Istanbul/Essen. . Der Kölner Adil Demirci ist nach zehn Monaten in türkischer U-Haft frei. Das Land verlassen darf er nicht. Er wartet auf den nächsten Prozesstag.

In den frühen Morgenstunden des 13. April 2018 veränderte sich das Leben von Adil Demirci dramatisch. In dem Haus, in dem er im Istanbuler Stadtteil Kartal wohnte, krachten die Türen. Lautes Getöse, das Geräusch schwerer Stiefel und Geschrei. Ein Sondereinsatzkommando der türkischen Polizei drang in die Wohnung ein, verhaftete Demirci.

Der damals 32-jährige Kölner ist deutscher Staatsbürger, Sozialwissenschaftler und von Deutschland aus als freier Journalist für die Nachrichtenagentur Etha tätig. Die Vorwürfe: Terrorpropaganda und Mitgliedschaft in der Marxistisch-Leninistischen Kommunistischen Partei (MLKP), die vom türkischen Staat als Terrororganisation eingestuft wird.

Demirci war mit seiner an Krebs erkrankten Mutter nach Istanbul gereist, um ihr Ablenkung von ihrer Chemotherapie zu ermöglichen. Nach seiner Festnahme saß er bis zum 14. Februar in Untersuchungshaft. Jetzt wartet er auf seinen nächsten Prozesstermin am 30. April in Istanbul – 2000 Kilometer entfernt von Mutter Elif und Bruder Tamer in Köln.

Unsere Redaktion hat mit ihm telefonisch über seine Haftzeit und seine Aussichten gesprochen.

Herr Demirci, Sie sind wieder in Freiheit. Wie haben sie die Zeit nach der Untersuchungshaft erlebt?

Adil Demirci: Richtig. Ich bin seit zwei Wochen aus der U-Haft heraus und bin derzeit in Istanbul. Ich darf weder das Land noch die Stadt verlassen. Die letzten zwei Wochen habe ich viel Besuch von Familie und Freunden gehabt. Ich musste die Situation erst einmal realisieren und aufarbeiten.

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Wo wohnen Sie gerade?

Demirci: Ich wohne bei einem Onkel im Stadtteil Kartal. Das ist die Wohnung, in der ich im vergangenen Jahr festgenommen worden bin.

Wie wollen die türkischen Behörden verhindern, dass Sie Istanbul verlassen?

Demirci: Eine Meldepflicht gibt es nicht. Aber wenn ich in einer anderen Stadt zufällig in eine Polizeikontrolle geraten würde, müsste ich wohl wieder in Haft. Dieses Verbot, die Stadt zu verlassen, ist relativ neu, haben mir meine Anwälte erzählt.

Sie haben seit April vergangenen Jahres im Gefängnis gesessen. Was war das für eine Einrichtung?

Demirci: Das war das Hochsicherheitsgefängnis Nummer Neun in Silivri, wo auch Deniz Yücel und Peter Steudtner inhaftiert waren und gewählte HDP-Abgeordnete einsitzen.

Wie sind Sie behandelt worden?

Demirci: Ich persönlich habe keine Probleme mit den Wärtern gehabt. Die erste Woche im Polizeigewahrsam waren deutlich anstrengender. Man hat natürlich etwas von Vorfällen in den Gefängnissen mitbekommen, ich habe aber nichts Negatives erlebt.

Waren Sie in Einzelhaft?

Demirci: Nur die ersten paar Tage. Danach habe ich mir acht Monate die Zelle mit einem jungen Studenten geteilt, der am selben Tag wie ich festgenommen worden war. Später waren wir zu dritt.

Tagesablauf im türkischen Knast.
Tagesablauf im türkischen Knast. © privat

Hatten Sie Kontakt zu Familie und Freunden in Deutschland?

Demirci: Als ich verhaftet wurde, galt noch die Notstandsgesetzgebung. Es hat zwei Monate gedauert, bis mir erlaubt wurde, mit meinen Eltern zu telefonieren. Ich durfte keine Briefe auf Deutsch schreiben und habe anfangs wenig Briefe auf Deutsch erhalten. Die Begründung war, dass es keinen Dolmetscher gebe. Einen Tag vor der Entlassung habe ich dann ein Paket von 20 Briefen bekommen. Viele habe ich aber nicht erhalten, weil sie noch kontrolliert werden mussten.

Als Sie nach so langer Zeit die Briefe erhielten, was war das für ein Gefühl?

Demirci: Ich habe mich über jeden sehr gefreut. Man bekommt mit, was die Freunde und die Familie machen, man fühlt sich nicht mehr so allein. Es ist, als ob das Draußen nach Drinnen dringt. Mein ganzes Leben ist in Deutschland. Über die Türkei bekommt man im Gefängnis etwas über die Zeitungen und das Fernsehen mit, aber nicht über Deutschland. Da haben die Briefe eine große Bedeutung für mich gehabt.

Konnten Sie im Gefängnis sämtliche türkischen Medien konsumieren, oder gab es Einschränkungen?

