend noch als Holzkonstruktion ausgeführt. © Stiftung Berliner Mauer | Wolfgang Rupprecht
Arbeiter erhöhten die Sektorensperre im August 1961 an der Bernauer Straße in Berlin.
Arbeiter erhöhten die Sektorensperre im August 1961 an der Bernauer Straße in Berlin. © dpa | Bildarchiv
Volkspolizisten und Arbeiter der DDR errichteten die Mauer im Norden Berlins an der Grenze zum westberliner Bezirk Reinickendorf. Diese Aufnahme entstand am 6. Oktober 1961.
Volkspolizisten und Arbeiter der DDR errichteten die Mauer im Norden Berlins an der Grenze zum westberliner Bezirk Reinickendorf. Diese Aufnahme entstand am 6. Oktober 1961. © dpa | Bildarchiv
Unter der Aufsicht von bewaffneten Volkspolizisten errichtete eine Ostberliner Maurerkolonne  an der sowjetisch-amerikanischen Sektorengenze am Potsdamer Platz die Mauer.
Unter der Aufsicht von bewaffneten Volkspolizisten errichtete eine Ostberliner Maurerkolonne an der sowjetisch-amerikanischen Sektorengenze am Potsdamer Platz die Mauer. © dpa | UPI
Direkt an der Sektorenlinie bewachten Grenzsoldaten mit mobilem Sicherungszaun die Mauerarbeiten. Am linken Rand steht noch die ältere Betonschichtmauer aus horizontalen massiven Wegeplatten. Auf West-Berliner Seite beobachtete ein US-Militärpolizist das Geschehen.
Direkt an der Sektorenlinie bewachten Grenzsoldaten mit mobilem Sicherungszaun die Mauerarbeiten. Am linken Rand steht noch die ältere Betonschichtmauer aus horizontalen massiven Wegeplatten. Auf West-Berliner Seite beobachtete ein US-Militärpolizist das Geschehen. © Stiftung Berliner Mauer | Edmund Kasperski
Ein Foto, das ins kollektive Gedächtnis einging: Der 19-jährige DDR-Grenzpolizist Conrad Schumann gehörte zu den ersten Grenzflüchtlingen kurz nach dem Bau der Berliner Mauer. Das Foto trägt den Titel „Sprung in die Freiheit“ und entstand am 15. August 1961. Viele Jahre später steht Schumann vor seinem eigenen Foto. Weit über 100.000 Bürger der DDR versuchten zwischen 1961 und 1988 über die innerdeutsche Grenze oder über die Berliner Mauer zu fliehen. Weit mehr als 600 von ihnen wurden zwischen 1961 und 1989 von Grenzsoldaten der DDR erschossen oder starben bei Fluchtversuchen. Allein an der Berliner Mauer wurden zwischen 1961 und 1989 mindestens 140 Menschen getötet.
Ein Foto, das ins kollektive Gedächtnis einging: Der 19-jährige DDR-Grenzpolizist Conrad Schumann gehörte zu den ersten Grenzflüchtlingen kurz nach dem Bau der Berliner Mauer. Das Foto trägt den Titel „Sprung in die Freiheit“ und entstand am 15. August 1961. Viele Jahre später steht Schumann vor seinem eigenen Foto. Weit über 100.000 Bürger der DDR versuchten zwischen 1961 und 1988 über die innerdeutsche Grenze oder über die Berliner Mauer zu fliehen. Weit mehr als 600 von ihnen wurden zwischen 1961 und 1989 von Grenzsoldaten der DDR erschossen oder starben bei Fluchtversuchen. Allein an der Berliner Mauer wurden zwischen 1961 und 1989 mindestens 140 Menschen getötet. © AP | AP Content
Alltagssituation in Zeiten des Kalten Krieges auf östlicher Seite – aufgenommen am 13. November 1963.
Alltagssituation in Zeiten des Kalten Krieges auf östlicher Seite – aufgenommen am 13. November 1963. © Getty Images | Express Newspapers
Auch West-Berlin wird durch die Mauer geprägt, vor allem die Stadtteile, die unmittelbar an der Sektorengrenze liegen. Im Schatten der Mauer entstanden oft verwahrloste Brachen und Freiflächen, die als Parkplätze, Müllablagen oder wilde Gärten dienten. Spielende Kinder, Künstler und Autonome nutzten sie hingegen oft als Freiraum für ihre Aktivitäten.
