Berlin/Solingen. Ein Nazi-Netzwerk bedroht Cem Özdemir mit dem Tod. Das BKA nimmt die Gruppierung, der mehrere Morde zugeschrieben werden, sehr ernst.

Für Cem Özdemir ist es eine Ermutigung. Der vergangene Donnerstagabend im voll besetzten Theater der Messerstadt Solingen: Der Grünen-Politiker, einer der schneidigsten Redner im Bundestag, wird für seinen Kampf gegen Rassismus mit dem Preis „Die schärfste Klinge“ ausgezeichnet. Für seinen Kampf gegen Neonazis – und deren Netzwerke.

Kein Geringerer als Altbundespräsident Joachim Gauck hält die Laudatio auf den streitbaren anatolischen Schwaben. „Es kann nicht hingenommen werden, dass Hass und der Aufruf zu Gewalt ein normales Mittel der Politik wird“, sagt Gauck.

Was viele der Solinger Gäste nicht unbedingt mitbekommen, sind die Damen und Herren in den dunklen Anzügen, die den Politiker und das Publikum nicht aus den Augen lassen. Es sind Personenschützer des Bundeskriminalamtes. Özdemir ist in einer konkreten Bedrohungslage. Die „Atomwaffen Division Deutschland“ ist aufmerksam geworden.

Seit Özdemir mit Vehemenz immer wieder die autoritäre Politik des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan und den Völkermord an den Armeniern geißelte, ist er bereits zur Zielscheibe türkischer Fundamentalisten geworden. Nun werden auch Morddrohungen gegen Claudia Roth bekannt.

Aber auch deutsche Rechte haben ihn im Visier. Özdemir steht für gelungene Integration, Multikulti, Wirtschaftskompetenz. Bis 2018 war er fast zehn Jahre Grünen-Chef. Der Hass aus dem Netz ist für den gelernten Erzieher, zweifachen Familienvater und VfB-Stuttgart-Fan fast schon zur traurigen Routine geworden. Das Ausmaß, das ihm nun an Hass begegnet, ist neu.

Cem Özdemir von Nazi-Netzwerk bedroht – „auf Todesliste geschafft“

Cem Özdemir auf dem Weg zu einem Termin in Berlin. Der Grünen-Politikern wurde nun von Rechten mit dem Tod bedroht.
Cem Özdemir auf dem Weg zu einem Termin in Berlin. Der Grünen-Politikern wurde nun von Rechten mit dem Tod bedroht. © picture alliance / Paul Zinken/d | dpa Picture-Alliance / Paul Zinken

Am vergangenen Sonntag, der Tag der Landtagswahl in Thüringen, geht um 14.22 Uhr in seinem Bundestagsbüro eine spezielle E-Mail ein. Sie ragt aus der Flut der Hassbotschaften und Schmähungen in Wortwahl und Stil heraus. „Sehr geehrter Herr Özdemir, wir möchten auch nun Ihnen persönlich gratulieren. Auch Sie linke Türkensau haben es nun auf unsere Todesliste geschafft, wir heißen Sie herzlich willkommen“, beginnt das Schreiben, das unserer Redaktion vorliegt.

„Zurzeit sind wir am Planen wie und wann wir Sie hinrichten werden, bei der nächsten öffentlichen Kundgebung? Oder werden sie von uns vor ihrem Wohnort abfangen?“ Durch zahlreiche Attentate sollten „soviel Asylanten wie möglich“ ermordet werden, „um den Erhalt der arischen Rasse zu sichern“, heißt es in der Mail, in der gegen Juden und Muslime gehetzt wird. Unterzeichnet ist die Mail mit: „Atomwaffen Division Deutschland“. Der Absender verstärkt das mulmige Gefühl im Özdemir-Team, dass es sich bei dieser Mail um mehr als die üblichen Postings aus der rechten Szene handeln könnte.

In Ermittlerkreisen ist „Atomwaffen Division“ kein unbekanntes Label. Dabei handelt es sich um ein Neonazi-Netzwerk, das seit 2015 in den USA aktiv ist. Dort wird die in Internet-Videos paramilitärisch und mit Totenkopfmasken auftretende Gruppe nach Informationen der „New York Times“ mit fünf Tötungsdelikten und einem versuchten Anschlag auf ein Kraftwerk in Verbindung gebracht. Erklärtes Ziel von „Atomwaffen Division“ (AWD) ist es, mit Terror und Anschlägen das gesellschaftliche System zu zersetzen und einen „Rassenkrieg“ auszulösen.

