Essen. . Grünen-Bundeschefin Annalena Baerbock kritisiert, deutsche Städte seien auf den Klimawandel nicht vorbereitet. Ein Fonds soll Abhilfe schaffen.
Annalena Baerbock kommt gut gelaunt und entspannt zum Gesprächstermin: Nach zweiwöchigem Urlaub mit ihrer Familie ist die neue Bundesvorsitzende der Grünen jetzt zu einer Sommerreise durch die Bundesrepublik aufgebrochen. Mit Hebammen, Zollbeamten und Pflegekräften sucht sie das Gespräch, diskutierte mit Bürgern in Duisburg.
Im Interview mit WAZ-Chefredakteur Andreas Tyrock, Politikchef Lutz Heuken und Redakteurin Stephanie Weltmann spricht sie über kleine Leute, ihren Diesel-Pkw und darüber, was Klimaschutz mit sozialer Gerechtigkeit zu tun hat.
In der Ruhr-SPD ist der Ruf nach Ankerzentren laut geworden. Können Sie das nachvollziehen?
Annalena Baerbock: Für die Menschen, die zu uns kommen, muss schnell klar sein, ob sie bleiben können oder nicht. Diese Klarheit brauchen auch die Gerichte und die Kommunen. Schnelle Verfahren sind also das A und O. Deshalb dürfen wir aber nicht die Freiheitsrechte von Geflüchteten beschneiden, wie es mit den Ankerzentren der Fall wäre. Dass man da nicht hinaus kann, dass Kinder nicht die Kita besuchen können, all das verhindert Integration.
Müssen die Grünen nicht ihre Position zu den Maghreb-Staaten aufgeben und Tunesien, Algerien und Marokko als sicherer Herkunftsstaaten anerkennen, damit Abschiebungen beschleunigt werden?
Baerbock: Die Einstufung von sicheren Herkunftsländern führt nicht zu schnelleren Rückführungen. Dafür bräuchte es Rückführungsabkommen. Und die fehlen. Ich verstehe nicht, warum der Bundesinnenminister sich darum nicht kümmert und stattdessen symbolpolitisch wieder das fragwürdige Instrument der sicheren Herkunftsländer aus der Kiste holt. Das Bundesverfassungsgericht macht die klare Vorgabe, dass ein Land in seiner Gänze verfolgungsfrei sein muss, erst dann gilt es als sicher. Das gilt nicht für die Maghreb-Staaten, wo zum Beispiel Homosexuelle und kritische Journalisten systematisch verfolgt werden.
Die Abschiebung des mutmaßlichen Islamisten Sami A. wird viel diskutiert. Würden Sie ihn zurückholen?
Baerbock: Rechtsstaatlichkeit ist nicht nur für Schön-Wetter-Zeiten gedacht. Es ist die Stärke unseres Rechtsstaats, dass er seine Prinzipien gerade in Momenten hochhält, wenn er mit Feinden des Rechtsstaates umgeht. Im Fall von Sami A. halte ich es für höchst kritisch, wenn mit politischer Willkür in ein laufendes Verfahren eingegriffen wird.
„Kleine Leute? Vertrete ich schon wegen meiner Größe“
Die Grünen machen Gerechtigkeit zu einem neuen Kernthema. Ist das Ihre Kampfansage an die SPD?
Baerbock: Das ist eine Kampfansage an die Armut in unserem Land. Die soziale Frage ist die große Herausforderung, vor der unsere Gesellschaft steht. Kinderarmut und Armut im Alter nehmen zu, die Lohnunterschiede zwischen Ost und West sind immer noch gravierend. Ich habe selbst zwei kleine Kinder. Und wenn ich erlebe, dass Kinder nicht zum Geburtstag kommen, weil den Eltern am Ende des Monats das Geld fürs Geschenk fehlt, läuft was schief in unserem reichen Land. Anders als für andere sind für uns Grüne Umweltschutz und soziale Gerechtigkeit auch kein Gegensatz. Es sind ja nicht die Reichen, sondern vor allem die Ärmeren, die unter den Folgen des Klimawandels leiden oder an den schmutzigen Straßen wohnen.
