Berlin. Die SPD vertagt die Entscheidung über den Fortbestand von Schwarz-Rot. Und stellt sich – überraschend klar – hinter ihre Vorsitzende.
Um 13.31 Uhr rauschen die gläsernen Lifte aus dem vierten Stock des Willy-Brandt-Hauses nach unten. Alles, was Rang und Namen in der SPD hat, steht Seit’ an Seit’ in den engen Kabinen.
Die Chefin kommt als Erste aus dem Fahrstuhl. Andrea Nahles führt die kleine Prozession der 15 Spitzenleute auf die Bühne. Die selbstbewussten Ministerpräsidenten Stephan Weil, Manuela Schwesig und Malu Dreyer (die alle schon Wahlen gewonnen haben) sind dabei, Außenminister Heiko Maas, Vizekanzler und Finanzminister Olaf Scholz, der sehr weit links steht, fast schon unter der schützenden Hand der großen Brandt-Bronze-Statue.
Andrea Nahles erfährt unverhoffte Solidarität
„Wir haben uns untergehakt. Wir setzen auf die Kraft des Zusammenhalts. Wir wollen es wissen“, verkündet Nahles im schönsten Genossensprech und in einer Mischung aus Selbstbewusstsein, Trotz und Erleichterung.
Vorsitzende stürzt man – oder stützt sie, das war in der Politik schon immer so. In der SPD allerdings übertrieb man es mit dem Stürzen oft. Nahles erfährt am Montag unverhoffte Solidarität, was nach zwei krachenden Walniederlagen keine Selbstverständlichkeit ist, aber auch nicht von Dauer sein muss.
Die SPD wartet ab, mit wem sie es in der CDU zutun bekommt
Die Resultate in Bayern, wo die SPD nur noch einstellig ist, und
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, wo die Partei zweistellige Einbußen erlitt, musste die 48-Jährige noch mutterseelenallein in der Parteizentrale erklären.
Sieger und Verlierer der Wahl in Hessen
Die Bilder der um Worte für den Niedergang ringenden Vorsitzenden hatten den Eindruck verstärkt, die erst seit April amtierende Chefin werde bei der Herkulesaufgabe, die Volkspartei SPD vor dem Untergang zu bewahren, mehr oder weniger allein gelassen. „Wir gucken auch Fernsehen und lesen Zeitung“, sagte Weil über den Lerneffekt, der nun zum neuen Bühnenbild führte.
Tribunal über die Parteivorsitzende
Einige in der SPD wollten Nahles ans Leder, weil die Partei wieder einmal als Juniorpartner der Union in einer großen Koalition böse unter die Räder geraten ist. Im Vorfeld war die Sitzung des Vorstandes teilweise zu einer Art Tribunal über die Parteivorsitzende stilisiert worden.
Rufe nach einem Vorziehen des für Herbst 2019 geplanten Parteitages wurden laut, um schon im Frühjahr über den Fortbestand der Koalition und letztlich auch über Nahles abzustimmen. „Wenn jemand meint, es schneller oder besser zu können, soll er sich melden“, hatte sie ihren Kritikern vor der Sitzung in einem Interview zugerufen.
Die Vorsitzenden der SPD seit 1946
Und wagte sich jemand aus der Deckung, Zeit dafür gab es reichlich, mehr als drei Stunden brütete der Vorstand? Die „Köpfe“ seien dran geblieben, erklärte der aus Hannover angereiste Regierungschef Weil nach der Pressekonferenz.
In Präsidium und Vorstand hätten sich alle in die Hand versprochen, „dass wir uns am eigenen Schopf aus dem Schlamassel ziehen müssen“.
Mehrheit entscheidet sich für Neustart der GroKo
Die Jusos kämpften in der Sitzung für einen früheren Parteitag, offene Kritik oder Forderungen nach einem Rücktritt von Nahles gab es nach Angaben von Teilnehmern aber nicht. Damit niemand behaupten konnte, er sei nicht gefragt worden, lässt Nahles abstimmen. Die Stimmen werden nicht ausgezählt, aber das Meinungsbild ist eindeutig.
Etwa zwei Drittel stützen Nahles’ Linie, nicht kopflos die Regierung zu verlassen und sich in gefährliche Neuwahlen zu stürzen, sondern auf einen Neustart der Koalition zu setzen.