• Kommentar: Drohungen wie die gegen Cem Özdemir gehen uns alle an

Dieser Screenshot aus einem Video der rechten Gruppierung zeigt Mitglieder der „Atomwaffen Division“.
Dieser Screenshot aus einem Video der rechten Gruppierung zeigt Mitglieder der „Atomwaffen Division“. © Screenshot AWD | Screenshot AWD

Neonazis drohen Özdemir – Mitglieder gehen äußerst konspirativ vor

Unklar ist, wie viele Mitglieder die Gruppe in den USA hat. Recherchen amerikanischer Extremismusforscher gehen von bis zu 80 aus, andere Quellen schätzen den harten Kern kleiner ein. Die Mitglieder sind in Zellen organisiert und gehen äußerst konspirativ vor. Ihre Kommunikation findet in geschlossenen Gruppen in Internet-Foren statt. Die Mitglieder verherrlichen neben Adolf Hitler rechtsextreme Terroristen wie den Oklahoma-Bomber Timothy McVeigh oder den norwegischen Massenmörder Anders Breivik.

Nach Angaben der „New York Times“ werden Mitglieder der „Atomwaffen Division“ unter anderem in Florida, Texas und Washington vermutet. Doch seit einiger Zeit gibt es Indizien, dass die Gruppe versucht, sich international auszudehnen. Nach Europa. Und nach Deutschland.

Im Juni 2018 wird auf einer US-amerikanischen Internetseite ein Video mit dem Titel „AWD Deutschland. Die Messer werden schon gewetzt!“ veröffentlicht. Ein Sprecher mit Totenkopfmaske grüßt die „Kameraden“ in den USA und ruft „Sieg Heil!“ In dem Video ist auch eine vermummte Person zu sehen, die mit einer AWD-Fahne vor der Wewelsburg in Büren (Nordrhein-Westfalen) steht, die im Nationalsozialismus von der Waffen-SS genutzt wurde.

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„Atomwaffen Division“ verteilt Flugblätter an Unis

Dann tauchen an deutschen Universitäten Flugblätter und Briefe der „Atomwaffen Division“ auf. So an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main, in der Berliner Humboldt-Universität und in der Kölner Keupstraße. Dort zündeten Mitglieder der rechtsextremen Mörderbande NSU eine Nagelbombe, die 22 Menschen zum Teil schwer verletzte. Mails, Flugblätter, was kommt als Nächstes? Wie konkret ist die Gefahr, die von „Atomwaffen“ ausgeht?

Özdemir leitet die Mail umgehend an das Bundeskriminalamt und die Polizei im Bundestag weiter. Ob der Personenschutz intensiviert worden ist, dazu gibt es keine Informationen. Auch auf einen Fragenkatalog unserer Redaktion geht das BKA nicht näher ein, hält aber fest: „Die Gefährdung durch extrem rechte und rechtsterroristische Gewalttaten in der Bundesrepublik Deutschland bleibt, auch nach der Ankündigung der Existenz eines deutschen Ablegers der AWD, unverändert auf einem abstrakt hohen Niveau.“ Anhaltspunkte, die darauf hindeuten, dass es sich bei der „Atomwaffen Division“ um eine terroristische Vereinigung handelt, hatten die Sicherheitsbehörden im vergangenen Sommer verneint.

Hängen Drohungen gegen Mohring und Özdemir zusammen?

Seit Monaten nun schwillt die Hasswelle gegen Politiker, Behörden und Journalisten aus der rechtsextremen Szene an. Dem Thüringer CDU-Spitzenkandidaten Mike Mohring wird am 19. Oktober in einer E-Mail gedroht, dass er niedergestochen oder eine Autobombe gezündet werde, falls er seinen Wahlkampf nicht abbreche. Unterzeichnet ist die Mail mit „Die Musiker des Staatsstreichorchesters“. In Sprache und Tenor weisen die Mails an Özdemir und Mohring gewisse Parallelen auf.

