Essen. . Wissenschaftler warnen vor wachsender Kinderarmut. Die Zahlen seien in Duisburg, Mülheim, Hagen und Gelsenkirchen überproportional gewachsen.
Trotz des wirtschaftlichen Aufschwungs und seit Jahren sinkender Arbeitslosenzahlen leben immer mehr Kinder in Hartz-IV-Haushalten. „Wir erleben eine wachsende Spaltung der Gesellschaft“, sagt der Bochumer Sozialwissenschaftler Volker Kersting. „In manchen Stadtteilen lebt die Hälfte der Kinder und Jugendlichen in Armut.“
Kersting ist Mitautor einer Studie der Bertelsmann Stiftung zur Kinderarmut in NRW, die dieser Zeitung vorliegt. Wurden bislang die Daten allein auf kommunaler Ebene erhoben, nimmt der „Keck-Atlas Nordrhein-Westfalen“ nun erstmals das gesamte Bundesland in den Blick.
Zuwanderung spielt eine Rolle
Danach sind in NRW knapp 500 000 Kinder unter 15 Jahren von Armut betroffen – laut Studie ein „neuer Höchststand“. 70 000 Kinder mehr als im Jahr 2012 leben demnach in Bedarfsgemeinschaften, also in Haushalten, die Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch 2 (Hartz IV) beziehen. Das sei in NRW fast jedes fünfte Kind – und damit deutlich mehr als im Bundesvergleich (16 Prozent).
Zwar spiele bei dem Zuwachs auch die Zuwanderung durch Flucht und Migration seit Ende 2015 eine Rolle, räumt Kersting ein, doch die Zahlen seien schon zuvor gestiegen. Der Sozialwissenschaftler schätzt, dass der Anteil der Migrantenkinder an den jungen Hartz-IV-Empfängern in NRW etwa zehn Prozent ausmacht.
Anhand der Daten der Bundesagentur für Arbeit vom Dezember 2017 werde deutlich, dass Kinder überdurchschnittlich häufig von Armut betroffen sind. Während etwa zwölf Prozent der unter 65-Jährigen Sozialleistungen beziehen, gelte dies für 19 Prozent der unter 15-Jährigen und sogar für 20,5 Prozent der Kinder unter sieben Jahren. Der Vergleich mit den Vorjahren zeige, dass immer mehr Kinder arm und zudem überdurchschnittlich lange auf Sozialgeld angewiesen sind, so die Studie. Angesichts der alarmierenden Entwicklung mahnt Kersting: „Wir verspielen unsere Zukunft.“
Dabei gebe es große Unterschiede zwischen den Kommunen. Während in manchen Kreisen und kreisfreien Städten weniger als zehn Prozent der Kinder in Armut lebten, gebe es Regionen, in denen mehr als jeder dritte Jugendliche Hartz IV beziehe. Die Werte variieren dabei von unter neun Prozent in Borken und Coesfeld bis hin zu über 43 Prozent der Kinder in Gelsenkirchen (siehe Grafik).
Ein Problem des Ruhrgebiets
Besonders problematisch ist demnach die Lage im Ruhrgebiet. In 13 Kommunen lebt laut der Erhebung mehr als jedes vierte Kind unter 15 Jahren in Armut. Zehn dieser Städte liegen im Revier. „Daraus folgt, dass Kinderarmut vor allem ein Problem des Ruhrgebiets ist“, heißt es in der Studie. Die Zahlen seien besonders in Duisburg, Mülheim, Hagen und Gelsenkirchen überproportional gewachsen. Die einzigen Städte, in denen die Kinderarmutsquote leicht gesunken ist, waren Hamm und Düsseldorf.
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Kersting sagt dazu: „Die Städte im Revier erleben eine zunehmende Konzentration von Kinderarmut in benachteiligten Quartieren. Dadurch wachsen die Probleme in diesen Stadtteilen weiter an.“ Die „soziale Segregation“, also die räumliche Trennung zwischen Arm und Reich, sei vor allem im Ruhrgebiet zu beobachten. „Hier wächst die soziale Spreizung, und der Abstand zu anderen Regionen im Land nimmt zu“, so Kersting.
Kinder beziehen oft jahrelang Hartz IV
Sorge bereite den Sozialwissenschaftlern zudem, dass Kinder oft jahrelang von Hartz IV abhängig bleiben. Fast die Hälfte aller Kinder bis 15 Jahren, die Sozialgeld beziehen, erhielten die Leistungen seit mindestens vier Jahren. In zehn Ruhrgebiets-Kommunen liegt die Quote der „Dauerbezieher“ sogar bei über 50 Prozent. „Das heißt, für mehr als die Hälfte der Kinder ist Armut keine Phase, sondern ein Dauerzustand“, so die Autoren.
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Kersting richtet einen dringenden Appell an die Politik: „Seit Jahrzehnten nehmen wir hin, dass viele Kinder unter diesen Verhältnissen aufwachsen. Die Politik in Land und Bund ist gefordert, hier gegenzusteuern.“ Kinderarmut, mangelnde Teilhabe und räumliche Armutsverdichtung sind nach seiner Ansicht „politisch unterbelichtete Probleme“.
Daran soll auch die Studie etwas ändern. Die Daten stehen jeder Kommune zur Verfügung und zeigen kleinräumige Unterschiede bei sozialer Lage, Gesundheit, Umwelt und Infrastruktur. Damit wollen die Initiatoren eine Debatte anstoßen und den Kommunen eine Zahlenbasis bieten, um auf lokaler Ebene handeln zu können.
Der Keck-Atlas NRW
Keck steht für „Kommunale Entwicklung – Chance zur Kooperation“. Derzeit sind 30 Kommunen beteiligt, sie nutzen die Daten als Grundlage für die kommunale Entwicklung. Im Ruhrgebiet sind Duisburg, Gladbeck, Hagen, Herne und Mülheim angeschlossen. Erstmals wurden für den neuen Keck-Atlas Daten für ganz NRW erhoben. Die Studie soll laufend aktualisiert werden. Internet: www.keck-atlas.de