Berlin/Essen. Sicherheitsexperten erwarten nach dem Einmarsch der Türkei in Syrien auch Unruhen bei uns. Eine Demo in Herne legt die Bedrohung offen.

Im Norden Syriens schlagen Bomben ein. Das türkische Militär greift die autonome Region der Kurden an. Dahinter steckt ein Konflikt, der seit Jahrzehnten andauert. Mit dem neuen Krieg in Nordsyrien könnten auch in Deutschland die Spannungen zwischen Kurden und Anhängern der Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan zunehmen. In Herne in Nordrhein-Westfalen war es am Montag zu Tumulten bei Protesten von Kurden gekommen. Die Behörden nehmen die Lage ernst.

Was ist in Herne passiert?

Auf den Videos, die Anwohner und Teilnehmer drehten, sieht man eine aufgebrachte Masse vor einem türkischen Café. Rufe sind zu hören, Geschrei, etwas klirrt, etwas kracht. Die Aufnahmen sind undeutlich, aber ziemlich sicher rufen die Menschen in dem Aufmarsch: „Verdammt sei der Faschismus!“ Es ist ein Slogan, der seit Jahren unter Kurden und linken Türken verbreitet ist. Laut Polizei wurden fünf Menschen bei den Ausschreitungen vor einem türkischen Café und einem Kiosk in der Innenstadt von Herne verletzt.

Beobachtung: Polizeifahrzeuge stehen während einer Demonstration von Kurden an einer Bahnunterführung in Herne. Dort war es später zu Ausschreitungen gekommen.
Beobachtung: Polizeifahrzeuge stehen während einer Demonstration von Kurden an einer Bahnunterführung in Herne. Dort war es später zu Ausschreitungen gekommen. © dpa | Marcel Kusch

Rund 350 Menschen hatten sich zu einer angemeldeten Demonstration unter dem Motto „Hände weg von Rojava“ versammelt. Es seien ein Kiosk und ein türkisches Café von Demonstranten attackiert worden, hieß es. In dem Kiosk seien ein Mann und eine Frau verletzt worden, beide wurden in ein Krankenhaus gebracht. In dem türkischen Café seien eine Person und ein Polizeibeamter verletzt worden.

Nach Informationen unserer Redaktion geht die Polizei von Provokationen durch die Menschen in dem türkischen Café gegen die kurdische Demonstration aus. Dabei soll etwa der „Wolfsgruß“ in Richtung Kurden gezeigt worden sein. Es ist das Handzeichen der „Grauen Wölfe“, eine Gruppierung von türkischen Rechtsex­tremisten.

Was waren die größten Konflikte in Deutschland zwischen Kurden und Erdogan-Anhängern?

Fast drei Millionen Menschen in Deutschland kommen aus türkischen Familien, rund 1,2 Millionen sind geschätzt kurdischstämmig. In der Vergangenheit war es immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen türkischen Nationalisten und linken Kurden in Deutschland gekommen.

Immer wieder hatten Kurden auch von Deutschland aus seit Mitte der 1980er-Jahre die Autonomie der Kurden in der Türkei unterstützt – vielfach mit friedlichen Demonstrationen, in einigen Fällen aber auch durch Gewaltaktionen der von europäischen Behörden als Terrororganisation eingestuften PKK.

Viele Jahre lang war der Konflikt gerade in Deutschland jedoch kaum noch auf den Straßen zu spüren, Türken und Kurden lebten hier als Nachbarn. Dann brach der Syrien-Krieg aus.

Anfang 2018 hatte das türkische Militär mit einer wochenlangen Offensive die kurdische Region um Afrin in Nordsyrien besetzt. Es kam daraufhin zu Auseinandersetzungen in Deutschland. Die Polizeibehörden zählten in den ersten Monaten 2018 bereits 37 Übergriffe mutmaßlicher gewaltbereiter Kurden auf Moscheen oder türkische Restaurants.

Wie alarmiert sind die Sicherheitsbehörden?

Polizei und Verfassungsschutz sehen seit Jahren wachsende Spannungen zwischen Kurden und regierungstreuen Türken in Deutschland. Aktuell heißt es aus dem Bundesinnenministerium auf Nachfrage unserer Redaktion, die Sicherheitsbehörden würden „Mobilisierungsaktivitäten kurdischer und deutscher linker Organisationen“ verzeichnen. Mit zahlreichen Demonstrationen sei zu rechnen.

