Washington. Er war Barack Obamas Vize. Jetzt kündigt Joe Biden an, bei der US-Wahl 2020 als Nachfolger von Donald Trump kandidieren zu wollen.
Er ist spät dran. So spät, dass von der Gegenseite sarkastisches Lob kommt. Joe Biden, ätzte der rechtspopulistische Radio-Star Rush Limbaugh, sei 2020 gewiss die beste Chance für die Demokraten, um Amtsinhaber Donald Trump gefährlich zu werden. Leider werde der am Wahltag 77 Jahre alte Polit-„Brontosaurus“ in den parteiinternen Vorwahlen Anfang nächsten Jahres aussortiert.
Zu stark sei der Linksdrall, den viele seiner mittlerweile 21 Konkurrenten/-innen von Elizabeth Warren über Kamala Harris und Bernie Sanders bis zum blutjungen
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(37) verkörperten.
Joe Biden: Pathetisches Video zum Start
Limbaughs Befund ist voreilig und gehässig. Hinter vorgehaltener Hand teilen manche Demokraten gleichwohl die Befürchtungen über den ehemaligen Vizepräsidenten von Barack Obama. „Der gestrige Tag“, sagte ein Parteivertreter in Washington unserer Redaktion, „könnte für lange Zeit Joe Bidens bester gewesen sein. Ab sofort wartet eine Schlacht auf ihn, bei der es nur noch bergauf geht.“
Mit einem dreieinhalbminütigen Video voller Pathos („Wir stehen in einem Kampf um die Seele der Nation“), stieg der Veteran der Washingtoner Machtelite am Donnerstagmorgen um sechs Uhr auf Facebook und YouTube offiziell in das Schaulaufen um das in 15 Monaten beim Parteitag in Milwaukee zu vergebene Präsidentschaftsticket ein.
Joe Biden bietet sich als Retter Amerikas an
Bidens Leit-Motiv berührt das große Ganze: „Wenn wir Donald Trump acht Jahre im Weißen Haus geben, wird er für immer und grundlegend den Charakter dieser Nation ändern – wer wir sind. Und ich kann nicht daneben stehen und dem zusehen.“
Die Botschaft ist klar: Ein Mann, der Verlässlichkeit, Rationalität und Old School-Anstand personifiziert, bietet sich als Retter Amerikas an. Aber wollen die Demokraten und ihre Wähler von ihm gerettet werden?
Biden war schon Senator, als Willy Brandt noch Kanzler war
Seit der als Sohn eines Autoverkäufers in der Industriestadt Scranton im US-Bundesstaat Pennsylvania geborene Biden mit seiner dritten Kandidatur (nach 1988 und 2008) liebäugelt, liegt er in Umfragen konstant mit Werten um die 30 Prozent vor allen Mitbewerbern/-innen. 70 Prozent der demokratischen Wählerschaft verbinden positive Gedanken mit dem Mann, der zum ersten Mal Senator wurde, als in Deutschland noch Willy Brandt Kanzler war.
Seine versöhnende Wärme, vor allem seine authentische Kommunikationsfähigkeit gegenüber Otto Normalamerikanern, sagen Weggefährten wie Analysten, könnte Wähler aus der Arbeiterklasse in den von Trump 2016 eroberten Rostgürtel-Bundesstaaten wie Wisconsin, Michigan oder eben Pennsylvania zurückholen.
Leute also, die die Person Trump oft als Scharlatan, Spalter und Hetzer ablehnen. Nicht aber seine Politik. Nur wie belastbar ist der Vertrauensvorschuss – und wie wirkungsmächtig die Kraft des menschelnden Small Talks, den Biden beherrscht wie nur ganz wenige?
Gemäßigte Republikaner könnten Joe Biden problemlos wählen
Die Demokraten sind in den vergangenen Monaten programmatisch nach links gerückt. Für amerikanische Verhältnisse semi-sozialistische, auf mehr Umverteilung setzende Entwürfe, die für kostenlose öffentliche Universitäten, staatlich umfassenden Krankenschutz, Reichensteuer und radikale Eindämmung des CO2-Ausstoßes abheben, haben Hoch-Konjunktur. Moderate Wähler könnte das irritieren.
Zudem ist die Anti-Trump-Partei entschieden weiblicher und ethnisch bunter geworden. Allein sechs Frauen, die meisten davon gestandene Senatorinnen, wollen es besser machen als 2016 Hillary Clinton. Joe Biden dagegen ist ein weißer Senior mit Promi-Bonus, der politisch konstant so tief in Maß und Mitte wurzelt, dass ihn gemäßigte Republikaner spielend wählen können.
