Hamburg. Was geschah wirklich beim G-20-Gipfel in Hamburg? Zeugenaussagen und Dokumente ergeben ein neues Bild der Ereignisse. Ein Dossier.
Am Anfang ist da ein einziger Moment der Gelassenheit. Die Sonne brennt auf den Valentinskamp im Zentrum von Hamburg, 1500 Menschen schieben sich in Richtung der nahen Alster, sie stampfen, feiern, bunt verkleidet, aus den Lautsprecherwagen des sogenannten Demo-Raves drückt der Bass. Plötzlich wirft ein Mann eine Flasche auf ein Polizeiauto, das vor dem Aufzug steht.
Es klirrt, splittert. Blicke schnellen nach vorn. Aber dann passiert: nichts. „Halb so wild“, brummt ein Polizist. Die Meute tanzt weiter. Nur eine ältere Frau mit Jutebeutel am Rande sagt, sie habe ein ganz mieses Gefühl. „Der Wirbelsturm rollt doch schon auf uns zu.“ Sie ahnt am Abend dieses 5. Juli 2017 selbst nicht, wie sehr sie recht behalten wird.
Glassplitter in der Seele der Stadt
72 Stunden später wird Hamburg eine andere Stadt sein, eine geschundene und zerrissene Stadt. Das Schanzenviertel wird ein rauchendes Trümmerfeld sein und der so selbstgewisse Bürgermeister tief erschüttert, die Elbchaussee ein Zeugnis der Zerstörungswut; weit mehr als 500 Menschen werden im Krankenhaus liegen und Kinder traumatisiert sein.
Die stärksten Bilder vom G20-Gipfel 2017
Donald Trump, Angela Merkel und die anderen Staatsgäste des G-20-Gipfels werden lächelnd wieder in ihre Flugzeuge gestiegen sein und Hamburg mit zwei Fragen allein gelassen haben, die noch ein Jahr später wie Glassplitter in der Seele der Stadt stecken und schmerzen.
Was ist in jenen Tagen bloß passiert? Und wie konnte es geschehen?
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Unsere Redaktion hat mit mehr als einem Dutzend Zeugen des G-20-Gipfels gesprochen, mit Anwohnern, Politikern, Polizisten, Demonstranten und Entscheidungsträgern, die nur gemeinsam haben, dass sie alle die Kontrolle verloren. Auch vertrauliche Dokumente und die Aussagen im Sonderausschuss zeichnen ein neues Bild jener Tage im Juli 2017, in denen die staatliche Ordnung ins Wanken geriet – eines von greller Gewalt, persönlichen Dramen und wenigen Momenten der Hoffnung.
Donnerstag, 9 Uhr: Die überforderte Stadt
Wolfgang Schmidt hat im berühmten Hotel Atlantic an der Alster sein Hauptquartier bezogen. Hamburgs Außen-Staatsrat will nah dran sein an der deutschen Delegation, nah am Geschehen. Tausendmal hat die Stadt durchgespielt, wie die Ankunft der Staatsgäste ablaufen soll, ohne dass die öffentliche Ordnung kollabiert. Die großen Verbindungswege in die Innenstadt sollen frei bleiben, erst am Nachmittag jeweils kurzfristig für den Verkehr gesperrt werden. Wolfgang Schmidt ahnt bald, dass wenig so ablaufen wird wie geplant.
Schon am Vormittag haben die Regierungsjets in kurzer Folge am Flughafen aufgesetzt. Der chinesische Präsident Xi Jinping kam schon am Abend zuvor, weder die Polizei noch die Stadt waren informiert. Das Auswärtige Amt habe einen „hängen lassen“, werden Beamte später sagen. Die Ausfallstraßen rund um die Innenstadt bleiben dauerhaft gesperrt, auswärtige Polizeieinheiten weisen die Autofahrer in die Irre.
Senatoren müssen S-Bahn fahren
„Das ist schon eine Zumutung für die Stadt“, ist sich Schmidt schnell bewusst. Zwar scheint die Sonne, aber die Atmosphäre ist bedrückend. Schmidt pendelt zwischen Rathaus, Messehallen und dem Flughafen hin und her, das Smartphone immer griffbereit, um den Transport der Staatsgäste zu dirigieren. Senatoren, die ebenfalls zum Abholen der internationalen Gäste eingeteilt sind, bleiben in ihren Dienstlimousinen im Stau stecken; sie müssen mit der S-Bahn zum Flughafen weiterfahren.
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Die Lehrerin Berit Schwarz muss nur für zwei Stunden in die Schule zu einer Besprechung. Sie nimmt das Auto; schließlich haben die Behörden immer wieder erklärt, dass es nur zu vorübergehenden Sperrungen komme. Auf dem Weg zur Schule werden immer mehr Straßen gesperrt, ihres ist das letzte Auto, das passieren darf. Glück gehabt, denkt die 47-Jährige.
Überall in der Stadt ist Stau
Schon in der Schule merkt Berit Schwarz, dass sie sich getäuscht hat. Der Fahrer des Caterers, der die Grundschüler täglich mit Mittagessen versorgt, kommt nicht durch. Überall ist Stau. Ähnlich geht es den Essenslieferanten an anderen Schulen. Die Verkehrssituation in der Stadt ist außer Kontrolle. Doch Schwarz’ Schüler sind hungrig.
In der großen Pause laufen einige Lehrer der Fritz-Köhne-Schule zum Supermarkt und kaufen vom eigenen Geld Würstchen und Äpfel. Doch das reicht nicht, um alle Kinder satt zu bekommen, zumindest nicht so satt, dass sie den Nachmittagsunterricht bis vier Uhr noch durchhalten. Weil es kein Mittagessen gibt, muss die Schule sie nach Hause schicken. Jetzt hängen sich die Lehrer ans Telefon und rufen die Eltern an, damit – wer kann – seine Kinder abholt.
