Dohuk. Flüchtlingsminister Joachim Stamp war im Irak, um sich ein Bild von der Lage zu machen. Dort hatte er Begegnungen, die ihn tief erschütterten.
Serap sitzt zusammengekauert in der Ecke des kleinen kargen Zimmers und erzählt mit tonloser Stimme von der Hölle, durch die sie in den vergangenen fünf Jahren gegangen ist. Von den Männern, die sie benutzten. Von der verschwundenen Schwester. Von ihrer Arbeit im IS-Geheimdienst, zu der sie gezwungen wurde. Von den Bildern im Kopf, die sie quälen. Neben ihr sitzt Joachim Stamp auf der dünnen Matratze und ringt mit der Fassung.
Mam Rashan in der Provinz Dohuk, kurdische Autonomieregion, eines von gut zwei Dutzend Flüchtlingscamps im Nordirak. Hier leben seit vier Jahren Menschen, die im Sommer 2014 vor dem Ansturm der Fanatiker des sogenannten „Islamischen Staates“ (IS) fliehen mussten, Angehörige der jesidischen Minderheit, die von den Terroristen besonders brutal unterdrückt wurde. Fast 9000 Flüchtlinge sind jetzt in Mam Rashan, und wenig spricht dafür, dass sie das Camp bald verlassen werden, obwohl das Terrorkalifat im Irak bereits seit zwei Jahren Geschichte ist.
Das Flüchtlingsdorf NRW ist zu einer kleinen Stadt geworden
Das Camp hat sich in den vergangenen Jahren zu einer kleinen Stadt entwickelt. Eine Bäckerei, einfache Ladenlokale, ein Fußballplatz, Schulen, eine Krankenstation, vieles davon finanziert mit Spenden aus Deutschland, auch aus Nordrhein-Westfalen. 500 Menschen leben in den Wohncontainern des „Flüchtlingsdorfs Ruhrgebiet/NRW“, dem Siedlungskern des Camps. In der Nähe hat die kurdische Regionalregierung kürzlich einen jesidischen Tempel bauen lassen, die Flüchtlinge haben Bäume gepflanzt. Sie haben sich darauf eingerichtet zu bleiben.
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Die Menschen leben in Wohncontainern, 30 Quadratmeter, zwei Zimmer, eine kleine Küche, Toilette. An diesem ungewöhnlich heißen Oktobertag sitzt der nordrhein-westfälische Flüchtlingsminister in einem dieser Container und lässt sich Seraps Geschichte erzählen, während vor der Tür Dutzende kurdische Offizielle warten. Joachim Stamp (FDP) ist gekommen, um sich ein „schonungsloses Bild“ der Lage vor Ort zu verschaffen. Das bekommt er.
Von Mann zu Mann weitergereicht
An der Wand des schmucklosen Zimmers hängt ein roter Teddybär, mit einem Herzen, Happy Valentines Day steht darauf. Brutaler könnte der Kontrast zu der Geschichte nicht sein, die Serap erzählt. Sie ist 17, stammt wie die allermeisten Flüchtlinge im Camp aus der Region Shingal im äußersten Nordwesten des Irak. Im August 2014 wurde sie von den IS-Fanatikern verschleppt, damals war sie 12. Sie wurde weitergereicht, von Mann zu Mann, von Stadt zu Stadt. Am Ende der letzten großen Schlacht des IS, im syrischen Baghus, konnte sie im Frühjahr von den kurdischen Selbstverteidigungseinheiten der YPG befreit werden. Im Juli landete sie schließlich in Mam Rashan, wo ihre Familie schon seit langem lebt.
Serap wirkt müde, sie nimmt starke Medikamente. Ihre Hände sind ineinander verkrampft, ihr Blick ist auf den Boden gerichtet. Ob sie einen Wunsch für die Zukunft habe, fragt der Minister aus Deutschland, er wirkt hilflos, er ist selber Vater von zwei Töchtern. Später, nach der Begegnung mit einer anderen vom IS entführten Frau, wird er sagen, dass man sich manchmal schäme, ein Mann zu sein.