Aber das BMI sagt auch: „Eine Verschärfung der Gefährdungslage ist derzeit nicht erkennbar.“ Vieles hänge davon ab, wie lange die militärische Offensive der Türkei in den kurdischen Gebieten in Nordsyrien noch andauere. NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) geht davon aus, dass es in den kommenden Tagen zu weiteren Zusammenstößen wie in Herne kommt. „Es ist unerträglich, dass friedliche Demonstrationen so ausarten.“

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    In Deutschland nimmt vor allem unter jungen Menschen aus türkischstämmigen Familien sowie bei jungen Kurden die Politisierung zu – und damit die Konflikte gegen „den Feind“, heißt es in den Sicherheitsbehörden. 2018 bekannte sich ein linksextremistisches „Kommando Sema Orkês“ zu einem Farbbeutel-Anschlag auf die türkische Botschaft in Berlin. Auf der Gegenseite sieht der Verfassungsschutz eine hohe Zahl türkischer extremer Rechter.

    Auch rocker-ähnliche Gruppen, die klar auf der Seite Erdogans stehen und vom Verfassungsschutz beobachtet werden, sind eine Gefahr für Kurden in Deutschland. Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Annette Widmann-Mauz, hat Kurden und Türken aufgerufen, den Konflikt nicht nach Deutschland zu tragen. Sie erwarte „besonders von Migrantenorganisationen und Religionsgemeinschaften, Verantwortung zu übernehmen und zur Mäßigung beizutragen.“

    Wie reagieren die Kurden in Deutschland?

    Hinter den Ausschreitungen in Herne sehen die Kurden eine hohe Emotionalisierung auf beiden Seiten. „Bei den Kurden in Deutschland ist die Enttäuschung über den Verrat der Amerikaner in Nordsyrien groß. Sie haben Angst um ihre Verwandten in der Region und demons­trieren aus ihrer Verzweiflung heraus“, sagte Ali Ertan Toprak, Bundesvorsitzender der Kurdischen Gemeinde in Deutschland, unserer Redaktion.

    Auf Seiten der Türken beobachtet Toprak eine „nationalistische Emotionalisierung“. Die Türken würden von „gleichgeschalteten Medien ihres Landes permanent berieselt“. Die Gefahr von Provokationen bei Demonstrationen der Kurden sei sehr hoch. Insbesondere Jugendliche seien hierfür anfällig, so Toprak. „Vor diesem Hintergrund kann es ganz schnell zu Ausschreitungen kommen.“

    Beschädigte Fensterscheibe eines türkischen Cafés in Herne.
    Beschädigte Fensterscheibe eines türkischen Cafés in Herne. © dpa | Marcel Kusch

    Nach dem Einmarsch der Türken in Nordsyrien hat die Kurdische Gemeinde nach eigenen Angaben sofort alle Dachverbände und Vereine in Köln zusammengerufen. „Die erste Botschaft war: Lasst euch nicht provozieren. Reagiert nicht auf die Provokationen von türkisch-nationalistischer Seite“, betonte Toprak. „Wir kommunizieren die ganze Zeit gegenüber unseren Mitgliedern und allen kurdischen Vereinen: Wenn es zu Ausschreitungen kommt, wird es unserer Sache schaden.“

    Wie reagieren die Türken in Deutschland?

    Der türkische Botschafter in Deutschland, Ali Kemal Aydın, hat den Kurden eine erhöhte Gewaltbereitschaft vorgeworfen. Seit Beginn der türkischen Militäroffensive in Nordsyrien „beobachten wir bedauerlicherweise deutschlandweit einen Anstieg der gewalttätigen Demonstrationen und Anschläge durch PKK-nahe Elemente auf unsere Landsleute sowie ihre Einrichtungen und Geschäfte“, sagte Aydın unserer Redaktion. „Bisher sind Dutzende türkische Supermärkte, Cafés, Moscheen, Lokale und Sportclubs angegriffen und mindestens sechs türkische Staatsbürger verletzt worden.“

    Die türkische Gemeinde in Deutschland fühle sich dadurch bedroht. Die Botschaft rate den Türken, Ruhe zu bewahren und sich nicht provozieren zu lassen. „Gleichzeitig erwarten wir umgehend von den deutschen Bundes- und Landesbehörden erhöhte Sicherheitsmaßnahmen und größere Rücksicht für den Schutz des Lebens und Eigentums unserer Bürger.“

    Was macht die Wirtschaft?

    Die Türkei ist einer der wichtigsten Handelspartner für die deutsche Wirtschaft. Doch die Invasion der Türkei in Nordsyrien lässt die Unternehmen nicht kalt. So hat Volkswagen den Beschluss für eine neue Fabrik nahe Izmir verschoben. „Die Entscheidung für das neue Werk wurde vom Vorstand der Volkswagen AG vertagt“, teilte ein Konzernsprecher am Dienstag mit. Das Unternehmen beobachte die gegenwärtige Lage genau und blicke mit Sorge auf die derzeitige Entwicklung.

    Zuvor hieß es lange Zeit, dass man in finalen Verhandlungen sei. Vieles deutete darauf hin, dass sich die Türkei als Standort etwa gegen Bulgarien durchsetzen würde. Volkswagen will mehr als eine Milliarde Euro investieren, die Kapazität soll bei mehr als 300.000 Fahrzeugen jährlich liegen.