Spitzkunnersdorf. Im Landtagswahlkampf besucht AfD-Chef Gauland die ostsächsische Provinz und macht so Ministerpräsident Kretschmer das Leben schwer.

Als nach gut eineinhalb Stunden die Oberlausitzer Fahne droht, sich endgültig aus ihrer Befestigung zu lösen und ohne großes Zeremoniell zu Boden zu segeln, fühlt es sich an wie die logische Konsequenz aus allem, was vorher gesagt wurde.

Einen ganzen Abend lang hatten die drei AfD-Politiker auf der Bühne, über der die Fahne hing, erzählt, wie schlimm es ihrer Meinung nach um Deutschland im Allgemeinen und Sachsen im Speziellen steht: Freibäder sind nicht mehr sicher, Windräder schreddern die sächsische Vogelpopulation, an den Schulen lernen die Kinder nicht einmal mehr Lesen und Schreiben. Kurz: Das Land geht vor die Hunde. Und die leuchtend blau-gelbe Oberlausitzer Fahne, die würde, wenn all das zutreffen würde, im Staub landen.

AfD-Chef Alexander Gauland auf Stimmenfang in Sachsen

Die Beweislage für alle diese Thesen ist, vorsichtig ausgedrückt, dünn. Aber das macht nichts, die guten Prognosen für die AfD belegen: Man glaubt ihnen trotzdem. Denn die dort vorn auf dem Podium inszenieren sich als diejenigen, die den angedrohten Niedergang des Landes Sachsen stoppen können. Wie zur Illustration steht Tino Chrupalla, direkt gewählter Bundestagsabgeordneter der Partei für den Wahlkreis Görlitz, von seinem Stuhl auf der Bühne kurz auf, zupft die Fahne den letzten Rest aus ihrer Haltung und rettet sie vor einem allzu unwürdigen Abgang.

AfD-Chef Alexander Gauland beim Wahlkampf in Sachsen: Am 1. September wird ein neuer Landtag gewählt.
AfD-Chef Alexander Gauland beim Wahlkampf in Sachsen: Am 1. September wird ein neuer Landtag gewählt. © dpa | Kay Nietfeld

Spitzkunnersdorf im östlichsten Zipfel Sachsens, an einem verregneten Dienstagabend. Nach Untergang sieht es hier nicht aus. Entlang der Hauptstraße reihen sich schmucke Einfamilienhäuser mit Gärten, dazwischen eine gepflegte Barockkirche. Der Sportverein wirbt mit einem großen Transparent für das Fußballtraining für Mädchen. Sechs Wahlplakate hängen an der Hauptstraße, vier davon von der AfD, allein drei, die den Wahlkampf-Termin mit Parteichef Alexander Gauland, Tino Chrupalla und dem lokalen Direktkandidaten bewerben.

Rund 200 Menschen sitzen an diesem Abend auf Polsterstühlen, die bessere Tage gesehen haben, vor ihren Bierkrügen im Saal des Gasthauses. Auf einem der Plakate, die die Partei im Saal verteilt hat, wirbt die AfD mit einer jungen Frau, die pink gefärbte Haare hat. Doch Frauen gibt es hier nur vereinzelt, und unter den Haarfarben kommt zuerst silbergrau und dann lange nichts.

AfD-Erfolge in einer Gegend, die einmal CDU-Kernland war

Dass es mit Gauland und Chrupalla, der als sein möglicher Nachfolger gehandelt wird, gleich zwei prominente Namen der Partei im sächsischen Wahlkampf hierher verschlagen hat, ist kein Zufall: Es ist ein Angriff auf eine Gegend, die einmal Kernland der sächsischen CDU war. Es auch ein Angriff auf Ministerpräsident Michael Kretschmer, Galionsfigur der Christdemokraten im Osten und erklärter Gegner der AfD.

Hintergrund:

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Spitzkunnersdorf ist Teil des Landkreis‘ Görlitz, rund 40 Kilometer von Kretschmers Heimatstadt entfernt. Der 44-Jährige hat hier schon einmal verloren. 2017 war das, bei der Bundestagswahl. Da ging der Wahlkreis Görlitz, den er seit 2002 viermal direkt gewonnen hatte, plötzlich an die AfD, genauer: An eben jenen Tino Chrupalla, der an jenem Abend den Bewahrer der Flagge gibt.

Einen Platz auf der Landesliste hatte Kretschmer nicht, der Sitz im Parlament war weg. Dem Rest der CDU in Sachsen ging es kaum besser. Am Ende nahm Stanislaw Tillich, damaliger Landesvater, deswegen seinen Hut – und Kretschmer rückte in die Staatskanzlei auf, ohne je als Regierungschef gewählt worden zu sein. Wenn der Ministerpräsident jetzt auch den Landtagswahlkreis verliere, stichelt deshalb Chrupalla, könne es sein, dass die CDU ihn am Ende zum Kanzler macht.

