Düsseldorf. Eine Studie zeigt, dass die Opferzahl der Novemberpogrome 1938 viel höher ist als angenommen. Allein auf dem Gebiet von NRW starben 127 Menschen.
Mindestens 127 Menschen kamen während oder als Folge der Novemberpogrome 1938 auf dem Gebiet des heutigen NRW ums Leben. Diese Opferzahl ist gerade erst von Historikern der Mahn- und Gedenkstätte in Düsseldorf erforscht worden. Bisher kursierte die Zahl von lediglich 91 Opfern. Sie wurde von den Nazi-Behörden damals selbst verbreitet und bezieht sich zudem auf das gesamte damalige Deutsche Reich. Selbst in aktuellen Schulbüchern taucht sie noch auf, und es entsteht der Eindruck, der 9. November vor 80 Jahren sei ein Tag gewesen, an dem vor allem Gebäude brannten und Fenster zerbrachen.
Lange wurde verharmlosend von der „Kristallnacht“ gesprochen, danach korrekter von den Novemberpogromen, aber das ganze Ausmaß des Schreckens ist bis heute nicht enthüllt. „Es war nicht nur die Nacht der zerstörten Scheiben. Damals sind Lebensentwürfe und ganze Familien kaputt gegangen. Sogar in kleinen Orten, in denen die Menschen sich gut kannten, geschahen unvorstellbare Grausamkeiten“, sagte Hildegard Jakobs von der Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf bei der Präsentation der ersten NRW-Studie zu Namen und Zahl der Toten.
Neue Dimension der Verrohung
In allen Kommunen und Kreisen Nordrhein-Westfalens hatten sich die Forscher erkundigt. Sie lasen die Berichte von Heimatforschern und holten sich Infos aus den Archiven. 127 Verbrechen beschreiben die Historiker. Zum Beispiel das an dem Lüner Waldemar Elsoffer, der in jener Nacht in die Lippe gehetzt wurde und ertrank. In Rheine sprang die 79-Jährige Julie Reinhaus am 11. November 1938 aus dem Fenster und starb. In Essen wurde der 53-Jährige Arbeiter Louis Kaufmann Anfang Dezember 1938 tot aus der Ruhr gezogen. Offizielle Todesursache: Suizid durch Ertrinken. Zuletzt gesehen wurde Kaufmann am 13. November, kurz nach dem Pogrom. Auch solche Fälle werden beschrieben, weil der Zusammenhang mit der Pogromnacht nahe liegt.
„Journalisten fragen heute nach Verbrechen sofort nach der Zahl der Opfer. Umso erstaunlicher ist es, dass die Frage nach der Zahl der Todesopfer rund um den 9. November 1938 in Deutschland von der Historikerzunft bisher nicht gestellt wurde“, sagte Gedenkstätten-Leiter Bastian Fleermann. „Das Novemberpogrom ist der prominente Unbekannte“, fügte er hinzu.
Die Forscher haben herausgefunden, dass auf dem Gebiet des heutigen Bundeslandes NRW in der Pogromnacht selbst zehn Menschen ermordet wurden. 44 starben an den Folgen und Spätfolgen der Angriffe. 42 Menschen nahmen sich das Leben. Dazu kommen 31 Männer und Frauen, die nach dem Pogrom in die Konzentrationslager Buchenwald, Dachau und Sachsenhausen deportiert wurden und an den Folgen der Misshandlungen dort starben. Ein Vater eines der KZ-Opfer lehnte es ab, die Urne mit der Asche seines toten Sohnes entgegenzunehmen. „Ich habe ihn euch lebendig gegeben, und ich will ihn lebendig zurück“, soll er gesagt haben.
Gerade in ländlichen Regionen wurden die Angriffe auf Juden mit „Demütigungs-Ritualen“ verbunden und bekamen „Volksfestcharakter“, so Fleermann. Nachbarn quälten mitleidlos ihre Mitmenschen. In Düsseldorf soll sogar der Oberbürgermeister selbst mit Benzin gezündelt haben. Die Dimension der Verrohung sei damals unvorstellbar gewesen. „Das war auch ein Ergebnis der Verrohung von Sprache“, sagte Fleermann. „Heute ist erneut ein Trend zur Verrohung der Sprache festzustellen“, ergänzte der Geschäftsführer der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf, Michael Szentei-Heise. Und Kultur-Staatssekretär Klaus Kaiser (CDU) warnte: „Wir leben in einer Zeit, in der Rassismus, Antisemitismus und Ausgrenzung wieder Boden gewinnen.“