Mossul. Gülistan Ali Hassan will die Erinnerung an die Verbrechen der IS-Terroristen wachhalten. Ihre Heimat im Nordirak hält sie weiter für unsicher.
Wenn Gülistan Ali Hassan morgens zur Arbeit fährt, ist es ein langer Weg. Sie muss sich durch viele Checkpoints quälen, die Brücke über den Tigris überqueren, an der zermalmten Altstadt vorbei. In ihrem Büro erwarten sie oft die kleinen Zettel, die unter der Tür hindurchgeschoben wurden, Zettel, auf denen Morddrohungen stehen.
Mossul, die Millionenstadt im Nordirak ist auch ein Jahr nach der Befreiung von der Terrormiliz „Islamischer Staat“ kein sicherer Ort. Besonders nicht für eine jesidische Frau, die sich für die Aufarbeitung der Verbrechen einsetzt, die während der Herrschaft der Dschihadisten begangen wurden.
Rückblende: Anfang Juni 2014 überrennt der IS Mossul, wenige Wochen später ruft die Terrororganisation das Kalifat aus, einen sunnitischen Gottesstaat, in dem Andersgläubige keinen Platz haben.
Der Hass der Dschihadisten richtet sich insbesondere gegen die schiitische Bevölkerungsmehrheit des Irak – und gegen die jesidische Minderheit, die in der Shingal-Region im äußersten Nordwesten des Landes ihren Siedlungsschwerpunkt hat. Die Jesiden sind in den Augen der Fanatiker Teufelsanbeter.
Am 3. August stürmen Terrorkommandos des IS diese Region. Hunderttausende Menschen fliehen in die Berge und in die benachbarte kurdische Autonomieregion. Tausende Frauen und Kinder werden entführt und versklavt. Tausende Jesiden sterben. Sie selbst sprechen von einem Genozid, der ihrem Volk widerfahren ist. Bis heute wurden 60 Massengräber gefunden.
Das Kalifat existiert nicht mehr
Heute gilt der IS militärisch als weitgehend besiegt. In opferreichen Kämpfen vertrieben kurdische Peschmerga, die irakische Armee und schiitische Milizionäre die Dschihadisten zwischen 2015 und 2017 aus dem einst riesigen Gebiet, das sie beherrschten. Das Kalifat existiert nicht mehr. Auch die Shingal-Region ist befreit.
Nach Hause sind bislang nur wenige Jesiden zurückgekehrt. Mindestens 250 000, andere Schätzungen sprechen von bis zu 350 000, von ihnen leben noch in den Flüchtlingscamps in der kurdischen Autonomieregion, in Rohbauten oder in angemieteten Wohnungen. Etwa 70 000 sind ins Ausland gegangen, die meisten nach Deutschland.
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Gülistan Ali Hassan ist eine kleine, energische Frau, die einzige jesidische Abgeordnete im Rat der Provinz Nineveh, zu der Mossul, die Shingal-Region und die mehrheitlich von Christen bewohnte Nineveh-Ebene gehören. Zu Hause im Irak trägt sie schwarz. Im Frühjahr sind bei einem Autounfall ihr Fahrer und zwei ihrer Leibwächter gestorben. Sie überlebte den Unfall schwer verletzt.
Wenn sie lange Strecken gehen muss, braucht sie einen Stock. Das Schwarz trägt sie aus Respekt für die Toten. Gülistan kämpft dafür, dass die jesidische Minderheit eine Zukunft im Irak hat, für die 3000 Frauen und Kinder, die noch immer entführt sind, für die Entschädigung der Opfer und dafür, dass die Verbrechen des IS aufgearbeitet werden.
Wiederaufbau läuft schleppend
Dafür ist sie für einige Tage nach Deutschland gekommen, um mit Politikern über die Lage im Irak zu sprechen. Die Befürchtung der Menschen dort ist groß, dass ihr Schicksal vergessen wird. „Ich wünsche mir, dass die deutsche Regierung sich mehr für unser Anliegen engagiert. Deutschland muss mehr Druck auf die Regierung in Bagdad ausüben“, fordert Gülistan.
Tatsächlich läuft der Wiederaufbau allenfalls schleppend. Die Dörfer und Städte in der Shingal-Region liegen noch immer größtenteils in Trümmern. Die Infrastruktur ist zerstört und die politische Lage undurchsichtig. „Bei uns gibt es keine Sicherheit. Es herrscht Chaos“, klagt Gülistan.
In Shingal haben schiitische Milizionäre das Kommando übernommen, deren Loyalität weniger Bagdad als Teheran gilt. In Mossul ist der IS noch immer aktiv. „Es gibt zahlreiche Schläferzellen. Manche Kämpfer haben sich gegen Bezahlung für tot erklären lassen und leben jetzt unter einer neuen Identität.“
„Jesiden sind Deutschland dankbar“
Dazu kommt das Gebaren der Befreier Mossuls. Die Stadt ist eine sunnitische Hochburg. Die Soldaten und Milizionäre sind größtenteils Schiiten. An den Checkpoints wehen schiitische Fahnen, es wirkt, als habe eine Besatzungsarmee die Kontrolle. Einer der wichtigsten Kommandeure in Mossul ist Abu Mahdi al-Muhandis, ein Mann, den die USA als Terroristen führen. „Viele Menschen sind wütend“, sagt Gülistan. Manche wünschten sich sogar die Zeit des Kalifats zurück.
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Gülistan hat immer wieder Briefe an den irakischen Ministerpräsidenten Haider al-Abadi geschrieben und ihn gebeten, sich für die jesidische Minderheit einzusetzen. Sie hat keine Reaktion bekommen. Für sie selbst ist ihr Engagement lebensgefährlich.
Sie findet nicht nur die Zettel mit den Morddrohungen in ihrem Büro. „Manchmal kommen auch Leute zu mir, die mir Drohungen überbringen.“ Übernachten kann sie in Mossul nicht. Es ist viel zu gefährlich, trotz der fünf Leibwächter, die sie schützen. Sie will aber nicht aufgeben.
Lage wird sich wohl vorerst nicht verbessern
Wenn sich die Situation nicht alsbald ändere, befürchtet Gülistan einen weiteren Exodus. An eine Rückkehr der nach Deutschland geflüchteten Jesiden sei dann auch nicht zu denken. Obwohl sich viele wünschten, wieder nach Hause zurückkehren zu können. „Die Jesiden sind Deutschland sehr dankbar, sie sind sehr gut behandelt worden. Sie wollen aber trotzdem in ihrer Heimat leben.“
Derzeit spricht wenig dafür, dass sich die Lage für die Jesiden im Irak verbessern könnte. Die Zentralregierung in Bagdad hat derzeit mit anderen Problemen zu kämpfen. Im schiitischen Süden des Landes ist vor drei Wochen ein Proteststurm gegen die Zentralregierung ausgebrochen, der sich ausbreitet. Bislang gab es mindestens ein Dutzend Tote. Gülistan will den Irak trotz aller Probleme nicht verlassen. „Ich vertrete mein Volk, ich trage Verantwortung. Also bleibe ich in meinem Land. Man muss im Leben mutig sein. Man muss viel riskieren.“