Vertreten die Grünen jetzt die kleinen Leute?
Baerbock: Allein schon wegen meiner Körpergröße, bei meinen 1,60 Meter (lacht). Nein, im Ernst, wir kümmern uns um alle wichtigen Themen der Gesellschaft. Wir werden übrigens nicht nur von Oberstudienräten gewählt, sondern auch von Krankenschwestern und Handwerkern. Aber klar, hier im Ruhrgebiet ist für uns Grüne noch eine Menge an Überzeugungsarbeit zu leisten. Stahlarbeiter fragen sich zu Recht, was es für ihre Arbeitsplätze bedeutet, wenn wir eine CO2-Abgabe fordern. Da muss man hingehen und mit den Leuten sprechen. Diese Diskussionen sind hart, aber notwendig
„Die Landwirtschaft muss sich ändern“
Mit dem Veggie-Day wollte Ihre Partei noch den Menschen erklären, was sie in der Kantine essen.
Baerbock: Wir haben daraus gelernt. Wir wollen den Leuten nicht vorschreiben, wann sie Salat, Tofu oder Fleisch essen, sondern Regeln für eine artgerechte und naturschonende Landwirtschaft schaffen. Dazu gehört auch die verpflichtende Kennzeichnung in der Fleischproduktion, ähnlich wie wir sie schon bei den Eiern haben. Wer vor einem abgepackten Schnitzel im Supermarkt steht, muss wissen, unter welchen Bedingungen das Schwein gehalten wurde
Die Bauern fordern wegen der Dürre eine Milliarde Euro. Würden Sie die Hilfe auszahlen?
Baerbock: Nicht pauschal. Natürlich muss man jenen, die wirklich akut in ihrer Existenz bedroht sind, in einer Notlage unter die Arme greifen. Aber bei den Subventionen für die Bauern brauchen wir einen Systemwechsel. Gelder müssen in Zukunft an klare Leitlinien für einen klimafreundlichen Umbau der Landwirtschaft gebunden sein. Die Landwirtschaft muss ihren Teil zum Klimaschutz beitragen, das heißt, weniger Pestizide, weniger Tierbestände, weniger Monokulturen auf den Feldern. Sonst ist das ein Fass ohne Boden
Zwei Milliarde Euro für Klimahilfe in den Städten
Wie gut sind die Städte auf die Folgen des Klimawandels vorbereitet?
Baerbock: Einzelne Städte vielleicht schon, Deutschland in Gänze leider gar nicht. Das hat man politisch ignoriert, um weiter behaupten zu können, wir können beim Klimaschutz erst mal abwarten und gerade den Kohleausstieg aufschieben. Doch je später wir handeln, desto teurer wird’s: 2017 beliefen sich die Schäden durch Klimakatastrophen weltweit auf 137 Milliarden Euro, in Deutschland werden sie bis 2050 eine Höhe von 800 Milliarden Euro erreicht haben.
Was muss in den Städten folgen?
Baerbock: Wir fordern für den gesamten Bereich Klimaanpassung einen Fonds mit insgesamt zwei Milliarden Euro, für Maßnahmen in der Landwirtschaft beispielsweise, beim Gesundheits- bis Waldbrandschutz und eben auch beim Städtebau. Hier, aber auch in der städtischen Verkehrspolitik müssen wir umdenken. Teile aus diesem Fonds sollten deswegen in den Städtebau fließen, mit denen Grünflächen geschaffen, Fassaden begrünt und Frischluftschneisen gesichert werden können. Außerdem könnten davon mehr Schattenflächen eingerichtet und die Häuserdämmung verbessert werden und wir könnten die Kühlung durch hocheffiziente Wärmepumpen in den Wohnungen fördern. Dazu gehört auch der Hochwasserschutz in den Städten, in denen heftige Regenfälle wegen der kompletten Versiegelung zu Überschwemmungen führen. Das zu lösen, ist für uns auch eine soziale Frage. Es sind ja besonders die älteren Leute, die mit wenig Geld auskommen müssen, in einfachen, schlecht sanierten Wohnungen leben und seit Tagen nicht mehr schlafen können, weil die Temperatur nicht runter geht
Kann das Ruhrgebiet Vorbild sein?
