Der Überfall in Syrien birgt innenpolitischen Sprengstoff für die Türkei – und für Deutschland. Eine Eskalation muss unbedingt verhindert werden.
Die Präsidentschaftswahl im Sommer vergangenen Jahres hatte die Türkei gespalten, die Linie war klar gezogen: Entweder man unterstützte Staatspräsident Erdogan oder man war gegen ihn. Dieser Konflikt zog sich durch die Gesellschaft, durch die Familien, er belastete Eltern, Kinder, Ehepaare. Er wurde auch auf deutschen Straßen ausgetragen, vor allem in Nordrhein-Westfalen und Berlin.
Nach dem aktuellen Angriff auf die Kurden in Nordsyrien stehen die Türken vor einer erneuten Zerreißprobe – nur verlaufen die Fronten jetzt anders. Große Teile der türkischen Gesellschaft stehen traditionell hinter dem Militär. Ob ein Einsatz richtig oder falsch oder gar völkerrechtswidrig ist, spielt da nur eine untergeordnete Rolle. Kriegseinsätze führen zum Schulterschluss, stärken den Präsidenten und lassen sogar Fußballer nach Torerfolgen auf dem Spielfeld salutieren – ein absurdes Schauspiel.
Die Stimmung ist vergiftet
Trotz dieser Nähe zu den eigenen Soldaten birgt der Überfall in Nordsyrien innenpolitischen Sprengstoff für die Türkei – und für Deutschland. Denn schnell wird sich dieser emotionale und aggressive Konflikt erneut auch auf deutsche Straßen verlagern, Sicherheitsdienste und Polizei sind alarmiert. Im Ruhrgebiet gab es bereits erste Auseinandersetzungen zwischen Türken und Kurden mit mehreren Verletzten, darunter ein Polizeibeamter. Die Stimmung ist vergiftet. Auf beiden Seiten gebe es Hardcore-Nationalisten, heißt es aus dem Zentrum für Türkeistudien in Essen.
In Deutschland leben gut drei Millionen Türken, hunderttausende von ihnen sind kurdischer Herkunft. Was die Lage zusätzlich gefährlich macht, sind Hilflosigkeit, Frust und Verzweiflung der Kurden. Sie stehen mit dem Rücken zur Wand. Sie werden von US-Präsident Trump, von Europa, auch von den Deutschen im Stich gelassen. Sie waren gut genug, dem Westen die Terroristen des selbsternannten Islamischen Staates vom Hals zu halten, aber jetzt werden sie fallengelassen. Ja, der Westen treibt sie geradezu in die blutigen Hände des syrischen Machthabers Assad, mit dem sie sich verbünden müssen, um überhaupt eine Überlebenschance zu haben.
Gemäßigte und Radikale rücken zusammen
Das belastet jeden Kurden in Deutschland, den Sympathisanten der verbotenen Kurdenorganisation PKK ebenso wir den kurdisch-stämmigen Kioskbesitzer um die Ecke. Sie alle haben Angst um ihr Volk, um Familienangehörige. Angst vor einem Massaker an den Kurden. Angesichts der ersten Kriegstage im Nordsyrien spricht vieles dafür, dass diese Angst berechtigt ist.
Das führt zu neuen Koalitionen. Gemäßigte und radikale Kurden, die sonst nicht viel gemein haben, rücken auch in Deutschland enger zusammen. Die Feindbilder sind klar: Hier der Türke, dort der Kurde. Eine Lage, die in den deutschen Metropolen mit hohem türkisch-stämmigen Anteil explosiv ist, zumal sich der Hass verstärken wird, je mehr Foto und Videos von Gräueltaten aus Syrien auftauchen.
Eine Lösung ist nicht in Sicht, zumal der Westen bisher versagt: US-Präsident Trump ist sprunghaft wie immer, die Kritik der Europäer an der Türkei kommt halbherzig, weil Erdogan mit der Kündigung des Flüchtlingspakts droht. Den Kurden bleibt nur noch Syriens Machthaber Assad als Verbündeter, der wiederum von Russlands Präsident Putin unterstützt wird. Angesichts dieser Gemengelage besteht die Gefahr, dass neben den vielen Toten in Syrien bald auch erste Opfer in Deutschland zu beklagen sind. Die Sicherheitsbehörden müssen alles tun, um dies zu verhindern. Die Botschaft ist klar: keine Stellvertreterkriege auf deutschen Straßen!