London/Brüssel/Berlin. Das britische Parlament ist in der Zwangspause, die Zeit bis zum 31. Oktober läuft unerbitterlich ab. In Europa herrscht Ratlosigkeit.
Trotz des Gesetzes gegen einen No-Deal-Brexit schließt der britische Premier Boris Johnson eine Brexit-Verschiebung weiter aus. Das britische Parlament schickte er in eine Zwangspause. Wie geht es nun weiter in London, Brüssel und Berlin?
London: Bevor für die Abgeordneten am frühen Dienstagmorgen der Zwangsurlaub begann, verabreichten sie Boris Johnson noch eine schallende Ohrfeige. Das Unterhaus lehnte den Antrag der britischen Regierung auf vorgezogene Neuwahlen ab. Es war die sechste Niederlage in Folge. Einen schlechteren Start legte noch kein Premierminister hin. Zum Ende der Sitzung kam es dann auch noch zu turbulenten Szenen im Unterhaus.
Oppositionspolitiker hielten selbst gemalte Schilder hoch: „Zum Schweigen gebracht“. Sie schrien ihre Kollegen von der Regierungsfraktion der Konservativen an: „Schande über euch!“. Parlamentspräsident John Bercow wurde daran gehindert, seinen Sitz zu verlassen. Es half alles nichts. Das britische Parlament wird jetzt bis zum 14. Oktober nicht angehört werden. Und es ist nicht mehr lang hin bis zum Austrittsdatum 31. Oktober. Johnson steht vor einem Scherbenhaufen. Neuwahlen könnten frühestens Ende November stattfinden.
Der Labour-Chef Jeremy Corbyn überlegt, Ende Oktober das legislative Programm der Regierung abzulehnen und dann ein Misstrauensvotum zu stellen. Da Johnson keine Mehrheit mehr hat, dürfte es erfolgreich sein. Die Liberaldemokraten erklärten, in die kommende Wahl mit einem Bekenntnis zur Rücknahme der Brexit-Entscheidung gehen zu wollen. Zudem trat nun das Gesetz in Kraft, das einen No-Deal-Brexit verhindern soll und den Premier anweist, eine dreimonatige Fristverlängerung bei der EU zu beantragen, wenn kein Austrittsvertrag vereinbart ist.
Johnson lehnt das ab, eher wolle er „tot im Graben liegen“. Das Königreich müsse unter allen Umständen die EU zu Halloween verlassen. Aber da er, falls es keinen Deal gibt, zu einer Verlängerung rechtlich verpflichtet ist, wird über abenteuerliche Lösungen spekuliert. Er könnte zurücktreten und Oppositionsführer Corbyn zum Canossagang verpflichten. Er könnte das Gesetz ignorieren oder gerichtlich anfechten. Er könnte die EU bitten, seinen Antrag abzulehnen. Sogar über die Ausrufung eines nationalen Notstands wird nachgedacht. Doch all dies dürfte vor Gericht keinen Bestand haben.
EU bereitet sich mit Hilfsfonds auf den No-Deal-Brexit vor
Brüssel: In der EU ist die Enttäuschung groß, dass Johnson seinen großspurigen Ankündigungen, Alternativen zur umstrittenen Backstop-Regelung im Austrittsvertrag vorzulegen, keine Taten folgen ließ. Mehr noch: Johnsons Unterhändler kassierten in den Gesprächen zuletzt auch Zusagen, die seine Vorgängerin Theresa May über die Ausgestaltung der künftigen Beziehungen schon gegeben hatte. EU-Diplomaten sprechen jetzt offen von „wachsender Frustration“ – und nehmen damit in Kauf, dass Johnson im eigenen Land als Lügner dasteht, weil er weiterhin behauptet, es gebe Fortschritte bei den Gesprächen mit der EU.
Klar ist für Brüssel: An der Garantieklausel für eine offene Grenze auf der irischen Insel, die Johnson ablehnt, wollen die Mitgliedstaaten auf keinen Fall rütteln. Wie unter diesen Bedingungen doch noch bis zum EU-Gipfel Mitte Oktober ein Durchbruch erzielt werden soll, der es zuließe, dass das Austrittsabkommen vom britischen Parlament ratifiziert würde, ist Beteiligten in der EU-Kommission ein Rätsel.
Beim Festhalten am
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geht es nicht nur um den Schulterschluss mit EU-Mitglied Irland; in der EU ist die Befürchtung weitverbreitet, ohne eine solche Garantieklausel sei der
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Aus Brüsseler Sicht ist die Wahrscheinlichkeit eines No-Deal-Brexits ohne Vertrag in den vergangenen Tagen massiv gestiegen. Mittlerweile wird dies als wohl nur
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gehandelt. Die EU-Kommission hat ihre Vorbereitungen darauf noch verstärkt. Die Kommission appellierte noch mal an die Mitgliedstaaten und die Wirtschaft, sich auf das gefürchtete No-Deal-Szenario vorzubereiten.
Geplant ist ein EU-Hilfsfonds von bis zu 780 Millionen Euro, aus dem in besonders hart vom Brexit betroffenen Mitgliedstaaten Unternehmer und Arbeitnehmer unterstützt werden sollen. Indes: „Vieles lässt sich jetzt vorbereiten, aber nicht alles“, stöhnt ein an den Verhandlungen beteiligter Kommissionsbeamter. Wie Brüssel in den Nervenkrieg mit London ziehen soll, den Johnson ganz offenbar für die letzten zehn Oktobertage plant, ist bislang nicht geklärt.
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Bundesregierung blickt nüchtern nach London
Berlin: Auch im Kanzleramt ist man skeptisch, ob ein EU-Austritt der Briten ohne Deal noch verhindert werden kann – trotz des neuen Gesetzes. Das Auftreten von Johnson führt jedenfalls nicht dazu, das Vertrauen zu stärken. Regierungssprecher Steffen Seibert sagte neulich fast lakonisch: „Die Bundesregierung beobachtet die Abläufe im britischen Parlament mit Interesse.“ Doch im Hintergrund bereiteten sich Regierung und Ministerien auf einen harten Ausstieg der Briten vor.