Baerbock: Die Region hier würde sich auf jeden Fall anbieten. Dafür muss man aber die entsprechenden politischen Leitplanken setzen. Es gibt ja bereits einzelne vielversprechende Beispiele. So hat Bottrop innerhalb von fünf Jahren seine CO2-Ausstöße massiv reduziert. Das zeigt: Das Ruhrgebiet kann in Sachen Klimaschutz durchaus Vorbild sein. Schwarz-Gelb macht aber in Sachen Klimaschutz in NRW bislang genau das Gegenteil.
„Ich fahre noch immer Diesel“
Ein Jahr nach dem Dieselgipfel: Viel ist nicht passiert. Was muss folgen?
Baerbock: Wir brauchen die Hardware-Nachrüstung auf Kosten der Konzerne und klare Grenzwerte für den CO2-Ausstoß. Wir sollten auch über eine Quotenregelung für Elektroautos nachdenken, Länder wie China aber auch viele europäische haben die längst.
Fahren Sie noch Ihren Diesel?
Baerbock: Ja. Wir haben ihn vor Jahren als gebrauchten Kleinwagen als Familie gekauft, weil er in der CO2-Bilanz unter Klimagesichtspunkten das ökologisch sinnvollste war, wo auch Kindersitze reinpassen. Ich wurde genauso betrogen wie andere und bin jetzt in der Auseinandersetzung wegen der Nachrüstung
Wie groß ist Ihre Sorge um die Automobil-Industrie?
Baerbock: Sehr und es sagt schon etwas über die Arbeit der Bundeskanzlerin aus, dass ich mir als Grüne diese Sorgen machen muss. Das hat was mit den Beschäftigten zu tun, aber auch damit, dass wir in der Automobilindustrie die Chance zu Innovationen in der Branche verpasst haben, wenn es um alternative Antriebe aber auch um ganz andere Mobilitätskonzepte jenseits des eigenen Autos geht.
Forderung nach einem Klimaschutzsofortprogramm
Apropos Industrieland: In diesem Sommer ist die Kohlekommissionan den Start gegangen. Sie soll bis Ende des Jahres ein Datum für den Ausstieg aus der Kohle festlegen. Wie wichtig ist diese Kommission?
Baerbock: Die Kommission ist ein wichtiger Teil für den Strukturwandel, also für die Beschäftigten und die Regionen, den wir brauchen. Sie muss aber über ihr Mandat hinauswachsen. Sonst dient sie der Bundesregierung nur als Feigenblatt, um von jetzt an selbst nichts mehr zu tun. Die Klimakrise ist mit Hitzewellen, Dürren, Hochwassern und Tornados mitten in Europa angekommen. Aber die Bundesregierung weigert sich, irgendwas dafür zu tun, dass wir die Klimaschutzziele erreichen. Aber irgendwann werden uns unsere Kinder fragen, warum habt ihr damals nichts getan, obwohl ihr wusstet, was ihr uns antut und alle Mittel in der Hand hattet. Daher: Wir brauchen ein Klimaschutzsofortprogramm, in dessen Rahmen alte Kohlekraftwerke so schnell wie möglich vom Netz genommen werden, auch in NRW.
Wie erklären Sie das den Beschäftigten im Rheinischen Kohlerevier?
Baerbock: Ihre Arbeitsplätze müssen Arbeitsplätze der Zukunft werden. Dazu müssen Unternehmen und Gewerkschaften gemeinsam diskutieren, wie sie diese Jobs gesichert werden können. Bei mir in der Lausitz zum Beispiel könnte aus dem alten Kohlekonzern ein Energiekonzern mit Speichern, erneuerbaren Energien und der Sektorenkopplung werden. Dabei fällt der Kommission für den Umstieg eine zentrale Rolle zu. Mein Eindruck ist, dass sich RWE da noch nicht genug Gedanken gemacht hat.