Brüssel. Die Mehrheit von Christ- und Sozialdemokraten ist dahin. Für den EVP-Spitzenkandidaten wird es schwer, Kommissionspräsident zu werden.
Es ist eine Zäsur für die europäische Politik, ein Beben für das Europäische Parlament. Die Wahllokale haben noch gar nicht überall in der EU geschlossen, da ist schon klar, dass sich die Machtverhältnisse in der Herzkammer der europäischen Demokratie verschoben haben – auch dank einer allseits begrüßten gestiegenen Wahlbeteiligung.
Mit weit reichenden Folgen: Die Rechtspopulisten legen zu, auch wenn sie weit von einer Mehrheit oder einer Blockademacht im Parlament entfernt sind. Und: Die Vormacht der beiden großen Parteien von Christdemokraten (EVP) und Sozialdemokraten (S&D) ist nach vier Jahrzehnten zu Ende –
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Europawahl-Ergebnis ist Erschütterung, keine Revolution
Die Großen haben zum ersten Mal seit der Direktwahl-Premiere des EU-Parlaments 1979 zusammen keine absolute Mehrheit mehr. Die Zeiten einer informellen großen Koalition in Brüssel und Straßburg sind endgültig vorbei. Eine Erschütterung, keine Revolution.
In den vergangenen zwei Jahren war die Zusammenarbeit von EVP und S&D ohnehin schon brüchig geworden. Jetzt wird die Suche nach Mehrheiten richtig kompliziert. Die beiden Großen müssen mindestens entweder die auf Platz drei erstarkten Liberalen ins gemeinsame Boot holen oder die Grünen – sicherheitshalber wohl besser beide.
Europaparlament steht ein ungekannt harter Machtkampf bevor
Welche Rolle die Linke spielt, ist noch offen. Der rechte Rand wird stärker, in der politischen Mitte wird es enger: Für die Brüsseler Gesetzgebungsmaschinerie brechen unruhige Zeiten an. Aber erstmal steht nun gleich zu Beginn ein ungewöhnlich harter Machtkampf bevor, wie ihn diese Volksvertretung noch nicht kannte.
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Die dringendste Aufgabe des Parlaments und die Probe auf künftige Mehrheiten wird die Wahl des mächtigen EU-Kommissionspräsidenten, die zentrale Personalentscheidung der EU für die nächsten fünf Jahre: Übernimmt nach über 50 Jahren endlich wieder ein Deutscher diesen Job?
Manfred Weber gibt sich zuversichtlich – gegen die EVP geht nichts
Der EVP-Spitzenkandidat Manfred Weber ist mit diesem Anspruch angetreten, aber die Chancen des sanften Bayern schätzten hochrangige EU-Politiker schon vor der Wahl auf 50:50. Dass der CSU-Vize nicht mal für die Union in Deutschland ein Zugpferd war, dürften seine Kritiker in Brüssel mit Genugtuung vermerken.
War’s das für Weber? Noch nicht. „Ich als Parlamentarier werde jetzt die Hand ausstrecken den anderen Fraktionen gegenüber – denen, die auch an Europa glauben“, kündigte er an. Schließlich bleibt die EVP trotz Verlusten klar stärkste Kraft – gegen sie geht wenig.
Für Manfred Weber wird es trotzdem nicht leicht
CDU-Chefin Kramp-Karrenbauer erklärt am Abend, die Union werde den Anspruch Webers auf das Präsidentenamt bekräftigen. Aber es ist eine doppelte Machtprobe: Weber braucht die Unterstützung der EU-Regierungschefs, die nach den EU-Verträgen allein den Kandidaten vorschlagen müssen. Und er benötigt zugleich eine Mehrheit im Parlament, das den Präsidenten wählt.
Leicht wird es für ihn nicht. Ohne Unterstützung der auf Platz zwei bestätigten Sozialdemokraten kann Weber seine Ambitionen begraben. Der sozialdemokratische Spitzenkandidat Frans Timmermans strebt aber offiziell weiter ein Bündnis gegen Weber an, auch wenn eine Mehrheit selbst mit Grünen, Liberalen und Linken schwer erreichbar sein dürfte.
Was ist mit Frans Timmermans und Margarethe Vestager?