Auch West-Berlin wird durch die Mauer geprägt, vor allem die Stadtteile, die unmittelbar an der Sektorengrenze liegen. Im Schatten der Mauer entstanden oft verwahrloste Brachen und Freiflächen, die als Parkplätze, Müllablagen oder wilde Gärten dienten. Spielende Kinder, Künstler und Autonome nutzten sie hingegen oft als Freiraum für ihre Aktivitäten. © Stiftung Berliner Mauer | Wolfgang Schubert
Die weiß gestrichene Hinterlandmauer markierte den Beginn des Grenzstreifens von der Ostseite her, während die Thomaskirche im Hintergrund bereits im Westen steht. Die Überwachung begann jedoch weit vor dieser Mauer: Mit der sogenannten „Hinterlandsicherung“ kontrollierten Stasi, Grenztruppen und Polizei das Gebiet nahe dem Grenzstreifen. Für den Aufenthalt war ein Berechtigungsschein erforderlich.
Die weiß gestrichene Hinterlandmauer markierte den Beginn des Grenzstreifens von der Ostseite her, während die Thomaskirche im Hintergrund bereits im Westen steht. Die Überwachung begann jedoch weit vor dieser Mauer: Mit der sogenannten „Hinterlandsicherung“ kontrollierten Stasi, Grenztruppen und Polizei das Gebiet nahe dem Grenzstreifen. Für den Aufenthalt war ein Berechtigungsschein erforderlich. © Stiftung Berliner Mauer | Michael Schuhhardt
Grotesker Ausblick.
Grotesker Ausblick. © imago | Sven Simon
Im Juni 1990 begann der planmäßige Abbau aller noch bestehenden Grenzanlagen. Nicht nur die Grenzmauer, sondern alle Sperrelemente innerhalb des Grenzstreifens sowie die Hinterlandmauer mussten abgerissen werden. Die geschredderten Reste der Berliner Mauer wurden größtenteils im Straßenbau verwertet.
Im Juni 1990 begann der planmäßige Abbau aller noch bestehenden Grenzanlagen. Nicht nur die Grenzmauer, sondern alle Sperrelemente innerhalb des Grenzstreifens sowie die Hinterlandmauer mussten abgerissen werden. Die geschredderten Reste der Berliner Mauer wurden größtenteils im Straßenbau verwertet. © Stiftung Berliner Mauer | Hans-Peter Guba
„Mauerspecht
„Mauerspecht". © © epd-bild / Schnabel | Schnabel, Michael
Der ehemals scharf bewachte Grenzstreifen war durch die Löcher der Mauerspechte zugänglich geworden. Wie hier direkt am Reichstag ließen die Grenzsoldaten auch Familien durch die sinnlos und löchrig gewordene Mauer in das vormals hermetisch abgeriegelte Sperrgebiet. Die Reste der inneren Armierung der Mauerelemente dienten nun als Haltegriffe für die kleinsten Besucher aus dem Westen.
Der ehemals scharf bewachte Grenzstreifen war durch die Löcher der Mauerspechte zugänglich geworden. Wie hier direkt am Reichstag ließen die Grenzsoldaten auch Familien durch die sinnlos und löchrig gewordene Mauer in das vormals hermetisch abgeriegelte Sperrgebiet. Die Reste der inneren Armierung der Mauerelemente dienten nun als Haltegriffe für die kleinsten Besucher aus dem Westen. © Stiftung Berliner Mauer | Edmund Kasperski
Die East Side Gallery ist bis heute ein Anziehungspunkt für Hunderttausende Besucher im Jahr. Hier wird ein Teil des Bauwerks denkmalgerecht erhalten und dokumentiert die Zeit der Teilung und der wiedergewonnenen Freiheit nach dem Mauerfall.
Die East Side Gallery ist bis heute ein Anziehungspunkt für Hunderttausende Besucher im Jahr. Hier wird ein Teil des Bauwerks denkmalgerecht erhalten und dokumentiert die Zeit der Teilung und der wiedergewonnenen Freiheit nach dem Mauerfall. © Stiftung Berliner Mauer | Stiftung Berliner Mauer
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Wie können der Westen und Russland gedeihliche Beziehungen für beide Seiten aufbauen? Können die Charta von Paris oder Ihre Idee vom gemeinsamen europäischen Haus helfen, wieder in Gang zu kommen?

