Düsseldorf/Bochum. . Vor einem Jahr bewegte „Pulse of Europe“ Tausende Europäer. Der Höhepunkt ist vorerst überschritten. Die Ehrenamtlichen machen trotzdem weiter.
Andrew Watt ist ein Brite, der sich selbst einen überzeugten Europäer nennt. Und weil das in Zeiten des Austritts Großbritanniens aus der EU nicht unbedingt immer zueinander passt, hat der 54-jährige Ökonom zwei Entscheidungen getroffen. Er hat den deutschen Pass angenommen. Und er hat sich ein T-Shirt im Blau der EU-Flagge angezogen und ist auf die Straße gegangen.
In einem Kreis von Aktivisten aus der internationalen Bürgerbewegung „Pulse of Europe“ steht Watt im Novemberregen auf dem Düsseldorfer Marktplatz und verschränkt gegen die Kälte die Arme vor der blauen Brust. „Viele wollen zurück zu den Nationalstaaten“, sagt Watt. „Ich halte das für einen Fehler. In der EU liegen große Chancen. Nur gemeinsam können wir uns auf der Welt behaupten.“
Tausende trieb das Brexit-Votum auf die Straße
Vor über einem Jahr hat die proeuropäische Initiative „Pulse of Europe“ Tausende Menschen auf die Straße geholt. Die Idee dazu hatte ein Ehepaar aus Frankfurt, das den Angstkampagnen der Rechtspopulisten in Frankreich und der Brexit-Anhänger eine positive Stimmung entgegensetzen wollte. Und damit traf es einen Nerv: Innerhalb kürzester Zeit entwickelte sich „Pulse of Europe“ zu einer Bewegung mit Gruppen in 150 Städten und zwei Dutzend Ländern. Sonntag für Sonntag um 14 Uhr kamen Alt und Jung in Dortmund, Budapest oder Lissabon zusammen, sangen und musizierten, sprachen mit glühender Gelöstheit im Kreis Gleichdenkender über die europäische Gemeinschaft, in der sie leben wollen.
Und heute? Gibt es sie immer noch, die Anhänger von „Pulse of Europe“. Doch längst bevölkern sie nicht mehr jede Woche, sondern monatlich die Plätze dieses Landes, auch kommen dieser Tage eher Dutzende denn Tausende. „Zu motivieren, ist schwieriger geworden“, stellt Vanessa Kriele fest, von Beruf Lehrerin und wie Watt ehrenamtliches Mitglied der Düsseldorfer Gruppe. Sie habe den Eindruck, anders als nach dem Brexit-Entscheid oder vor den Wahlen in Frankreich sähen viele Menschen heute keinen Anlass, an ihren Aktionen teilzunehmen.
Ein Schlachtplan bis zur Europawahl 2019
Und trotzdem machen sie weiter: Stecken in Düsseldorf wie auch im Ruhrgebiet spät am Abend, geplagt von Feierabendverkehr und Prüfungsstress, die Köpfe zusammen. In Bochum sitzen acht dieser Ehrenamtlichen im Ratskeller, einem Restaurant in der Innenstadt. Auf die Frage, warum sie am Ball bleiben, fallen die Errungenschaften der EU wie Funken in dem dunklen Kellerraum: Reisefreiheit, Frieden, Verbraucherschutz, das gelte es zu bewahren und weiterzuentwickeln. Und Anlass gebe es weiter genug, für Europa zu streiten: Nationalisten in Italien und Ungarn müsse die Stirn geboten werden. Europa sei wie ein Garten, sagt einer. „Wenn man ihn zu lange vernachlässigt, kommt man ihm nicht mehr bei.“
Weil Pro-Europa-Sein an sich aber nicht mehr Massen auf die Straße holt, haben sich die Ehrenamtlichen neue Veranstaltungsformen überlegt. Lesungen, Chorkonzerte, Diskussionsrunden gehören dazu. „Wir sehen uns auch als jemanden, der Informationen weitergeben und zu Debatten anregen will“, sagt Vilbert Oedinger (60) in Bochum. Bis zur Europawahl am 26. Mai hat sich seine Gruppe einen regelrechten Schlachtplan überlegt. Wohin fließen EU-Mittel? Wie funktioniert die Union? Solche Fragen wolle man beantworten. Das klingt nach Volkshochschulkurs. „Es geht um Emotionen“, sagt Carolin Oedinger und erzählt von einem Gespräch mit Schülern. „Einer sagte, Europa sei ihm egal. Wenn du aber fragst, wie das wäre, nicht mehr frei zu reisen, ist die EU plötzlich was Persönliches.“
Auch die Pro-Europäer sind mit der EU nicht zufrieden
In Düsseldorf gelingt es Andrew Watt und seinen Mitstreitern, im Novemberregen jenen ein Forum zu schaffen, die die Idee der EU weiterentwickeln wollen. Rund 50 Düsseldorfer drängen sich im Anschluss an eine Kunstaktion in ein Café. Alt-Grüne, Familien mit Kindern, sogar Touristen sind gekommen. Erst fehlen die Stühle, dann die Zeit: Eineinhalb Stunden wird über die Rolle des EU-Bürgers, eine Abschaffung der Mitgliedsstaaten und über Migration gesprochen.
Watt sagt am Rande der Debatte, auch er sei mit Europa nicht zufrieden. „Die EU schafft es bisher nicht, große Probleme wie Umweltstandards, Steuergerechtigkeit und Migration zu bewältigen.“ Aber die EU biete die Voraussetzung, Antworten auf diese Fragen zu finden.