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Michael Arning stellt seine Ausrüstung für den Tag zusammen. Kamera Fuji X-Pro II, die ausgeblichene grüne Jacke mit großen Farbflecken, Spuren der vergangenen Einsätze. Arning ist seit 20 Jahren Polizeifotograf beim „Hamburger Abendblatt“. Er hat die Krawalle um den Bauwagenplatz Bambule erlebt und jedes Jahr die ritualisierten Ausschreitungen um den 1. Mai begleitet. Ein paarmal ist er selber angegriffen worden, Steine zertrümmerten das eine oder andere Objektiv. Kollateralschäden. Ist halt so.
„Wer Angst hat, soll zu Hause bleiben“
Der G-20-Gipfel hat für ihn schon sechs Tage zuvor begonnen. Als er den ersten Hubschrauber über der Alster sah, wusste er, dass er in dieser Woche erneut auch seine Gesundheit aufs Spiel setzen würde. Er hat überlegt, den Dienst abzusagen, lieber daheim in Wandsbek mit dem Hund zu spielen. „Oder aus der Stadt zu flüchten.“ Der G-20-Gipfel hat schon jetzt eine Dimension, die selbst Arning nicht geheuer ist.
Aber nun macht er sich doch auf, zur Großdemo „Welcome to Hell“, bei der der Aufmarsch des Schwarzen Blocks bevorsteht. Und wer das beste Bild haben will, muss an die Front. „Wer Angst hat, soll zu Hause bleiben“, findet Arning. Großen Respekt vor der Situation hat er trotzdem. Er stellt das Auto ab, steigt in die Bahn und hofft auf Reporterglück.
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Die Air Force One setzt wie ein bläuliches Raumschiff auf dem Flughafen in Hamburg-Fuhlsbüttel auf. Die Gangway wird herangeschoben, der rote Teppich entrollt, und die Tür gleitet auf. Hamburgs Erster Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) wartet am unteren Ende der Treppe auf Donald Trump. Der Händedruck kommt Scholz kurz und geschäftsmäßig vor, es ist wohl eine Geste der Freundlichkeit, keine Machtdemonstration. Dann ein sanfter Händedruck mit Trumps Gattin Melania. Ein Blumenstrauß. Kameras klicken.
Unfälle auf den Autobahnen erhöhen den Verkehrsdruck
Das Protokoll hat alle Schritte genau abgezirkelt, erst den Teppich entlang, dann ein Rechtsschwenk und zwei Dutzend Schritte in Richtung des Präsidenten-Helikopters Marine One. Ja, Hamburg sei eine sehr schöne Stadt, sagt Trump. Wundervoll. „Great to be here.“ Zweieinhalb Minuten Small Talk.
Auch Staatsrat Wolfgang Schmidt ist bei den Begrüßungen dabei. Die Prominenz der Staatschefs, der große Moment, das gibt ihm eigentlich nichts, sagt der heute 47-Jährige. Aber als dann Emanuel Macron vor ihm steht, freut er sich, sie plaudern auf Französisch.
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Schmidt erreichen die Meldungen aus der Stadt, immer wieder sind vereinzelt Menschen auf den Konvoistrecken, der Kollaps ist längst perfekt. Schmidt leistet noch Spitzenpolitikern am Flughafen Gesellschaft, weil deren Fahrtstrecke nicht frei ist. Unfälle auf der A 1 und A 7 sorgen für zusätzlichen Verkehrsdruck auf die Stadt. Und dann, im Gegensatz zu den übervollen Straßen, die menschenleere Innenstadt mit den kreisenden Hubschraubern und den ewigen Polizeisirenen. Alle Staatsgäste sicher in die Hotels zu bringen sei eine „logistische Meisterleistung.“
Donald Trump bekommt von diesen Sorgen nichts mit. Sein Helikopter bringt ihn zum Gästehaus des Senats. Von Stau lässt sich die politische Dampfwalze bestimmt nicht stoppen.
Polizisten aus NRW kenn sich nicht aus
Lehrerin Berit Schwarz will einfach nur nach Hause kommen. Sie meidet ihren üblichen Heimweg, schaut zwischendurch auf Google Maps, um dem größten Chaos zu entgehen, weicht aus. Doch ein Stück außerhalb der Innenstadt steckt sie fest, in einem Gewirr aus engen Einbahnstraßen, in das immer mehr Autos einfahren. Dass ganz vorn abgesperrt und ohnehin kein Durchkommen ist, merken sie erst, als sie die Absperrung erreichen. Die Polizisten wissen keinen Rat, sie kennen sich nicht aus, kommen aus Nordrhein-Westfalen.
Berit Schwarz will ihr Auto abstellen und zu Fuß weitergehen, doch es gibt keinen freien Platz für das Fahrzeug. Erst um 14.30 Uhr gelangt sie langsam aus dem verstopften Einbahnstraßengewirr heraus, kann endlich ihr Auto abstellen und zu Fuß nach Hause gehen.
Als sie dort ankommt, ist es 16 Uhr. Auch vor ihrer Tür im Stadtteil Uhlenhorst herrscht Chaos, noch zehn Stunden lang. Die Polizei hat viele Straßen gesperrt, die Umleitung führt durch Wohnstraßen. Große Lastwagen – teilweise mit Anhänger – versuchen zu rangieren. Die Polizisten sind völlig überfordert.
Donnerstag, 16 Uhr: Das Fanal der Gewalt
Andy Grote (SPD) verbringt schon den halben Tag im Auto; die Polizisten bemühen sich, dass wenigstens der Innensenator noch halbwegs vorankommt. Es gibt eine vorbereitete Liste von Orten, Polizeikräften und Abteilungen, die er besuchen könnte, um sich zu informieren. Sie wird von den realen Ereignissen völlig durcheinandergebracht werden.