Gorbatschow: In unserer jüngsten Geschichte hatten wir Zeiten sehr erfolgreicher Beziehungen zu den westlichen Ländern, sowohl im multilateralen als auch im bilateralen Format. Denken Sie zum Beispiel an die großartige Arbeit der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, die zur Schlussakte von Helsinki führte. Oder an den Moskauer Vertrag von 1970 zwischen der UdSSR und Deutschland, der den Grundstein für gutnachbarliche Beziehungen legte. Nicht zu vergessen die Perestroika – ein herausragendes Beispiel für die Annäherung von Ost und West, wo es uns gelang, die atomare Abrüstung wieder anzustoßen, die überaus schwierige „Deutschlandfrage“ zu lösen und den Kalten Krieg zu beenden. Diese Erfahrungen sollten unbedingt analysiert, berücksichtigt und genutzt werden. Heute gibt es noch mehr Gründe für Interaktion und Zusammenarbeit als damals. Ich spreche von den globalen Herausforderungen. Es sind mehr geworden, und sie sind noch gefährlicher. In der Welt kommt es ständig zu neuen Krisen. Es kann jederzeit jederorts „knallen“, um es einfach auszudrücken. Und trotz Abrüstung gibt es noch so viele Atomwaffen, dass sie die Existenz der Menschheit bedrohen können. Und mit diesem Problem müssen wir beginnen. Ich bin überzeugt, dass der erste Schritt dabei von Moskau und Washington unternommen werden muss. Deshalb schreibe ich in meinem Buch, das kürzlich in Russland, Deutschland und anderen Ländern erschienen ist: „Wenn Russland und die USA sich wieder an den Verhandlungstisch setzen, wenn erste Ergebnisse erzielt werden, dann wird sich die Atmosphäre ändern, und es werden Voraussetzungen für den Dialog mit anderen Atomwaffen besitzenden Ländern entstehen. Zunächst werden es Konsultationen sein, um gegenseitige Absichten zu klären, über Militärdoktrinen und vertrauensbildende Maßnahmen und Offenheit zu diskutieren. Später werden es schließlich Verhandlungen und erste Vereinbarungen sein“. Was ich über die herausragende Bedeutung der Beziehungen zwischen den USA und Russland gesagt habe, schmälert nicht die Rolle Europas. Unser Kontinent, der im vergangenen Jahrhundert zum Ausgangspunkt zweier grausamer Weltkriege wurde, hat eine besondere Rolle zu spielen. Deshalb schätze ich die Charta von Paris von 1990 nach wie vor sehr. Ich stelle dieses historische Dokument auf die gleiche Stufe wie die herausragenden Vereinbarungen, die wir mit US-Präsidenten in Reykjavik (1986) und Malta (1989) getroffen haben. Wir haben die Charta von Paris als den Beginn des Weges zu einer gemeinsamen, gleichen und unteilbaren Sicherheit gesehen. Wer könnte behaupten, dass ein solcher Ansatz heute irrelevant sei? Auch die Idee eines gemeinsamen europäischen Hauses ist nicht veraltet. Tatsächlich leben wir bereits in diesem Haus – einem gemeinsamen europäischen Mehrfamilienhaus. Aber seine Bewohner sind nicht immer im Einklang miteinander. Dabei ist es möglich und notwendig, anders zu leben, auf eine gute nachbarschaftliche Weise. Es wäre ein großer Beitrag für den Weltfrieden.

