Berlin. Der Antisemitismus-Beauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, ist tief besorgt. Eine Kippa zu tragen, könne er nicht empfehlen.

Die antisemitische Kriminalität in Deutschland nimmt zu: Die Zahl entsprechender Straftaten stieg 2018 gegenüber dem Vorjahr um knapp 20 Prozent auf 1800 Fälle an.

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Von Christian Unger und Karsten Kammholz

Die Bundesregierung ist alarmiert. Nun zieht ihr vor einem Jahr eingesetzter Beauftragter für die Belange der Juden seine erste kritische Bilanz.

Herr Klein, ist das öffentliche Interesse am Antisemitismus groß genug?

Felix Klein: Bei antisemitischen Übergriffen gibt es ein gesteigertes Interesse der Medien. Aber es gibt zu wenig gesellschaftliches Interesse am Phänomen Antisemitismus an sich. Wir müssen unsere Erinnerungskultur weiterentwickeln. Ich sehe gewisse Abnutzungserscheinungen beim Holocaust-Gedenken.

Was könnte man dagegen tun?

Klein: Wir müssen neue Formen des Erinnerns finden, die die Menschen nicht nur rational ansprechen, sondern auch Empathie vermitteln. Es gibt tolle, moderne, auch interaktive Erinnerungsprojekte, die wir bekannter machen müssen. Wir sollten die Gedenkstätten noch stärker als bisher mit anderen Institutionen wie Schulen, Theatern, Betrieben oder Jugendzentren überall in Deutschland vernetzen. Dies ist der Ansatz des von der Bundesregierung beschlossenen Projekts „Jugend erinnert“.

Die letzten Holocaust-Überlebenden sterben in den kommenden Jahren. Wer soll die Erinnerung danach wachhalten?

Klein: Es wird schwieriger werden, das Gedenken wachzuhalten. Die Gedenkstätten werden sich stärker gesellschaftlich einmischen müssen. Die Schulen bekommen mehr Verantwortung. Wir müssen unsere gesellschaftlichen Werte grundsätzlich viel stärker in den Bildungskanon aufnehmen.

Wir müssen uns überlegen, wie wir der jüngeren Generation unmissverständlich beibringen: Antisemitismus ist nicht hinnehmbar. Niemand kann sich rausreden. Ich höre, dass manche Lehrer es auf dem Schulhof dulden, dass das Wort „Jude“ als Schimpfwort verwendet wird. Viele Lehrer können damit nicht umgehen.

Hintergrund:

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Manche Juden kritisieren, dass wir uns zwar mit dem Holocaust beschäftigen, aber nicht mit der eigenen Vergangenheit, mit der Frage: Was haben meine Großeltern im Nationalsozialismus gemacht?

Klein: Die Beschäftigung mit der Rolle der eigenen Familie findet wirklich zu wenig statt.

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ob sie in der SS waren, in der Wehrmacht oder im Widerstand. Vielleicht, weil sie zu jung sind und ihre Großeltern nicht mehr fragen konnten, aber vielleicht auch weil schon ihre Eltern nie nachgefragt haben.

Das ist wirklich ein großes Defizit. Und führt auch in die Irre: Forscher der Universität Bielefeld haben im vergangenen Jahr in einer repräsentativen Umfrage herausgefunden, dass etwa jeder fünfte Deutsche glaubt, seine Vorfahren hätten während des Zweiten Weltkriegs potenziellen Opfern geholfen, zum Beispiel Juden versteckt. Das ist rein statistisch gesehen überhaupt nicht möglich.

Verwechselung nach antisemitischer Attacke – hier spricht das Opfer

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    Die Zahl der antisemitischen Straftaten ist im Jahr 2018 um knapp 20 Prozent gestiegen. Haben Sie dafür eine Erklärung?

    Klein: Dies hat mit der zunehmenden gesellschaftlichen Enthemmung und Verrohung zu tun, die einen fatalen Nährboden für Antisemitismus darstellt. Hierzu haben das Internet und die sozialen Medien stark beigetragen, aber auch die fortgesetzten Angriffe auf unsere Erinnerungskultur.

    Etwa 90 Prozent der Straftaten sind dem rechtsradikalen Umfeld zuzurechnen. Bei muslimischen Tätern sind es zumeist Menschen, die schon länger hier leben. Viele von ihnen gucken arabische Sender, in denen ein fatales Bild von Israel und Juden vermittelt wird.

    Merkel:

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    Können Juden in Deutschland sorglos Kippa tragen?

    Klein: Da hat sich meine Meinung im Vergleich zu früher leider geändert. Ich kann Juden nicht empfehlen, jederzeit überall in Deutschland die Kippa zu tragen. Das muss ich leider so sagen.

    In Plauen sind am 1. Mai Hunderte Neonazis uniformiert mit Fackeln, Fahnen und Trommeln durch die Straßen marschiert. Ein Bild wie aus den Hitler-Jahren. Müssen solche Aufmärsche verboten werden?

    Klein: Auf jeden Fall. Die Behörden haben diese Veranstaltung offenbar völlig falsch eingeschätzt, als sie die Erlaubnis erteilt haben. Als es dann mit rechtsextremistischen Parolen losging, hätte die Polizei den Marsch sofort abbrechen müssen. Es ist nicht der erste Fall, dass Männer den Hitlergruß vor den Augen der Polizei zeigen und nichts passiert.

    Hintergrund:

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    Warum lassen die Beamten so etwas zu?

    Klein: Es gibt viel Unsicherheit bei Polizisten und bei Behördenmitarbeitern im Umgang mit Antisemitismus. Viele Beamte wissen nicht, was erlaubt ist und was nicht. Niemand will wegen einer falschen Entscheidung im Nachhinein vor Gericht gezerrt werden.

    Deswegen ist so wichtig, dass wir in den Behörden noch besser aufklären. Es gibt eine klare Definition von Antisemitismus, und die muss in den Polizeischulen gelehrt werden. Genauso gehört sie in die Ausbildung der Lehrer und Juristen.

    Deutschland will ein tolerantes Land sein. Wo hat Ihre Toleranz Grenzen?

    Klein: Wir sind ein freies Land. Es muss natürlich möglich sein, Israel zu kritisieren. Aber die Leugnung und Relativierung des Holocausts ist strafbar. Wir stellen uns damit unserer Geschichte. Aus meiner Sicht ist das eine notwendige Einschränkung des Grundrechts auf freie Meinungsäußerung. Und sobald Persönlichkeitsgrenzen überschritten werden, muss die Demokratie sowieso wehrhaft werden.

    Sie sind nun seit einem Jahr im Amt des Antisemitismus-Beauftragten. Finden Sie genug Gehör?

    Klein: Ich fühle mich von der Bundesregierung und den Ländern sehr gut unterstützt. Wenn alles glatt geht, startet in wenigen Wochen die Bund-Länder-Kommission zum Antisemitismus. Am 6. Juni, so der Plan, werden die Ministerpräsidenten und die Bundeskanzlerin das Gremium beschließen. Wir wollen mithilfe der Kommission erreichen, dass der Umgang mit Antisemitismus und Rassismus Teil der Lehrerausbildung wird.

    Ich werde an der Seite eines Länder-Vertreters den dauerhaften Vorsitz der Kommission übernehmen. Außerdem arbeiten wir am Ausbau der bundesweiten Meldestelle für antisemitische Vorfälle, Rias. In Berlin gibt es die Meldestelle schon länger. Jetzt wollen wir Partner in den anderen Bundesländern finden.

    Islamexpertin:

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