Man dürfe sich als Innensenator aber nie anmaßen, den Polizeiführer noch Tipps erteilen zu wollen. „Das ist, als wenn man als Kapitän in den Maschinenraum geht und in die Maschine greift. Das macht man dann nicht“. Damit ist aber auch klar: Grote hat die politische Verantwortung, aber muss sich auf die Taktiker der Polizei verlassen.
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Bei „Welcome to Hell“ will er sich selbst ein Bild machen. Die Sonne brennt auf den Fischmarkt nahe der berühmten Landungsbrücken herunter, Bier fließt in Plastikbecher. Als sich Grote inmitten von Personenschützern zeigt, kocht die Stimmung hoch. Sie bepöbeln ihn. Er solle abhauen. Grote, eingesessener St.-Paulianer, ist es gewohnt, auch ein Feindbild zu sein. „Man muss versuchen, das so gut es geht abperlen zu lassen“, sagt Grote zu den Beschimpfungen. Wichtiger ist ihm, zu sehen, wie es den Beamten vor Ort ergeht.
Grote spürt eine „große Ernsthaftigkeit“
Noch am Vorabend haben Hunderte kunstvoll geschminkte Figuren bei einer Kunstaktion gegen G 20 protestiert, Grote konnte das Treiben von seinem Bürofenster aus beobachten. Da hatte er noch die Hoffnung, dass solche Bilder friedlichen, kreativen Protests den Gipfel prägen würden. Aber nun kommt der kribbelige Teil. Seine Frau ist hochschwanger und für ein paar Tage zu Freunden gezogen, die gemeinsame Wohnung auf St. Pauli verwaist. Der Innensenator spürt eine „große Ernsthaftigkeit“, ist wie im Tunnel.
Auch Hartmut Dudde macht einen Ortsbesuch. Der Gesamteinsatzleiter der Polizei gilt als jemand, der praktisch nie die Ruhe verliert, selten zögert, aber fast immer noch Zeit für einen flapsigen Spruch findet. 33.000 Polizisten stehen zu seiner Verfügung, es ist der größte Einsatz in der Geschichte der Bundesrepublik.
Ein fataler Irrtum
Dudde ist der große Stratege, aber die Entscheidungen werden die Abschnittsleiter vor Ort treffen. Es kommt die Idee auf, die Flutschutzmauer zwischen Fischmarkt und Landungsbrücken räumen zu lassen, aber sie wird wieder verworfen. Der Demonstrationszug auf der Hafenstraße sei beherrschbar. Es wird der bislang vermutlich größte Irrtum in seiner Karriere sein. Er fährt zurück ins Präsidium.
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Andreas Blechschmidt hat sich nicht wirklich um den Job gerissen. In der Öffentlichkeit ist er als Sprecher der Roten Flora bekannt; dann fragte ihn ein Bündnis von mehr als 20 autonomen Gruppen, ob er auch als Versammlungsleiter von „Welcome to Hell“ fungieren würde. Da könne man einen alten Hasen wie ihn brauchen, der seit 30 Jahren in der linken Szene führend mitmischt.
Man kennt und respektiert sich
Vor der Demonstration hat er ein klares Ziel ausgegeben: Die Teilnehmer wollen „durchmarschieren“, den geplanten Endpunkt erreichen. Keine Dummheiten, keine Provokationen. Mit sogenannten „Mobilisierungs-Kits“ hatten die Gruppen in ganz Europa mobilisiert, der Mitorganisator Andreas Beuth vom „größten Schwarzen Block aller Zeiten“ fabuliert. Und davon, dass es auch abseits und nach der Demonstration keine Gewalt geben dürfe, war keine Rede.
Am Fischmarkt trifft Blechschmidt mit Joachim Ferk zusammen, einem fleischigen, groß gewachsenen Kerl in Kampfmontur, der die Einheiten der Bereitschaftspolizei vor Ort befehligt. Man kennt und respektiert sich, spricht die Spielregeln für den Demonstrationszug durch. Ferk behält sich vor, den Aufzug auch seitlich mit behelmten Beamten abzusichern. Blechschmidt will keinen „Wanderkessel“.
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Polizeifotograf Michael Arning schießt sich warm, Bild um Bild: In dichter Folge schweben Marinehubschrauber über den Fischmarkt und die Bühne, auf der gerade die Punk-Band Goldene Zitronen spielt. Tausende Menschen drängen sich dort, kurz vor dem Start der angstvoll erwarteten Demo „Welcome to Hell“. Weil die Menge in einem der Hubschrauber US-Präsident Donald Trump vermutet, grölt sie im Chor: „Hau ab, hau ab.“
Hunderte Linksautonome mit wehenden Fahnen
Junge Alternative hocken mit einem Bier auf den Pflastersteinen oder genehmigen sich einen Imbiss an den mobilen Volxküche-Kochständen. Oder tanzen. Oder plaudern miteinander. Als urplötzlich, woher auch immer, Hunderte Linksautonome mit wehenden Fahnen unter „Hoch die internationale Solidarität“-Gesängen auf den Fischmarkt marschieren, ahnt Arning: Das ist nicht alles.
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19 Uhr. Die Mitglieder des Schwarzen Blocks haben sich wie selbstverständlich nach vorn geschoben. Sie tragen schwarze Jacken und Regenumhänge, Rucksäcke. Bei der Polizei sind Hinweise eingegangen, dass die Autonomen bereits an der Reeperbahn randalieren wollen. Der Demonstrationsaufzug läuft los, 100 Meter über die Hafenstraße, 300 Meter, 500 Meter, plötzlich Stopp. Wasserwerfer schieben sich als stählerner Riegel in den Weg.
