An Rhein und Ruhr. . Straßen, Schienen, Stromtrassen: Enteignungen kommen in NRW regelmäßig vor. Naturschützer wehren sich gegen die Enteignung eines Grundstücks.
Nördlich der ehemaligen Trasse der alten Autobahn A4 liegt ein Acker, der den Energiekonzern RWE ärgert. 500 Quadratmeter, darauf ein gelbes Kreuz. „Widerstandsacker“ nennen die Leute von der Naturschutzorganisation BUND dieses Grundstück. Geht es nach RWE, wird hier ab 2020 Braunkohle abgebaggert. 2017 hat der Konzern eine sogenannte Grundabtretung beantragt, vor fast genau einem Jahr hat die zuständige Bezirksregierung in Arnsberg einen Grundabtretungsbeschluss erteilt. Konkret: eine Enteignung.
Derzeit wird landauf, landab heftig über Enteignungen debattiert. Konservative malen das Gespenst des Sozialismus an die Wand, weil Initiativen und Politiker wie der Juso-Vorsitzende Kevin Kühnert die Vergesellschaftung von Unternehmen fordern. Dabei lässt das Grundgesetz ausdrücklich Enteignungen und Vergesellschaftungen zu.
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In Artikel 14 des Grundgesetzes heißt es: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen. Eine Enteignung ist nur zum Wohle der Allgemeinheit zulässig.“ Und gegen eine Entschädigung.
In Artikel 15 heißt es weiter: „Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden.“
Die Landesverfassung von NRW geht sogar noch weiter und fordert unter bestimmten Voraussetzungen Vergesellschaftungen. Artikel 27 besagt: „Großbetriebe der Grundstoffindustrie und Unternehmen, die wegen ihrer monopolartigen Stellung besondere Bedeutung haben, sollen in Gemeineigentum überführt werden.“
Artikel 15 wurde noch nie angewandt
Der Artikel 15 des Grundgesetzes ist bislang noch nie angewandt worden. Eine Vergesellschaftung großer Unternehmen und ihre Umwandlung beispielsweise in einen Staatsbetrieb oder in eine Genossenschaft hat es in Deutschland bislang noch nie gegeben. Im Gegenteil: Vor allem in den neunziger Jahren wurden zahlreiche staatliche Unternehmen privatisiert.
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Enteignungen „zum Wohle der Allgemeinheit“ gibt es allerdings regelmäßig. In den vergangenen zehn Jahren haben die fünf Bezirksregierungen in NRW insgesamt 267 Enteignungsverfahren durchgeführt, fast alle für Infrastrukturprojekte, für neue Straßen, Schienen, Stromleitungen.
Bundesweit laufen aktuell 65 Enteignungsverfahren allein für den Bau von Autobahnen und Bundesstraßen, wie aus der Antwort des Bundesverkehrsministeriums auf eine kleine Anfrage des Grünen-Bundestagsabgeordneten Sven-Christian Kindler hervorgeht.
„Das ist bigott“
Kindler spottete angesichts dieser Zahlen: „Wenn es darum geht, neue überflüssige Autobahnen durchzudrücken, haben CSU, CDU und FDP keine Probleme mit der Enteignung von Privatleuten und Bauern. Geht es aber um die Vergesellschaftung großer Immobilienkonzerne, die ihre Marktmacht ausnutzen, heulen sie laut auf. Das ist bigott.“
In NRW wurden Enteignungsverfahren laut den Angaben der Bezirksregierungen beispielsweise beim Bau der Höchstspannungsleitungen zwischen Kruckel und Garenfeld südlich von Dortmund oder von Oberzier bis Aachen-Lichtenbusch eingeleitet, beim sechstreifigen Ausbau der A1 und der A43, beim Neubau der A448 in Bochum oder dem Neubau der S-Bahn-Linie 13 von Troisdorf nach Bonn-Oberkassel.
Erfolgreiche Klage vor dem Verfassungsgericht
Oder eben für den Braunkohletagebau. Die Naturschützer vom BUND haben bereits einmal ein Grundstück an die Braunkohlebagger verloren, das war im Tagebau Garzweiler, in Otzenrath, einem Ortsteil von Jüchen. 2005 enteignete sie die für den Bergbau zuständige Bezirksregierung Arnsberg. Dagegen zogen sie vor Gericht.
2013 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass die Enteignung unrechtmäßig war. Begründung: Zwar diene die Braunkohleförderung dem Gemeinwohl. Die Gesamtabwägung des Tagebauprojekts sei aber nicht ausreichend gewesen.
So aufsehenerregend das Urteil auch war: Die kleine Streuobstwiese war 2013 bereits weggebaggert. RWE durfte das, weil es einen Antrag auf „vorzeitige Besitzeinweisung“ gestellt hatte. „Da war dann eine 200 Meter tiefe Grube“, sagt der nordrhein-westfälische BUND-Geschäftsführer Dirk Jansen.
Was nützt es einem Hausbesitzer, wenn er vor Gericht erfolgreich gegen seine Enteignung klagt, das Haus dann aber bereits weg ist? Das Instrument der „vorzeitigen Besitzeinweisung“ und die bis zu zehn Jahre dauernden Verfahren schrecken viele Menschen davor ab, sich gegen Enteignungen zu stemmen, glaubt Jansen.
Die Widerstand geht weiter
Jetzt will der BUND seinen „Widerstandsacker“ beim Kerpener Ortsteil Manheim gerichtlich retten lassen. Jansen erhofft sich durch die veränderten politischen Rahmenbedingungen Wind in den Segeln. „Die Kohlekommission hat entschieden: Braunkohle dient nicht mehr dem Gemeinwohl. Also gibt es auch keine Rechtfertigung für Grundabtretungen“.
Was übrigens auch für die im Braunkohlerevier verbliebenen Menschen gelte, die nicht mehr zwangsumgesiedelt werden dürften.