Michail Gorbatschow mit einem Stück Berliner Maier am Dienstag bei einem Treffen in der Gorbatschow-Stiftung in Moskau.
Michail Gorbatschow mit einem Stück Berliner Maier am Dienstag bei einem Treffen in der Gorbatschow-Stiftung in Moskau. © dpa | Nikita Markov

Der Westen ist misstrauisch gegenüber dem heutigen Russland, weil Moskau konsequent jede Beteiligung am Giftgas-Attentat von Salisbury, am Abschuss des malaysischen Passagierflugzeugs und am Einsatz von Staatsdoping bestreitet. Sind die Anschuldigungen aus dem Westen nur Hirngespinste?

Gorbatschow: Ihre Frage erinnerte mich an eine Episode aus der Vergangenheit. 1987 sollte ich zu meinem ersten offiziellen Besuch nach Washington fahren. Nach den Treffen mit Präsident Reagan in Genf und Reykjavik erwarteten beide Seiten wichtige Entscheidungen von diesem Besuch. Der US-Außenminister George Shultz kam zu Vorbereitungsgesprächen nach Moskau. Aber am Vorabend der Gespräche brach ein „Spionageskandal“ aus. Die amerikanische Presse machte ein unglaubliches Aufsehen über die Entdeckung von Abhörgeräten in der US-Botschaft in Moskau. Das warf einen Schatten auf unser Treffen im Kreml. Shultz sprach das Thema in den Verhandlungen dezidiert an. Ich antwortete ihm (ich zitiere aus Gesprächsaufzeichnungen): „Ich denke, wenn sich Staatsmänner treffen und reden, müssen sie nicht vorgeben, unschuldige Mädchen zu sein. Wir wissen, warum die CIA gegründet wurde und was sie tut. Sie betreiben Aufklärung gegen uns – wir tun das ebenfalls... Für uns ist es von hoher Bedeutung, eine normale Atmosphäre zu schaffen, in der es möglich wird, endlich einen Schritt in Richtung einer Einigung zu machen. Aber jedes Mal, wenn wir einen Schritt auf Sie zugehen, denken Sie nur darüber nach, wie die Dinge erschwert werden könnten, wie die Vereinbarung vereitelt werden könnte. Es bleibt nur noch wenig Zeit. Entweder schaffen wir es, in den verbleibenden Monaten zu einer Einigung über einige Fragen zu kommen, oder es wird nichts passieren.“ Letztendlich ist es den Initiatoren des Skandals nicht gelungen, uns vom Weg abzubringen. Wir haben eine Einigung erzielt und den INF-Vertrag unterzeichnet. Und jetzt will jemand die Rolle des Ermittlers, Staatsanwalts und Richters spielen. Das können nur Kräfte sein, die nicht an einer „Entgiftung“ der internationalen Atmosphäre interessiert sind. Lassen Sie uns eine Entscheidung treffen, was wir tun wollen – gegenseitige Anschuldigungen austauschen oder versuchen, einen Schritt in Richtung gegenseitiges Verständnis zu machen. Übrigens gibt es auch in der heutigen angeheizten Lage wenn auch kleine, so trotzdem positive Entwicklungen wie den Austausch von Gefangenen zwischen Russland und der Ukraine oder bestimmte Nachrichten aus dem Donbass.

Auf Staatsbesuch in Deutschland: Michail Gorbatschow und Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) am 11. Oktober 1990.
Auf Staatsbesuch in Deutschland: Michail Gorbatschow und Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) am 11. Oktober 1990. © picture alliance / KUNZ / Augenk | dpa Picture-Alliance / KUNZ / Augenklick

In Ihrem Buch verweisen Sie auf die Charta von Paris und zitieren „Sicherheit ist unteilbar“. In der Charta heißt es auch, „die Freiheit, sich für ein Bündnis zu entscheiden, bleibt uneingeschränkt“. Gilt diese Aussage nicht auch für die Ukraine?

Gorbatschow: Lassen Sie uns schauen, was die Charta von Paris im Kapitel „Sicherheit“ sagt: „Die beispiellose Reduzierung der Streitkräfte durch den Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa wird – gemeinsam mit neuen Ansätzen für Sicherheit und Zusammenarbeit innerhalb des KSZE-Prozesses – unser Verständnis von Sicherheit in Europa verändern und unseren Beziehungen eine neue Dimension verleihen. In diesem Zusammenhang bekennen wir uns zum Recht der Staaten, ihre sicherheitspolitischen Dispositionen frei zu treffen.“ Wir haben uns in diese Richtung bewegt, haben gehofft, dass alles sein würde, wie es in der Charta beschrieben ist. Aber als die UdSSR aufhörte zu existieren und Russland geschwächt war, fühlten sich einige unserer westlichen Partner als „Herren der Lage“ und entschieden, dass man Russland nicht berücksichtigen muss, dass die Worte „gleiche Sicherheit für alle“ nicht auf Russland angewendet werden müssen. Und überhaupt wurde die OSZE an eine drittrangige Stelle gesetzt, und die Charta von Paris wurde einfach vergessen. Und jetzt beziehen Sie sich auf die Charta, indem Sie eine Aussage herausgreifen und ungenau zitieren. In der Charta sind aber die notwendigen Voraussetzungen und Bedingungen für die Ausübung der Wahlfreiheit klar festgelegt. Das sind „neue Ansätze für Sicherheit und Zusammenarbeit“, „neues Verständnis von Sicherheit in Europa“, „neue Qualität der Beziehungen“ zwischen den Staaten aus Ost und West. Genau in diesem Kontext erklären die Unterzeichner der Charta „bekennen wir uns zum Recht der Staaten, ihre sicherheitspolitischen Dispositionen frei zu treffen“. Als Sie diese Frage stellten, haben Sie diesen Kontext nicht bedacht. Im Laufe vieler Jahre haben die westlichen Mächte die Ukraine beharrlich vor die Wahl gestellt: Entweder ist die Ukraine mit ihnen oder mit Russland. Dabei ließen sie nicht nur die Sicherheitsinteressen Russlands unberücksichtigt. Sie haben sich auch nicht mit Russland beraten, als ginge es Russland nichts an. Dies widerspricht sowohl dem Geist als auch den Buchstaben der Charta von Paris. In einer gereizten, bewusst angeheizten Atmosphäre können solche Probleme nicht gelöst werden. Vor 30 Jahren wurde durch die Bemühungen der Partnerländer aus Ost und West eine Atmosphäre des gegenseitigen Vertrauens geschaffen. Und nur so war es möglich, eine der schwierigsten internationalen Fragen friedlich zu lösen. Deutschland hat sich friedlich vereint.