Niels Annen, Staatsminister im Auswärtigen Amt, empfiehlt mehr Optimismus: „Die Leute schauen in unsere Gesichter und haben den Eindruck, wir diskutieren über die Verschiebung von Parteitagen. Das hat nichts mit der Lebensrealität der Menschen zutun.“ Auch Karl Lauterbach, der SPD-Gesundheitsguru mit der Fliege, mahnt, die Selbstbeschäftigung einzustellen: „Die SPD braucht bessere Laune.“
SPD-Genossen wollen Zeit gewinnen
Überraschenderweise vertagt die SPD-Führung dann einen erwarteten Beschluss über den von Nahles erarbeiteten Fahrplan, was die Partei denn zwingend mit den Koalitionspartnern CDU und CSU in den nächsten Monaten umsetzen muss, um den GroKo-Kritikern entgegenzukommen.
„Das hätte doch nach Alarmismus ausgesehen. Die stehen bei 13 Prozent und hauen eine Forderung nach der anderen aus. Wir müssen die Nerven bewahren, auch wenn es schwer fällt“, sagte ein Spitzengenosse dazu. Nun sollen die Arbeiten an der Parteireform bis zum 14. Dezember fortgesetzt werden. Nahles spricht von einem „Klärungsprozess“, der bis Weihnachten abgeschlossen sein solle. Dann wird es erneut eine Klausur der SPD-Spitze geben.
Dass die Genossen Zeit gewinnen wollen, ist nachvollziehbar. Was würde es bringen, wenn Nahles Kanzlerin Angela Merkel jetzt eine to-do-Liste übergeben würde, nach dem CDU-Parteitag Anfang Dezember mit dem Rückzug Merkels vom Parteivorsitz aber
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, Annegret Kramp-Karrenbauer oder
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bei den Christdemokraten die großen Linien vorgeben?
SPD debattiert am Wochenende in Berlin
Ministerpräsident Weil rechnet damit, dass die CDU in der Nach-Merkel-Ära auf jeden Fall einen „Rechtsruck“ vollziehen werde – was der SPD als Partei für den gesellschaftlichen Zusammenhalt strategisch neue Spielräume eröffnen könnte.
Nahles wiederholte, auf welchen Feldern ihre Partei beweisen muss, dass sie noch gebraucht wird. Kinderarmut, Pflege, Mietenstopp für fünf Jahre, dauerhaft sichere Rente. An diesem Wochenende veranstaltet die SPD in Berlin ein großen Debattencamp, zu dem mehr als 2000 Teilnehmer sowie die linken Ministerpräsidenten Alexis Tsipras aus Griechenland und Pedro Sanchez aus Spanien erwartet werden.
Es wird um die kleinen und ganz großen Fragen gehen: Wie soll der Sozialstaat der Zukunft ohne Hartz IV aussehen, wie kann die im Industriezeitalter groß gewordene SPD in der digitalen Welt überleben? Nahles nimmt das Brainstorming mit der eigenen Basis ernst.
Europawahl 2019 für die SPD entscheidend
Rückblickend auf die Zeit seit der Bundestagswahl wird in der Partei aber als größter strategischer Fehler eingeschätzt, dass Anhängern und Wählern eine komplette „Erneuerung“ der SPD versprochen worden war. Nun regiert die Partei mal wieder ordentlich, hat es aber noch schwerer als früher, eigene Erfolge als neu und bahnbrechend zu verkaufen.
So dürfte es Nahles ohne Wahlerfolge und steigende Umfragewerte dauerhaft kaum gelingen, die 450.000 Mitglieder bei Laune und in der Koalition zu halten. Zur „wichtigsten Auseinandersetzung“ des kommenden Jahres rief sie nun die Europawahl aus.
Am Abschneiden der SPD, die 2014 mit Martin Schulz als Spitzenkandidat aus heutiger Sicht famose 27,3 Prozent erreichte, wird Nahles spätestens gemessen werden, ebenso wie am Ausgang der parallel stattfindenden Landtagswahl in Bremen, wo die Partei kämpfen muss, nicht erstmals seit dem Krieg die Macht zu verlieren.
Den Humor haben sie in der SPD-Spitze nicht verloren. Welchen Spitzengenossen auf der Bühne der
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wohl gemeint habe, als er von „linksradikalen Kräften“ in der SPD gesprochen habe, die ihn aus dem Amt gedrängt hätten, fragt ein Reporter.
„Alle“, antwortet Weil mit breitem Grinsen. Auch Nahles, die einst ihre Karriere ganz links als krawallige Juso-Chefin begann, lacht auf. „Wenn man lange genug bei mir gräbt, sollte was zutage kommen.“ Aber Maaßen sei jetzt „Geschichte“, ergänzt Nahles. Sie selbst hat ein paar Monate gewonnen, damit der SPD und der großen Koalition dieses Schicksal erspart bleiben.