Sind es dieselben Absender? Handelt es sich womöglich um eine konzertierte Aktion? Die Ermittlungsbehörden schweigen – ­auch aus ermittlungstaktischen Gründen. Die „Atomwaffen Division“ ist aber auf dem Radar des Staatsschutzes. Mindestens einmal war die Gruppe Thema im „Gemeinsamen Extremismus- und Terrorismusabwehrzentrum“ der Sicherheitsbehörden in Berlin.

Hermann: Harte Reaktion des Staats notwendig

Bayerns Innenminister Joachim Herrmann hat die Todesdrohungen scharf verurteilt und eine harte Reaktion des Staates angemahnt. „Die hässlichen Drohungen mutmaßlicher Rechtsextremisten gegen Herrn Özdemir und Frau Roth sind unsäglich und ein Angriff auf die freiheitliche Demokratie insgesamt“, sagte der CSU-Politiker unserer Redaktion.

„Ich sage daher ganz klar: Einschüchterungsversuchen von Extremisten muss der Rechtsstaat seine vollste Härte entgegensetzen.“ Als Vorbild nannte er das Vorgehen in Bayern. Das Landesamt für Verfassungsschutz und die bayerische Polizei seien ‚mit robusten Befugnissen unter anderem zur Online-Durchsuchung und Quellen-Telekommunikationsüberwachung‘ ausgestattet worden, damit Polizei und Verfassungsschutz trotz zunehmender digitaler Verschlüsselungstechniken handlungsfähig blieben.

Gefühl, im Fadenkreuz zu stehen

Für Politiker wie Cem Özdemir, vor wenigen Wochen scheiterte er mit dem Comeback-Versuch, die Fraktionsspitze der Bundestagsgrünen zu erobern, ist das Gefühl, im Fadenkreuz möglicher Anschläge zu stehen, alles andere als abstrakt. In der Drohmail an ihn heißt es: „Herr Lübcke und Frau Recker (Henriette Reker, Anm. d. Red.) waren in Deutschland nicht die ersten Politiker, die durch rechtsextreme Helden erschossen oder abgestochen wurden. Vaterlandsverräter wie Lübcke, Recker und Sie werden wir jagen und hinrichten, genauso wie alle, die sich uns in den Weg stellen.“

Warum gehen Politiker wie Özdemir und Mohring mit Drohungen dieser Mails bewusst an die Öffentlichkeit? Kalkül vieler Rechtsextremisten wie Islamisten ist es, auch durch markige Drohschreiben Propaganda-Effekte in etablierten Medien sowie im Netz zu erzielen, um mögliche Sympathisanten anzusprechen und zu ermutigen. „Ich kann mich auf den Begleitschutz durch das BKA verlassen“, sagt Özdemir. „Doch was ist mit all den Kommunalpolitikerinnen und den ehrenamtlich Engagierten, die angefeindet werden und keinen Personenschutz haben?“

Wie können Politik, Gesellschaft, Digitalkonzerne verhindern, dass aus Worten Taten werden? Özdemir wünscht sich mehr Demokratiebildung und Vermittlung von Medienkompetenz. Es brauche Schwerpunktstaatsanwaltschaften und einfachere Wege für Betroffene, sich per Zivilklagen zu wehren.

Özdemir warnt vor faschistischem Trend in der AfD

Bei der Preisverleihung zeigt sich Joachim Gauck tief besorgt: „Wir müssen den Anfängen wehren“, mahnt der 79-jährige Theologe, ohne die AfD zu nennen. In vielen Ländern sei eine „Entmächtigung“ der Bürger durch „Verführer“ zu beobachten. Ängste dürften nicht geleugnet werden. Komplexe Zusammenhänge müssten deshalb so erklärt werden, dass alle sie verstehen könnten.

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Özdemir warnt in seiner Dankesrede, dass mit der AfD eine Partei im Bundestag vertreten sei, die „an die dunkelsten Zeiten der deutschen Geschichte“ erinnere. Die Transformation der AfD in eine „faschistische Partei“ vollziehe sich weiter: „Sie sind mitten unter uns. Sie sitzen in den Talkshows, sie stehen auf den Marktplätzen, vor allem aber reden sie in unseren Parlamenten.“

In Solingen wissen sie, wohin so etwas führen kann. Für immer wird mit dieser Stadt der rechtsextreme Anschlag vom 29. Mai 1993 verbunden sein, bei dem fünf türkischstämmige Bürger starben.