Blechschmidt und Ferk im Niemandsland
Es gibt ein Niemandsland zwischen beiden Seiten, Blechschmidt und Ferk treffen sich dort und diskutieren erneut. Es seien zu viele Vermummte im Aufzug, sagt Ferk, eine Straftat. Blechschmidt weist darauf hin, dass der Schwarze Block doch ganz ruhig bleibe, nicht einmal Parolen skandieren sie. Über beiden Seiten des Demonstrationszuges stehen Massen an Menschen, es hat etwas von einer Fußballarena. Die Sympathien sind klar verteilt. „Haut ab“, schallte es wieder in Richtung Polizei.
Aus einem Wasserwerfer krächzt die Durchsage, die Vermummung abzulegen. Blechschmidt taucht in die Reihen ab und redet, gestikuliert. Viele gehorchen, ziehen die Tücher von ihren Gesichtern. 19.15 Uhr. Noch eine Durchsage, ansonsten seltsame Ruhe. Ferk wird später sagen, Blechschmidt habe überfordert gewirkt – wie der berühmte Zauberlehrling, der die gerufenen Geister nicht mehr im Griff hat. Sein Gegenüber sagt, es schien selbst die Polizei nervös zu machen, dass sich die Linksextremen „nicht zu etwas provozieren ließen“.
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Einsatzleiter Hartmut Dudde sieht die Situation auf vier mal vier Meter großen Monitorwänden im Polizeipräsidium. Bei ihm ist auch eine Juristin. Sie wägen die Optionen ab. Klar ist: Einen vermummten Aufzug darf die Polizei rechtlich nicht zulassen. Die Juristin bringt ins Spiel, den Schwarzen Block im Notfall vom Rest der Versammlung abzutrennen. Die beste Variante, glauben die Polizisten vor Ort.
Nach einer halben Stunde sagt Blechschmidt dem Einsatzleiter, es gehe voran. Tatsächlich steht der vordere Abschnitt zwar in Schwarz, aber unvermummt da. Im hinteren Teil des Aufzuges sind jedoch noch mindestens mehrere Hundert – nach späteren Polizeiangaben sogar 1500 Menschen – vermummt. Wie viel später bekannt wird, sind darunter auch mindestens vier verdeckt eingesetzte „Tatbeobachter“ der Polizei. Joachim Ferk erreichen Meldungen, dass Flaschen auf Polizisten geflogen seien.
Das Chaos bricht aus
Blechschmidt läuft los, um mit den vorwiegend ausländischen Teilnehmern im hinteren Teil zu reden. Ankommen wird er nicht.
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Das Chaos bricht aus, und Michael Arning steht zwischen den Fronten. Eine Polizeieinheit ist im hinteren Teil in den Aufzug hineingeprescht. Nur einen Wimpernschlag später zünden die Teilnehmer im Schwarzen Block ihr Arsenal. Eine Rauchbombe hüllt den vorderen Teil des Schwarzen Blocks ein. Arning hechtet zur Flutschutzmauer, drückt sich an sie und hält drauf. Im Gegensatz zu den meisten Kollegen trägt er keinen Helm – das würde ihn erst recht zur Zielscheibe machen, glaubt er.
Von oben fliegen Flaschen und Steine auf die Beamten. Dann lassen die Wasserwerfer „Hamburger Wetter“ regnen, Polizisten mit Schlagstöcken und Pfefferspray stürzen sich ins Getümmel, neben einer Rauchbombe liefern sich ein einzelner Beamter und ein Vermummter einen Faustkampf. Die vorrückenden Polizisten auf der Erhöhung stauchen die Menschenmassen zusammen, eine unbeteiligte Journalistin wird über die Mauer gedrückt und stürzt.
Polizeipressesprecher flüchtet in Rettungswagen
Mitten in der Straßenschlacht treffen sich auch Andreas Blechschmidt und Joachim Ferk ein weiteres Mal. Der Versammlungsleiter ist empört, enttäuscht. Der Polizist sagt, es habe keine andere Wahl mehr gegeben; aus dem Aufzug heraus seien Beamte bereits mit Flaschen angegriffen worden. Dann, so erinnert es Blechschmidt, zieht Ferk seinen Einsatzhelm herunter und läuft los.
Auf der Hafenstraße gibt es keinen sicheren Fleck mehr. Auch Polizeipressesprecher Timo Zill wird angegriffen. Er flüchtet in einen Rettungswagen. Die Täter versuchen demnach, die Tür des Rettungswagens aufzureißen, und schlagen auf sie ein. Der Wagen fährt schließlich mit Blaulicht davon.
Ulla Mazkouri geht einkaufen
Aus dem Lautsprecherwagen der Demo poltert eine Stimme über angeblich „rechtswidriges und ekelhaftes“ Vorgehen der Polizei. Dann ertönt ein Lied, Gitarrenriffs wie Donnerschläge. „Killing in the Name“ von Rage Against the Machine.
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Ulla Mazkouri, 73 Jahre alt, genießt ihr ruhiges Leben. Ihre Appartement-Anlage nahe des Hafens liegt geschützt in einem großen Innenhof. Sie nennt die Anlage „meine Oase“. Alte, weiß geklinkerte Arbeiterhäuser sind hier modernisiert worden, überall Bäume und Grün.
Um G20 schert sich Ulla Mazkouri nicht sonderlich, sie meidet den Trubel, sie hasst Massenansammlungen, und die seit Tagen über ihrem Viertel kreisenden Hubschrauber empfindet sie als lästig. Sie findet es falsch, einen Gipfel in unmittelbarer Nachbarschaft der linken Szene zu veranstalten. Sie findet es gefährlich und „schwachsinnig“.