Die junge Frau überlegt kurz. „Ich hätte gerne die Schule weitergemacht, aber das habe ich nicht geschafft.“ Sie kann sich nicht konzentrieren. Einer der Männer, die sie missbrauchten, zwang sie zur Arbeit beim Amniyat, dem Geheimdienst des IS. „Ich habe da Szenen gesehen, die nicht normal sind.“ Diese Bilder in ihrem Kopf überlagern die Realität. Ob sie sich vorstellen kann, in einem anderen Land zu leben? Sie lächelt schüchtern. „Ja, natürlich.“
Ein Flüchtling fragt: Wohin soll ich zurückkehren?
Ein anderer Flüchtling, ebenfalls aus Shingal, erzählt dem Minister bei einem Glas Tee, warum die Rückkehr in die Heimat für sie hier noch nicht vorstellbar ist. „Es gibt dort keine Stabilität, die Minen sind noch nicht geräumt, unsere Häuser sind zerstört, es gibt keine Infrastruktur. Wohin soll ich zurückkehren?“ Die irakische Regierung tue nichts, damit die Flüchtlinge zurückgehen können, wird später Farhad Atrushi, der Gouverneur der Provinz Dohuk, bei einem Gespräch mit Stamp erklären.
In Camp Mam Rashan zeigen sich wie unter einem Brennglas die Probleme der Region, aus der in den vergangenen Jahren Zehntausende Menschen nach Nordrhein-Westfalen gekommen sind. Rund 4600 Flüchtlinge aus dem Irak, die meisten aus dem Norden des Landes, gelten als ausreisepflichtig.
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Kann man sie in ein Land zurückschicken, in dem Minderheiten wie die Jesiden oder Christen noch immer unter Druck stehen und Angst vor der Zukunft haben, wie ihre Vertreter dem Minister aus Nordrhein-Westfalen berichten? In ein Land, das kaum in der Lage ist, jenen zu helfen, deren Seelen verwüstet worden sind? In eine Region, die jetzt, nach dem türkischen Überfall auf die syrischen Kurdengebiete von der vierten Flüchtlingswelle innerhalb kürzester Zeit überrollt wird?
Kurdischer Innenminister: Rücknahme von Flüchtlingen sehr schwierig
„Die Rücknahme von Flüchtlingen ist für die Region Kurdistan sehr schwierig“, erklärt der kurdische Innenminister Rebar Ahmed Khalid dem Besuch aus Deutschland in seinem Dienstsitz in Erbil, gut 100 Kilometer entfernt von Mam Rashan. Derzeit leben 1,1 Millionen Flüchtlinge in der Region, die in etwa so groß wie Nordrhein-Westfalen ist. Aktuell werden es täglich mehr. Khalid wirbt eindringlich für Unterstützung. „Das würde dazu beitragen, dass weniger Flüchtlinge das Land verlassen.“
Stamp beteuert in den Gesprächen, dass man helfen wolle. „Um die Rückkehr von Flüchtlingen zu ermöglichen und neue Fluchtursachen zu verhindern, müssen wir weiter in Stabilität und Perspektiven gerade in die Jugend investieren“, sagt er und verspricht, sich darüber mit dem Landeswirtschaftsminister auszutauschen. Wer Arbeitsplätze schafft, hilft, die Zukunft zu verbessern.
Stamp: Sie dürfen nicht wie Palästinenser über Jahrzehnte in Camps bleiben
Für die Jesiden und Christen müsse eine Doppelstrategie her: Zum einen die Ermöglichung eines menschenwürdigen Lebens in den Camps wie Mam Rashan. Zum anderen müssten Wege gefunden werden, die Menschen wieder in ihre angestammten Gebiete zurückzubringen oder sie in Kurdistan zu integrieren. „Diese Gruppen dürfen nicht wie die Palästinenser über Jahrzehnte in den Camps bleiben“, betont der Minister. Und Serap? „Wir müssen etwas für das Mädchen tun“, sagt Stamp. Ihr Schicksal, sagt der Minister, habe ihn tief berührt.
Am Ende seines Besuchs fährt der Flüchtlingsminister an einem anderen Camp vorbei. Es wird gerade wieder reaktiviert. Hier werden jetzt die neuen Flüchtlinge aus Syrien untergebracht. Das ist die schonungslose Realität in Kurdistan.