Joe Biden wird sich wohl neu erfinden müssen
Bleibt Biden sich treu, muss er den radikalen Gesellschaftsumbau, den federführend Konkurrent Bernie Sanders und die Kongress-Abgeordnete Alexandria Occasion propagieren, als zu ambitioniert ablehnen. Was wiederum junge Wähler verdrießen könnte, die Aufbruch wünschen und keine Besitzstandswahrung.
Um eine belastbare Brücke zu bauen zwischen den meist betagten Wählern der weißen Arbeiterklasse und jüngeren, sozial vielfältigen müsste Biden sich neu erfinden, sagen ihm wohlwollend gegenüber eingestellte Parteistrategen in Washington. „Die Aussicht auf eine Fortsetzung der Ära Obama mit leicht neu akzentuierten Mitteln wird die Wähler kaum mitreißen.“
Apropos: Der Trump-Vorgänger ließ am Donnerstag Bidens „Wissen, Tiefblick und Urteilsvermögen“ loben. Zu einer offiziellen Wahlempfehlung („endorsement“) für seinen „Veep“ raffte er sich nicht auf.
Joe Bidens Gegner hätten genug Angriffsfläche
Der 76-Jährige, der 2003 für den Irakkrieg stimmte, was er seither bereut, bringt so viel politisches Gepäck mit, dass die Gegenseite für die typischerweise verleumderischen TV-Spots im Wahlkampf nur in die Archive greifen muss. Zwei Beispiele:
• 1975 lehnte Biden Maßnahmen zur Aufhebung der Rassentrennung an Schulen ab. Er fühle sich nicht verantwortlich „für die Sünden meines Vaters und meines Großvaters“, sagte er – heutzutage ein No-Go.
• Als Vorsitzender des Justizausschusses spielte Biden 1992 bei der historischen Anhörung von Anita Hill eine dubiose Rolle. Sie beschuldigte den noch heute amtierenden schwarzen und extrem konservativen Bundesrichter Clarence Thomas der sexuellen Belästigung. Im Zeitalter von #metoo eine heikle Altlast.
Joe Biden gelobte öffentlich Besserung
Joe Biden bekam das persönlich zu spüren, als Frauen kürzlich an die Öffentlichkeit traten und lange zurückliegendes Eindringen in ihre Privatsphäre beklagten. Einmal ging es um einen Hinterkopf-Kuss. Das andere Mal rieb Biden im Eskimo-Stil seine Nase an einer anderen.
Der für harmlos gemeinte Umarmungen und Schulterklopferei bekannte elder statesman leistete öffentlich zerknirscht Abbitte: „Ich werde in Zukunft aufmerksamer sein, wenn es darum geht, den persönlichen Raum zu respektieren.“
Kann Biden genug Spenden sammeln?
Ob Joe Biden das Image des erfahrenen, international geschätzten und vernetzten Routiniers in den nächsten Monaten ausspielen kann, ist auch eine Geldfrage. Bernie Sanders, der andere Oldie (77) im Wettbewerb, verfügt bereits über rund 35 Millionen Dollar in der Wahlkampfkasse. Löwenanteil: Kleinspender.
Biden war nie ein großer Graswurzelbewegungs-Typ. Um auf die veranschlagten 100 Millionen Dollar zu kommen, die ein aussichtsreicher Kandidat vor den im Februar 2020 beginnenden Vorwahlen in Iowa und New Hampshire vorweisen sollte, könnte Biden auf die bei Parteilinken verhassten Großspender angewiesen sein, ohne die jede US-Wahlkampfmaschine schnell einen Kolbenfresser erleidet.
Donald Trump äußerte sich bereits herablassend
Amtsinhaber Trump, dessen Berater in Biden eine ernste Bedrohung sehen, begegnete seinem potenziellen Widersacher mit der ihm eigenen Herablassung. Er hoffe, dass der „schlafmützige Joe“ die „lange in Zweifel gezogene Intelligenz“ besitze, twitterte der Präsident, um sich im Vorwahlkampf gegen „kranke und verrückte Ideen“ im Lager der Demokraten durchsetzen zu können.
• Joe Biden ist längst nicht der einzige Anwärter auf die US-Präsidentschaft:
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(Dirk Hautkapp)