Ulla Mazkouri kann die bereits tobenden Krawalle in zwei Kilometern Entfernung nicht hören und verfolgt sie nicht. Sie geht einkaufen.
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Auf der Bühne stehen die Superstars. Herbert Grönemeyer, Shakira, Coldplay. Alle spielen ohne Gage, die Ränge werden zu einem rot schimmernden Meer aus Handylichtern. Auch der kanadische Premierminister Justin Trudeau spricht ein Grußwort. Die Barclaycard Arena im Hamburger Volkspark ist in diesen Stunden eine Kirche für alle, die mit friedlicher Stimme Druck auf die Politiker der G-20-Staaten ausüben wollen.
Die Zahl der Verletzten steigt schnell
Der Plan geht nicht auf, und Einsatzleiter Hartmut Dudde sieht es schnell. Zwar wurde der Schwarze Block abgetrennt; aber statt unten auf der Hafenstraße festzusitzen, werden die Mitglieder des Schwarzen Blocks von Unterstützern hoch auf eine Flutschutzmauer entlang der Straße gezogen.
Die Zahl der Verletzten auf beiden Seiten steigt schnell auf mehr als 80 Personen; von rund 800 Straftaten bei „Welcome to Hell“ wird die Polizei später sprechen. Aber statt die Randalierer festnehmen zu können, geht es im Chaos nur noch um „Lagebereinigung“. Einzeln oder in kleinen Gruppen brechen die Mitglieder des Schwarzen Blocks durch die Reihen der Schaulustigen auf den Erhöhungen. Im Schatten eines Wohngebäudes reißt sich einer die nasse Jacke, Marke „North Face“, vom Körper, zieht ein blaues T-Shirt an und kämmt sich noch die Haare. Die Unschuld vom Lande. Danach schlendert er wie viele andere unbehelligt davon.
Wer hat angefangen, Linke oder Polizei?
Im Garten des Restaurants Schweinske findet Michael Arning einen Moment Ruhe. Eine Gruppe von Journalisten hat sich dort zufällig getroffen, von „Welt“, „Zeit“, „Stern“, sie sitzen auf Bierbänken, essen Pommes frites und reden; es hat etwas von einer Selbsthilfegruppe. Was bitte ist da eben passiert? Wer hat angefangen, Linke oder Polizei? Alle waren in nächster Nähe, niemand kann es genau sagen.
Auf der angrenzenden Kreuzung formieren sich erneut Hunderte Demonstranten. Sie wollen weiterprotestieren, die Polizei lässt sie gewähren. Trotzdem kommt es in den Nebenstraßen zwischen St. Pauli und Hafen noch immer zu kleineren Zusammenstößen. „Katz und Maus, das Übliche“, sagt Arning.
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Die Rentnerin Ulla Mazkouri hat die Einkäufe im Kühlschrank verstaut und legt sich in ihrer Wohnung aufs Sofa – plötzlich ein Knall, einer unter vielen an diesem Abend, nur eben deutlich lauter und näher. Als Ulla Mazkouri ihn hört, denkt sie gleich: „Was ist mit meinem Auto?“
Das Auto ist ein Audi A2, älteres Baujahr. Einer ihrer vier Söhne, ein angehender Mechatroniker, hat ihn für die Mutter nach einem Auffahrunfall monatelang restauriert. Manchmal fährt Ulla Mazkouri damit einfach an die Elbe, dreht die Songs von Elvis Presley auf und singt laut mit. Das Auto bedeutet Freiheit für Ulla Mazkouri. Sie dreht so gern Runden mit dem Audi, wie andere Billard spielen oder joggen.
„Wir können die Rauchsäule sehen!“
Gegen 21.40 Uhr klingelt eine Polizistin an ihrer Tür. „Ihr Auto brennt“, sagt die Beamtin. Ihren Audi A2 kann sie nicht sehen, weil ein Löschfahrzeug der Feuerwehr davorsteht. Bei einem Autobrand entstehen Temperaturen von fast 1000 Grad. Als sie am Handy ihren Sohn erreicht, der gerade im nahe gelegenen Karolinenviertel mit seiner Freundin grillt, sagt er nur: „Wir können die Rauchsäule sehen!“
Ulla Mazkouri hat früher als Erzieherin gearbeitet und vier Söhne großgezogen. Sie hat starke Nerven und ein soziales Herz. Ihr Credo lautet: Es ist, wie es ist. Was einmal ihr Auto war, liegt jetzt als verkohlter Überrest auf dem Parkplatz, zu Schlacke verbrannt, verschmolzen mit den Steinen darunter. Später muss das Wrack vom Boden gespachtelt werden.
Der Wagen eines Pflegedienstes direkt neben dem Audi ist ebenfalls schwer beschädigt, die Fenster der dahinter liegenden Ganztagsschule sind geplatzt. Ulla Mazkouri ist aufgewühlt. Aber sie wird schon damit umgehen, denkt sie. Es ist, wie es ist.
Beamte aus der ganzen Republik in einer fremden Stadt
Der Dienstwagen von Senator Andy Grote fährt nach Alsterdorf. Seine Referenten versuchen, schnell Informationen zu sammeln. Aber es passiert bereits jetzt so viel gleichzeitig, dass es auch Grote schwerer fällt, einen genauen aktuellen Überblick zu behalten.
Nach den Krawallen am Fischmarkt will der Senator noch den Seelsorgern der Polizei einen Besuch abstatten. Für den Einsatz wurden Beamte aus der ganzen Republik in eine fremde Stadt geworfen, Demonstrationen dieser Größe und Brisanz haben viele von ihnen noch nicht gesehen, von einem internationalen Schwarzen Block ganz zu schweigen. Die Seelsorger hören einfach zu, das ist in diesen Stunden schon eine tonnenschwere Erleichterung.