Hintergrund:

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Ministerpräsident Kretschmer steht für Abgrenzung zur AfD

Während Kretschmer als nächster Kanzler eher unwahrscheinlich ist, ist eine Niederlage im Wahlkreis nicht ausgeschlossen. Denn sein Gegner heißt Sebastian Wippel und wäre im Juni fast Oberbürgermeister der Stadt geworden. Nur mit der zähneknirschenden Unterstützung von SPD, Grünen und Linken gelang es damals, den CDU-Kandidaten im zweiten Wahlgang ins Rathaus zu bringen und Wippel zu verhindern.

Sollte Kretschmer das Direktmandat verlieren, könnte es innerparteilich eng werden für den Ministerpräsidenten. Und dann? Aus dem Adenauer-Haus heißt die Ansage klar, keine Zusammenarbeit mit der AfD, in keiner Form. Auch Kretschmer hat das immer wieder betont. Doch wird dieses „Nein“ halten, wenn er weg sein sollte und – wie zuletzt bei der Europawahl – in manchen Landstrichen in Sachsen jeder Dritte die AfD wählt?

Wenn schon in den letzten Jahren manche in der zweiten und dritten Reihe der sächsischen CDU manche laut drüber nachgedacht haben, dass man mit denen doch zumindest reden müsse, bevor sie öffentlichkeitswirksam zurückgepfiffen wurden? Wenn der einzige Weg an der AfD vorbei über eine Drei- oder gar Vier-Parteien-Koalition führt, mit den Grünen, von denen sie in Sachsen so viel weiter entfernt sind als in Berlin? Ein neuer sächsischer Parteichef könnte für viel Unfrieden sorgen zwischen dem Landesverband und der Bundes-CDU.

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Kretschmer weiß, wie viel auf dem Spiel steht

Kretschmer weiß, was hier auf dem Spiel steht für seine Partei. Schon seit Beginn seiner Amtszeit, so scheint es, versucht er deshalb, die Tage auf mehr als 24 Stunden auszudehnen, nur um sie mit Auftritten zu füllen. Im Endspurt des Wahlkampfs hat er noch einmal einen Gang hochgeschaltet – 80 Termine in allen 60 Wahlkreisen sind es den letzten sechs Wochen vor dem Wahltag.

In allen Ecken des Freistaats schüttelt Kretschmer Hände, stellt sich Fragen von Bürgern, grillt Würstchen. Alles mit dem Ziel, nicht derjenige zu sein, in dessen Amtszeit die CDU das Ministerpräsidentenamt verliert, das sie in Sachsen immer hatte. Glaubt man den jüngsten Umfragen, kann er damit Erfolg haben. Die CDU liegt im Freistaat derzeit vor der AfD, groß ist der Vorsprung aber nicht.

Landtagswahl Sachsen:

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Die Oberlausitz war eine von diesen Regionen, in denen die AfD im Mai auf mehr als 30 Prozent kam, während sie bundesweit 11 Prozent holte. Hört man sich in Spitzkunnersdorf um, fällt es nicht schwer, zu glauben, dass die Partei das bei den Landtagswahlen wiederholen kann. Zwar wird auch über den Takt von Regionalzügen gesprochen und über Energiepolitik.

Doch den richtig großen Applaus, den gibt es anderen Stellen: Wenn Direktkandidat Siegert zum Beispiel sagt, eine mögliche CO2-Steuer sei nur dazu da, Flüchtlinge zu finanzieren. Oder wenn Gauland über die zwei Leipziger Kitas spricht, die Schweinefleisch vom Speiseplan nehmen wollten und dabei erklärt, wenn sich jemand daran störe, dass Schweinefleisch serviert wird, „dann soll er sich eine andere Kita oder vielleicht besser ein ganz anderes Land suchen“. Dass es bei einer möglichen CO2-Steuer um Klimaschutz gehen soll, dass die Kitas die Entscheidung längst revidiert haben – egal.

Interview:

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Von Kerstin Münstermann, Miguel Sanches und Jörg Quoos

Die AfD-Politiker Tino Chrupalla (l.) und Alexander Gauland machten am Dienstagabend Wahlkampf im ostsächsischen Spitzkunnersdorf.
Die AfD-Politiker Tino Chrupalla (l.) und Alexander Gauland machten am Dienstagabend Wahlkampf im ostsächsischen Spitzkunnersdorf. © dpa | Kay Nietfeld

Chrupalla hofft auf Revolte gegen Kretschmer

Der Abend ist schon fast vorbei, als ein Herr im karierten Hemd aufsteht, um eine Frage zu stellen. Wenn die AfD bei der Landtagswahl zwar viele Stimmen bekommt, aber eben nicht genug, um zu regieren: Ob man sich da schon Gedanken gemacht habe, welche Partei in Frage kommt für eine Zusammenarbeit? Tino Chrupalla, der Mann, der Kretschmer seinen Sitz im Bundestag abnahm, lächelt. Wie es weitergeht, hänge von der CDU ab, sagt er. Vielleicht gebe es eine „Palastrevolution“ gegen Kretschmer, „was wir alle hoffen“. Vielleicht brauche man aber auch noch „ein, zwei Jahre Durchhaltevermögen“, bis man in die Regierung komme. Doch egal welche Regierung die CDU am Ende vielleicht bilde – „die wird keine fünf Jahre stabil halten, da bin ich fest überzeugt.“