Der amtierende Fraktionschef der Sozialdemokraten, der Deutsche Udo Bullmann, sagt dennoch: „Wir werden in den nächsten Tagen für Timmermans kämpfen“. Die gestärkten Liberalen auf Platz drei wiederum wollen selbst eine „entscheidende Rolle“ in Brüssel spielen, wie ihr Fraktionschef Guy Verhofstadt ankündigt. Womöglich schicken sie die Wettbewerbskommissarin Margarethe Vestager aus Dänemark ins Rennen.
Die Zeit läuft. „Weber hat nur zwei Tage, um ein Bündnis zu schmieden“, heißt es. Am Dienstagabend treffen sich die EU-Regierungschefs zum Sondergipfel, um beim Dinner über die bevorstehenden Personalentscheidungen zu sprechen – neben dem Chef der Kommission sind auch die Präsidenten des Europäischen Rates und der Europäischen Zentralbank (EZB) zu besetzen; für den EZB-Posten käme auch Bundesbank-Präsident Jens Weidmann in Betracht, sollte Weber mit seinen Ambitionen scheitern.
Viel hängt jetzt auch von Angela Merkel ab
Eine beachtliche Reihe von Regierungschefs haben sich schon klar dagegen ausgesprochen, dass zwingend ein Spitzenkandidat Kommissionspräsident werden muss. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat diese Gruppe angeführt, sich dabei klar gegen den konservativen Weber positioniert.
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Ob er seine Pläne, Webers EVP-Parteifreund und Brexit-Chefunterhändler Michel Barnier aus Frankreich oder Vestager durchsetzen kann, scheint fraglich. Viel hängt jetzt von Kanzlerin Angela Merkel ab: Wie viel Energie wird sie daran setzen, Weber durchzusetzen?
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Grüne und Liberale werden hart verhandeln wollen
Er selbst kämpft. Weber will am Montagabend in Brüssel mit den Fraktionschefs von Sozialdemokraten, Liberalen und Grünen zusammen kommen, um die Chancen für ein gemeinsames Vorgehen auszuloten. Am Dienstag wird er dann mit allen Fraktionschefs des Parlaments beraten.
• Analyse:
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Die Grünen nennen schon Bedingungen für eine mögliche Unterstützung: Vor allem geht es ihnen um einen entschlosseneren Kurs beim Klimaschutz, wie die Spitzenkandidatin Ska Keller betont. Und auch einen EU-Kommissar wollen die Grünen stellen. Die Liberalen kündigen ebenfalls harte Verhandlungen an.
Europaparlament will Kommissionspräsidenten verbindliches Programm auferlegen
Weber stehen schwierige Tage bevor. Sein erstes Ziel ist es, die Fraktionschefs auf einen klaren Kurs einzuschwören: Nur wer als Spitzenkandidat angetreten ist, soll als Kommissionspräsident wählbar sein. Andernfalls, warnt Weber, drohe „eine Selbstaufgabe des Parlaments“.
Unter den Fraktionen der Mitte wird zudem eine weitere Hürde gegen ein Diktat der Regierungschefs vorbereitet: Eine Verständigung auf ein Programm, das umzusetzen der künftige Kommissionspräsident verpflichtet werden soll. Wenn das gelänge, wäre das ein erheblicher Machtgewinn für die Abgeordneten, weil die Festlegung der großen Linien für die EU-Kommission bisher Sache der Regierungschefs war.
• Hintergrund:
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Und wer wird eigentlich neuer Parlamentspräsident?
Erste Bedingungen werden schon am Wahlabend diskutiert – und klingen erstmal so, als wollten die möglichen Bündnispartner ihre eigenen Programme umgesetzt sehen. Wie weit der Verständigungswille in der politischen Mitte reicht, wird sich schon an einer anderen Personalie erweisen: Wer wird neuer Präsident des Parlaments?
Amtsinhaber Antonio Tajani von den italienischen Konservativen würde gern weitermachen. Aber bessere Chancen hat offenbar der Liberale Verhofstadt aus Belgien. Die Erwartung bei Webers potenziellen Partnern ist klar: Die Zeit, in der die Christdemokraten alle Posten besetzen, ist vorbei.