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Hartmut Dudde hat sich im Einsatzstab alle Mühe gegeben, mit den Kräften der Beamten zu haushalten. Aber nach zwölf Stunden und mehr in schwerer Kampfmontur ist da oft nur noch Erschöpfung. Viele Mannschaftswagen fahren zurück in die Hotels, teilweise bis ins Umland.
Andy Grote stattet seiner Frau noch einen Besuch ab und fährt dann nach Hause. An der Wohnungstür lassen ihn die Personenschützer allein. Er ist immer noch voller Adrenalin, aber auch erschöpft. Tief in der Nacht schläft er ein.
Die eigene Interpretation der Geschehnisse
Die Linksaktivistin Emily Laquer sendet im „Alternativen Medienzentrum“ im Millerntor-Stadion in St. Pauli einige letzte Tweets in die Nacht. Sie ist eine junge Frau mit Brille und scharfem Blick, der Verfassungsschutz hält sie für eine gefährliche Extremistin. Als mediale Galionsfigur der linken Szene ist sie schon Wochen vorher durch Europa gereist, hat mobilisiert, flammende Reden gehalten, Aktionen organisiert. Etwa 60 Stunden pro Woche. Jetzt sind es nur noch einige Stunden, bis die geplanten Blockaden stattfinden sollen.
Auch sie war für kurze Zeit bei „Welcome to Hell“, umringt von Mitstreitern aus der Szene. Für die unmittelbaren Tage des Gipfels wird sie von eigens abgestellten Aktivisten „in Watte gepackt“, beschützt. Wenn sie in Gewahrsam genommen würde, wäre das ein Fiasko. Für Laquer ist wichtig, die eigene Interpretation der Geschehnisse zu platzieren. Am Ende verspricht sie sich dasselbe wie etwa Bürgermeister Olaf Scholz: die aus ihrer Sicht richtigen Bilder, die um die Welt gehen sollen.
„Es gibt ja auch kein linkes Oberkommando“
Als sie nachts nach Hause geht, hat auch Emily Laquer längst keinen Überblick mehr, wer am nächsten Tag welche Aktionen plant. Ihr gefällt der Gedanke. „Es gibt ja auch kein linkes Oberkommando“, sagt Laquer gern. Für sie ist die Hauptsache, dass das Klassentreffen der Mächtigen ein Desaster wird.
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Um zwei Uhr nachts, zurück im Hotel Atlantic, leuchtet ein Anruf aus der Barclaycard Arena auf dem Handy von Staatsrat Wolfgang Schmidt auf. Einer der Regierungschefs sitzt in der Konzerthalle fest, der Präsident einer großen internationalen Organisation wartet auf einer Polizeiwache.
Beide können nicht zurück in ihre Hotels, weil die Sicherheitslage drum herum als zu angespannt eingeschätzt wird. Schmidt telefoniert, organisiert und treibt Zimmer im Hotel einer anderen Delegation auf, deren Mitglieder noch nicht vollzählig angereist sind. Um vier Uhr geht er selbst ins Bett.
Sturmmasken, Brennstoff, Pyrotechnik
Im Protestcamp im Volkspark kehrt kaum nächtliche Ruhe rein. Es gibt noch Musik, Wortfetzen mischen sich, aus Deutsch, Französisch, Italienisch, Spanisch. Unter den vermeintlichen G-20-Gegnern sind auch Spitzel des Verfassungsschutzes. Sie kabeln beunruhigende Details an ihre Vorgesetzten: Auf dem Zeltplatz ist von Depots mit Flüssigbrennstoff und Pyrotechnik die Rede.
Bereits am frühen Morgen soll es mehrere „Finger“ von gewaltbereiten Demonstranten geben, die auf verschiedenen Routen in die Innenstadt eindringen wollen. Funkgeräte werden verteilt. Die G-20-Gegner glauben, dass die Kommunikation über Chatprogramme nicht mehr sicher ist.
Ein Lager, von dem weder die Polizei noch die meisten G-20-Gegner wissen, liegt in den Gebüschen des eines Parks im zentralen Stadtteil Altona. Sturmmasken, Brennstoff, Pyrotechnik. Genug für mehrere Hundert Personen.
„Bridges to humanity“
Der Beginn der heißen G-20-Phase ist yoga-gelb und nicht autonom-schwarz. Um kurz vor sieben Uhr morgens, als die Sonne wie ein goldenes Rad am Himmel steht, treffen sich mehr als 650 Yogis auf einer Brücke, um eine Stunde lang friedlich zu demonstrieren.
Irgendein gelbes Accessoire hat jeder dabei. Ein gelbes Shirt, einen gelben Schirm oder eine gelbe Matte. Die Farbe steht für positives Denken. Für Fröhlichkeit. Immanuel Grosser, Yoga-Lehrer und einer der Mitinitiatoren der Demo unter dem Motto „Bridges to humanity“, geht das Herz auf. Eigentlich hat der 58-Jährige mit nur 200 Teilnehmern gerechnet.
Die Politik mancher Gipfelteilnehmer lehnt Grosser zwar genauso ab wie die Steinewerfer und Vermummten, die bereits am Donnerstagabend die Schlagzeilen dominierten. Doch sein Ansatz ist ein fundamental anderer: Grosser geht es darum, über positive Bilder eine kritische Botschaft zu senden. Mauern zwischen Menschen abzubauen, statt sie wie Donald Trump zu errichten.
„Showtime“ für Emily Laquer
Die Menschen im Park sehen aus wie normale Spaziergänger. Sie kommen einzeln oder als Pärchen dahergeschlendert, scheinen die süße Morgenluft zu genießen. Es werden minütlich mehr, aber sie warten ab, noch. Mehrere von ihnen werden von Passanten angesprochen, Small Talk. Sie blocken das mit einem Lächeln ab.