Im Westen, insbesondere in Deutschland, genießen Sie größten Respekt wegen Ihrer Verdienste zur Beendigung des kalten Krieges und der Sicherung des Friedens in der Welt. Sind Sie überrascht oder enttäuscht, dass Ihr leidenschaftlicher Aufruf für Frieden und Freiheit im Westen kaum politische und publizistische Resonanz gefunden hat?

Gorbatschow: Vielen Dank für die freundlichen Worte, mit denen Sie Ihre Frage begonnen haben. Aber eigentlich ist das keine Frage an mich. Fragen Sie die Deutschen, die Politiker und Ihre Journalisten-Kollegen. Ich kann natürlich meine Überlegungen dazu darlegen. Erst kürzlich hat ein deutscher Professor einen Brief an die Gorbatschow-Stiftung geschickt. Er hat mein neues Buch gelesen, es hat ihn interessiert, aber er hat sich ebenfalls gewundert, dass es in Deutschland bisher nur sehr wenige Rezensionen dazu gibt. Seine Schlussfolgerung war, dass die Einschätzungen, die Gorbatschow heute dem Westen gibt, dem „Mainstream“ widersprechen, mit anderen Worten dem „Mainstream“ in der deutschen Presse und Politik. Da entsteht bei mir die Frage: Warum stellen sich die deutschen Medien plötzlich in einer Reihe auf und beginnen, in eine Richtung zu marschieren? Wissen Sie, ich sage immer, was ich denke. Wenn ich in meinem Heimatland Abweichungen von der Demokratie sehe, spreche ich das offen an. Aber wenn ich genauso offen über die inakzeptablen Zickzack-Bewegungen in der westlichen Politik spreche, dann scheint es jemandem in Ihrem Land nicht zu passen… Aber ich habe auch Belege für das Gegenteil. In den letzten Monaten, vor allem den letzten Wochen haben mich viele Medien um Interviews zum Jahrestag des Falls der Berliner Mauer und zur Veröffentlichung des Buches „Was jetzt auf dem Spiel steht“ gebeten. Ich gab vielen Personen Interviews, aber ich hatte nicht genug Zeit und Energie für alle. Ich wurde eingeladen, zu den Feierlichkeiten am 9. November nach Deutschland zu kommen – leider erlaubt es mir meine Gesundheit nicht. Eine Gruppe angesehener deutscher Politiker unter Leitung des ehemaligen Präsidenten Wulff kommt nach Moskau, um mich zu treffen. Ich erhielt einen sehr herzlichen und politisch wichtigen persönlichen Brief von Präsident Frank-Walter Steinmeier. Ich sehe dies als ein Zeichen der Aufmerksamkeit nicht nur für mich, sondern auch für das, was ich sage und fordere.

Was muss geschehen, damit der Bruderkrieg im Donbass endlich beendet wird?

Gorbatschow: Die Antwort ist einfach: Verhandlungen. Die akute Phase des Konflikts wurde durch Verhandlungen gestoppt, die letztlich zum Abschluss der Minsker Abkommen führten. Dies sind Kompromissvereinbarungen. Viele sind mit ihnen unzufrieden und kritisieren sie. Wir sollten sie aber nicht kritisieren, sondern darüber nachdenken, wie wir sie umsetzen können. Hier ist ein Beispiel: die sogenannte Steinmeier-Formel. Dies ist ein konkreter Vorschlag, wie man den festgefahrenen Prozess vorantreiben kann. Sie hat dazu geführt, dass der Dialog auf dieser Grundlage wieder aufgenommen wurde und der Rückzug der Truppen begonnen hat. Ich denke, dass der Dialog noch aktiver geführt werden sollte, um die Seiten zu motivieren, vernünftige Lösungen zu finden. Die Möglichkeiten dafür haben sowohl Deutschland wie auch die USA und andere Länder.