Demirci: Man konnte die Fernsehkanäle schauen, die von der Gefängnisleitung erlaubt worden waren. Das waren recht viele, ungefähr 25. In der Kantine konnte ich Zeitungen kaufen. Auch eher kritische wie Cumhuriyet.

Es gab in Deutschland regelmäßige Solidaritätsaktionen, unter anderem in Köln, die Ihr Bruder organisiert hat. Was haben Sie davon mitbekommen, und was haben Ihnen diese Aktionen bedeutet?

Demirci: Die Mitarbeiter des deutschen Konsulats und später meine Anwälte haben mir von den Aktionen berichtet. Gelesen habe ich davon erst im Sommer. Ich bin natürlich sehr beeindruckt davon und danke meiner Familie, meinen Freunden und den Menschen, die nicht einmal persönlich kenne, die sich aber trotzdem für mich eingesetzt haben. Das hat mich sehr gefreut und es hat mir sehr viele Kraft gegeben.

In den deutschen Medien ist ihr Fall nicht so sehr wahrgenommen worden, wie beispielsweise die Inhaftierung des Journalisten Deniz Yücel. Hat Sie das traurig gemacht?

Demirci: Ich habe wenig davon mitbekommen, wie das in den deutschen Medien widergespiegelt worden oder politisch diskutiert worden ist.

Sie werden konsularisch gut betreut?

Demirci: Ja, der deutsche Generalkonsul Michael Reifenstuell hat mich zweimal im Gefängnis besucht. In den vergangenen Wochen war ich zweimal im deutschen Konsulat in Istanbul.

Demirci nach seiner Freilassung in Istanbul.
Demirci nach seiner Freilassung in Istanbul. © privat

Ihnen wird Terrorunterstützung für die MLKP vorgeworfen. Wie verhalten Sie sich zu den Vorwürfen?

Demirci: Mir wird vorgeworfen, an drei Beerdigungen und an einer Veranstaltung an der Bogazici-Universität in Istanbul teilgenommen zu haben. Ich habe als Übersetzer und freier Journalist gearbeitet. Daraus kann man eigentlich keinen Terrorvorwurf konstruieren. Ich war ja seitdem mehrere Male in der Türkei, ohne das etwas passiert wäre. Im Gefängnis saßen auch viele Leute wegen des Vorwurfs der Präsidentenbeleidigung. Nicht nur Leute von der HDP, sondern auch von der rechtsnationalistischen Iye Parti. Diese Vorwürfe gegen mich, sind ortsüblich.

Sind Sie angesichts der Fälle Yücel, Steudtner oder Mesale Tolu, die mittlerweile ja wieder alle in Deutschland sind, optimistisch, was Ihre nächste Verhandlung im April angeht?

Demirci: Ich hoffe, dass es bei mir ähnlich ablaufen wird und dass ich dann nach Hause zurückkehren kann.

Beim ersten Prozesstag am 20. November sah es zunächst so aus, als würden Sie auf freien Fuß gesetzt. Dann, nach einer Prozesspause, hieß es, dass Sie in Untersuchungshaft bleiben müssen. Was macht das mit einem?

Demirci: Ich hatte auch sehr mit einer Freilassung gerechnet. Nach dem Beschluss habe ich einige Zeit gebraucht, um das zu verarbeiten. Es war schon schwer, sich nicht gehen zu lassen, und sich weiterhin zu einem geordneten Tagesablauf zu zwingen.

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    In den beiden bisherigen Prozesstagen waren Prozessbeobachter aus Deutschland da. Wird das auch bei der Verhandlung im April so sein?

    Demirci: Ich weiß noch nicht, ob sie kommen werden. Ich werde mit den Anwälten besprechen, ob das eher von Vorteil oder von Nachteil ist, wenn Prozessbeobachter dabei sein.

    Kommt Ihre Familie zum nächsten Prozesstag? Ihr Bruder ist bei den Solidaritätsaktionen in Köln fotografiert worden, weswegen er nicht wusste, ob es für ihn ratsam ist, in die Türkei zu fliegen.

    Demirci: Ich war auch dafür, dass mein Bruder nicht in die Türkei kommt. Meine Mutter will schon vor der nächsten Verhandlung kommen, wenn ihr Gesundheitszustand das zulässt. Sie möchte mich auf jeden Fall besuchen kommen.

    Glauben Sie an einen fairen Prozess?

    Demirci: Es ist sicherlich die schwierigste Frage. Die Teilnahme als Journalist an Massenveranstaltungen beziehungsweise Beerdigungen, die vom Gouverneur der Stadt erlaubt wurden, sind nirgends eine strafbare Tätigkeit, auch nicht in der Türkei, zu mindestens nach Gesetzbuch. Selbst nach türkischem Gesetzbuch dürfte es zu keiner Untersuchungshaft kommen. Nun war ich aber zehn Monate in Silivri. Plötzlich wurde auf einem Schlag einen alles weggenommen; Familie, Freunde, Arbeit, kranke Mutter und die Freiheit. Monatelang sitzt man ohne Anklageschrift. Das Vertrauen ist natürlich sehr angeschlagen, aber ich hoffe dass nun alles besser wird und ich endlich nach Hause zurückkehren kann.