Berlin. Nach nur 14 Monaten tritt Andrea Nahles, die erste Frau an der SPD-Spitze, zurück. Sie hat Fehler gemacht. Aber sie wurde auch gemobbt.
Es sind 221 Wörter, die vermitteln, wie groß der Schmerz, die Wut und die Resignation bei Andrea Nahles sein müssen. „Ich hoffe sehr, dass es Euch gelingt, Vertrauen und gegenseitigen Respekt wieder zu stärken und so Personen zu finden, die ihr aus ganzer Kraft unterstützen könnt.“ In ihrer Abschiedsmail, die am frühen Sonntagmorgen an alle rund 450.000 Parteimitglieder in der Republik verschickt wird, schreibt sie bereits von „ihr“ und „Euch“.
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Sie zieht sich komplett aus der Politik zurück und wird bald ihr Bundestagsmandat niederlegen. Was das emotional für ein „political animal“ wie sie bedeutet, ist kaum zu erahnen.
Sigmar Gabriel, den sie gemeinsam mit Olaf Scholz nach der Bundestagswahl kaltstellte und der seitdem auf Rache aus war, ist das beste Beispiel, wie sehr der Macht- und Bedeutungsverlust Spitzenpolitikern nach dem Karriere-Aus zu schaffen macht. Fast schon zynisch wirkt Gabriels’ Einwurf, die SPD brauche nach Nahles’ Rücktritt nun eine „Entgiftung“.
Andrea Nahles – die letzten Tage waren toxisch
Aufrichtig ist daran nur die Analyse, dass das Klima in der SPD in den vergangenen Tagen für Nahles toxisch war. Was die 48-Jährige am Mittwoch in den Sitzungen der Bundestagsfraktion an Häme und Kritik zu hören bekam, traf selbst eine hartgesottene Strippenzieherin, die einst Franz Müntefering zu Fall gebracht hatte und als Arbeitsministerin sich viel Respekt erwarb, im Innersten. Auf Bildern war zu sehen, wie Nahles zeitweise ins Nichts starrte, an ihren Nägeln kaute und betroffen schwieg.
Da spürte sie bereits, dass sie bei der von ihr selbst gewollten und
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vermutlich keine oder nur eine sehr dünne Mehrheit bekommen hätte.
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als sie den Fraktionsvorsitz nach der Bundestagswahl übernahm. Die Ironie war nicht verstanden worden.
Andrea Nahles wollte die Machtprobe – und verschätzte sich
Die Vertrauensfrage am Dienstag sollte ein Befreiungsschlag werden. Sie wollte ihre Gegner stellen, das „Gemurmel“ verstummen lassen, Ruhe haben bis zu den Ostwahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen und bis zum Parteitag im Dezember, wo ihre Wiederwahl als Vorsitzende angestanden hätte. Nahles ging volles Risiko. Wie zu alten Juso-Zeiten. 50 Prozent plus eins.
Sie verschätzte sich. Wieder einmal. Wie in der Maaßen-Affäre. Im Herbst 2018 kam sie aus dem Kanzleramt heraus und glaubte, viel für die SPD herausgeholt zu haben. Nämlich den Rückzug des untragbar gewordenen Geheimdienstchefs Hans-Georg Maaßen. Völlig entgeistert angesichts des Tsunamis in der Öffentlichkeit und an der SPD-Basis musste Nahles gemeinsam mit der Kanzlerin und Innenminister Horst Seehofer die Entscheidung revidieren,
der für Maaßen weichen sollte.
Es war ein kollektiver Fehler der drei Parteivorsitzenden. Im Grunde genommen verspielte aber Nahles da bereits den letzten Kredit, den ihr viele Genossen zähneknirschend beim Gang in die ungeliebte Neuauflage der großen Koalition zugebilligt hatten. Der Satz „Die kann es nicht“ fiel nach Maaßen in fast jedem Ortsverein. Von diesem Autoritätsverlust hat sich Nahles nie erholt.
„Bätschi“ und „Fresse“ – Andrea Nahles’ Entgleisungen
Dazu kamen ihre „speziellen“ öffentlichen Auftritte. Sehr oft legten ihre Berater ihr den Spruch ans Herz gelegt: „Don’t sing, don’t dance.“ Nicht singen, nicht tanzen. Nahles tat es trotzdem. Zum einen, weil sie eine Frohnatur ist. Zum anderen, weil sie ihre Aufregung, ihre Impulse trotz der vielen Jahre im Rampenlicht nicht wirklich kontrollieren kann.
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Das führte immer wieder zu vulgär wirkenden
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Beim politischen Aschermittwoch in Suhl trällerte sie „Humba humba humba tätäräää“, „Wollibolli“ und „Mindestlohniii“. Beim Wahlkampfabschluss der SPD zwei Tage vor der Abstimmung in Bremen ruderte sie wild mit den Armen und sagte einiges, was man peinlich finden kann oder auch nicht.