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„Showtime“ für Emily Laquer. Die Aktion, mit mehreren Gruppen von Demonstranten die Zufahrtswege der Staats- und Regierungschefs zum Tagungsort in der Messe zu blockieren, läuft an. Laquer hasst es, nach der ganzen Vorbereitung nun selbst im Medienzentrum zu sitzen, statt dabei zu sein. Sie holt sich im Millerntor-Stadion, das zum Marktplatz der G-20-Gegner und Journalisten geworden ist, einen starken Kaffee.
Die Polizei als Aggressor
Ihre „Genossen“ aus der Szene unterrichten sie in Echtzeit. Sie haben bewusst absurde Ausstattung dabei, aufblasbare Gummitiere und Klobürsten. „Wenn wir unsere Ziele erreichen wollen, dürfen die Menschen keine Angst vor uns haben“, sagt Laquer. Man will die Polizei als Aggressor vorführen. Zwischendurch gibt sie Interviews. Die Polizei habe mit ihrem Vorgehen bei „Welcome to Hell“ endgültig den Weg der Eskalation beschritten, behauptet sie.
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Die Zivilfahnder nehmen Spur auf. In geschlossenen Trupps ziehen die „Finger“ aus dem Protestcamp los, sie skandieren, tragen jeweils einheitliche Farben. Der „schwarze Finger“ marschiert Richtung Altona und wird besonders intensiv beobachtet. Über Funk werden die Beamten der Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit Blumberg alarmiert.
14 Menschen stürzen vier Meter in die Tiefe
Die Beamten und die Schwarzträger prallen auf dem Rondenbarg zusammen, in einem Industriegebiet im Nordwesten der Stadt. Was genau in diesen Sekunden geschieht, wird auch den Ausschuss der Bürgerschaft beschäftigen. Sicher ist: Es fliegen Steine und andere Gegenstände auf die Beamten, diese stürmen ihrerseits in den Aufzug hinein. Beim Versuch, über einen Zaun zu flüchten, stürzen 14 Menschen vier Meter in die Tiefe, werden teils schwer verletzt.
Nachdem sich der Kampfrauch legt, durchsucht die Polizei den Aufzug und breitet die gefundenen Gegenstände aus. Laut offiziellen Angaben sind Brandbeschleuniger, Pyrotechnik, Hämmer, Skimasken, Wechselkleidung, Stahlseile und Präzisionszwillen darunter.
Ein Traum, wenn der Beginn des Gipfels verzögert würde
Die Blockade-Gruppen mit den Gummitieren erreichen an verschiedenen Punkten die Zufahrtswege. Es sind 5000 Menschen, weniger als eigentlich erhofft. Viele sind noch sehr jung, aber entschlossen. Vor dem Gipfel haben sie geübt, wie man Polizeiketten „elegant durchfließt“. Da spielten einige Freunde mit Masken die Beamten.
Aber dies ist die Realität. Die echten Polizisten lassen sich nicht durchfließen und erwarten die G-20-Gegner bereits, etwa an der Alster. Es kommt zu Handgreiflichkeiten, Schlagstockeinsatz, Pfefferspray. Dennoch gelingen den Linken erfolgreiche Sitzblockaden. Es wäre die Erfüllung eines Traumes, wenn der Beginn des Gipfels verzögert würde.
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Hartmut Dudde muss alles in den Einsatz schicken, was zwei Beine hat. Es bindet Abertausende Beamte, die Protokollstrecken zu sichern. Die Staatsgäste müssen aus den Hotels zu den Messehallen. Einige Hundertschaften waren erst am frühen Morgen in ihren Quartieren angekommen und wollten in ihre Betten fallen, als sie erneut alarmiert wurden.
Alle 33.000 Beamte „im Gefecht“
Am Rondenbarg werden zusätzliche Kräfte gebraucht, bei den „Fingern“ aus dem Protestcamp, bei den Blockierern. Dazu kommen weitere kleine Aktionen und Demonstrationen, etwa im Hafengebiet. Man hatte damit gerechnet, dass es dort ein größeres Aufgebot bräuchte. Um 7.20 Uhr sind alle 33.000 Beamten „im Gefecht“, wie Dudde später sagen wird. Es lassen sich nicht einmal mehr Truppen schnell durch die Innenstadt bewegen, ohne dass sie aufgehalten werden. Die Staatsmacht ächzt.
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Im Donners Park nahe des Fischmarktes haben sie genau auf diesen Moment gewartet. Die scheinbar harmlosen Passanten holen ihre Ausrüstung aus den Verstecken, werden zum schwarzen Mob. Wie sich herausstellen wird, ist es offenbar eine Mischgruppe aus Deutschen, Franzosen und möglicherweise weiteren EU-Ausländern. Darunter auffallend viele Frauen, heißt es. Um 7.27 Uhr treten sie auf die Elbchaussee. Sie zünden einen großen Brandsatz. Ein Schutz vor Polizisten, die in ihrem Rücken herbeieilen könnten. Später findet die Polizei auch Krähenfüße.
Einige der Täter marschieren mit einem Transparent, geben damit das Tempo vor. Aufschrift auf Englisch: „Mit wem auch immer sie sich treffen – FREIHEIT ist unregierbar“. In ihrem Schatten werden arbeitsteilig Autoscheiben eingeschlagen, Brandsätze hineingelegt. Unbeirrt wird weitergegangen. Die Täter sind so ruhig, als schlenderten sie durch einen Supermarkt. Sie schlagen die Scheibe eines Geschäftes ein und versuchen es mit einer Leuchtfackel anzuzünden. Nur durch Zufall gerät nicht das gesamte Gebäude in Brand.