Florian Post, der eigentlich kein brauchbarer Kronzeuge für eine Bewertung von Nahles ist, weil sie ihn wegen Illoyalität in der Fraktion degradierte und er unter Kollegen als willfährige Marionette von Gabriel verschrien ist, sprach einen Satz aus, den man in Variationen in den vergangenen Tagen öfters gehört hat: „Über Sigmar Gabriel – oder andere Parteivorsitzende – haben wir uns oft geärgert, aber wir haben uns nie für sie geschämt.“
Andrea Nahles wurde auch zum Mobbing-Opfer
Ein Grund, warum die SPD in der Wählergunst so stark gesunken ist, dürfte – neben der programmatischen Schwäche, der Sprachlosigkeit in Klimafragen, der anhaltenden Hartz-IV-Verwerfungen – in Sätzen wie diesen zu finden sein. Nahles, die qua Amt mächtigste Frau der SPD, wurde letztlich auch zu einem Mobbing-Opfer.
Die Unsolidarität, das Intrigantentum in der Sozialdemokratie nahm zuletzt Ausmaße an, die an die Zustände in der alten FDP erinnerten, die 2013 im Rauswurf der Liberalen aus dem Bundestag gipfelten. Soweit ist die SPD (noch) nicht. Aber die 10 Prozent rücken in Sichtweite. Bei der Europawahl verlor die Partei 1,3 Millionen Wähler an die Grünen.
Über zwei Millionen Deutsche, die bei der Bundestagswahl noch SPD ankreuzten, blieben zu Hause. Was sollen diese Bürger über eine Partei denken, die nach einem
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nicht demütig eigene Fehler einräumt und sich zum Beispiel auf ihren Markenkern als Arbeiter- und Fortschrittspartei in digitalen Zeiten besinnt, sondern nichts Besseres zutun hat, als die von der eigenen Vorsitzende leichtfertig angezettelte Personaldebatte in eine Schlammschlacht epischen Ausmaßes zu verwandeln?
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Die älteste deutsche Partei wirkt entkernt. Verloren. In
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verschlissen die Sozialdemokraten neun Vorsitzende. Nahles ist jetzt die Nummer 10 – und wer weiß, vielleicht folgt
bald nach.
Die Vorsitzenden der SPD seit 1946
Unter Andrea Nahles sackte die SPD in Umfragen immer weiter ab
Vielleicht wurde Nahles nicht nur zum Verhängnis, dass die SPD in den nur 14 Monaten ihrer Führung unter ihrer Umfragen immer weiter absackte, eine Wahl nach der anderen verloren ging. „Ein Mann wäre nie so hart angegangen worden wie sie“, sagte unlängst eine Bundesministerin.
Vor ein paar Monaten gründete Nahles mit Abgeordneten von CDU und FDP im Bundestag den „Parlamentskreis Pferd“. Etliche Genossen zerrissen sich das Maul. Wie könne Nahles, die nach einem schweren Sportunfall in der Jugend aus therapeutischen Gründen zum Reiten kam, mitten in der Existenzkrise der SPD sich um Pferde kümmern? Hätte ein Mann einen Jürgen-Klopp-Fanclub gegründet, hätte es Freibier gegeben. Nahles kaute lange auf der Sache herum. „Ich war persönlich wirklich verstört. Richtig verstört.“ Ihre Erklärung war, dass eine Frau hoch zu Ross für viele Männer wohl das Sinnbild maximaler Bedrohung sei.
Schon immer schüchterte sie viele ein. Groß, kräftig, tiefe Stimme, laute Klappe, Landei, autoritär. Und sie nahm mächtigen SPD-Männern die Spitzenjobs weg. Das Versprechen, in dieser großen Koalition werde die Partei nicht unter Räder kommen, konnte Nahles nicht einlösen. Verantwortung dafür tragen in der SPD auch viele andere.
Nahles’ wird sich auf einen Bauernhof zurückziehen
Nun hat sie selbst alles verloren.
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oft beschrieben worden war, verlässt die große Bühne einer in Trümmern liegenden Volkspartei. Nahles wird den Übergang noch begleiten – die rheinland-pfälzische Ministerpräsident Malu Dreyer oder ihre Amtskollegin in Mecklenburg-Vorpommern, Manuela Schwesig, werden voraussichtlich den Vorsitz fürs erste übernehmen.
Dann wird Nahles sich auf ihren Bauernhof in Weiler zurückziehen. In dem Bruchsteinhaus lebten bereits ihre Großeltern. Verwandte und Freunde in dem 500-Seelen-Dorf in der Vulkaneifel werden sie auffangen. Ihre Tochter Ella, die Nahles nach der Trennung vom Vater allein und mit Hilfe ihrer eigenen Mutter erzieht, wird menschlich gesehen die einzige große Gewinnerin dieser sozialdemokratischen Chaostage sein. Die Achtjährige bekommt eine Mutter zurück, die sich aufgerieben hat.
Für die SPD. Und für das Land.