Randalierer auf der Elbchaussee
Eine Passantin filmt die Randalierer an der Elbchaussee mit ihrem Smartphone. Sie wird von Mitgliedern des Mobs angegangen und getreten. Die Täter schießen auch Leuchtraketen nach oben, gefährden damit einen Polizeihelikopter; die herunterfallenden Reste der glühend heißen Pyrotechnik verfehlen eine Radfahrerin nur knapp. In wenigen Minuten gehen mehr als 110 Notrufe bei der Einsatzleitung der Polizei ein.
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Hartmut Dudde versucht, die Lage einzuschätzen. Wo kann eine Einheit, die ausreichend schlagkräftig ist, abgezogen werden? Wohin bewegt sich der Mob? Es sind einige Streifenwagen in der Nähe, ein Beamter sitzt mit der Schusswaffe im Schoß im Auto und sieht dem Mob direkt ins Auge. Er entschließt sich, nicht auszusteigen, zu warten.
Mit Eisenstangen gegen IKEA
Die Täter haben sich jetzt aufgeteilt und schrecken vor nichts zurück. Jeweils im Duo rammen sie Eisenstangen in den IKEA in Altona, die Mitarbeiter im Inneren schreien. Drei Mannschaftswagen der Polizei sind am Bahnhof geparkt. Ein Vermummter schlägt die Autoscheiben mit einem Zimmermannshammer ein, auch ein Molotowcocktail fliegt. Ein Polizist sitzt im Inneren und wird durch die Glassplitter verletzt.
Nach 19 Minuten der Zerstörung ist der Spuk vorbei, erst weitere 30 Minuten später trifft die Polizei ein. Mit Blaulicht ist sie an Pärchen und anderen Passanten auf der Elbchaussee vorbeigerauscht. Dass darunter Täter sind, die sich bereits in sichtgeschützten Ecken wieder in Unschuldskleidung geworfen haben, bemerkt niemand. Es gibt keine Festnahmen, nur Rauch und Trümmer.
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Ingo Peters wünscht den hohen Gästen herzlich einen guten Morgen. Der Direktor hat klare Bedingungen vorgegeben, als gleich eine ganze Reihe von Nationen das Hotel Vier Jahreszeiten buchen wollte: Nur eine Delegation im Hotel, bei mehreren Staatsoberhäuptern gleichzeitig gebe es nur Durcheinander. Und die Gäste sollten nicht nur für zwei Tage buchen, sondern die ganze Woche.
Das Königreich Saudi-Arabien bekam den Zuschlag und zahlte einen fürstlichen Sockelbetrag. Jetzt sind im Fünf-Sterne-Superior-Hotel „alle Mann an Deck“, bereit jeden Wunsch zu erfüllen. Und davon gibt es reichlich. Highspeed-Internetzugang in jedem Winkel, in denen sich die fünf Minister des Landes bewegen. Alle Möbel aus einer Suite bitte heraus und fünf neue Luxussofas in identischer Farbe herein, bitte. Oder ein spontanes Festmahl mit feinstem Lammfleisch und Couscous für 40 Personen – um drei Uhr nachts.
Nachrichten mit der Geschwindigkeit eines Daumenkinos
Deutsche Polizei und Gäste haben das Haus derweil in eine Festung verwandelt. Selbst für Peters, der jeden Tag die Mächtigen, Reichen und Exzentrischen beherbergt, ist die Situation „hochbesonders“. Über die Fernseher im Hotel flackern die Rauchsäulen der Elbchaussee. Für Peters gilt jetzt nur, dass die Gäste sicher zur Tagung kommen.
Auf dem Handy von Innensenator Andy Grote rauschen die Nachrichten mit der Geschwindigkeit eines Daumenkinos herein, nur unterbrochen von ständigen Anrufen. Die Lage ist so ernst wie unübersichtlich.
Es ist jetzt Fakt, dass alle gute Vorbereitung nicht gut genug war. Hartmut Dudde sagt Grote am Telefon, dass er noch die Alarmhundertschaften aufrufen würde, zusätzliche Kräfte. Grote hält die Aufstockung für den einzig richtigen Schritt und steigt ins Auto. Angst oder Unsicherheit empfindet er nicht, wie er später sagen wird. „Man kann sich übergroße Emotionalität in der Situation auch einfach nicht erlauben.“
„Ich glaube, wir gewinnen!“
Die Polizei geht schnell und hart gegen jede Sitzblockade vor – aber wenn die G-20-Gegner von einer Straße weggetragen werden, besetzen sie schnell die nächste. Nach den neuesten Informationen ist eine weitere Blockade in der Nähe gelungen. Ein euphorischer Mitstreiter läuft im alternativen Medienzentrum auf Laquer zu: „Ich glaube, wir gewinnen!“
Für Hoteldirektor Ingo Peters werden die Minuten endlos zäh und quälend. Wegen der Blockade auf der Straße vor dem Hotel können die saudischen Minister nicht losfahren. Er weiß auch von Demonstrationen, die über die Mönckebergstraße führen, Hamburgs schicke Einkaufszeile. Peters fragt sich, ob alle Sicherheitsmaßnahmen reichen werden, was er für seine Gäste tun kann.
Viele Geschäfte sind verbarrikadiert
Nach 20 Minuten sieht Peters, wie die Straße für einen kurzen Moment frei ist. Die Limousinen der Minister rauschen sofort los. Im Hotel laufen die Vorbereitungen für ihre Rückkehr an. Die Köche bereiten ein Büfett und Menüs vor, jeweils etwa zur Hälfte mit arabischen und europäischen Gerichten.
Am späten Vormittag schließt ein großer Teil der Läden in der City. Nur wenige Kunden hatten sich zum Einkaufen in die City verirrt, viele Geschäfte sind verbarrikadiert.
Sabine Falkenhagen hält in ihrem traditionsreichen Hutgeschäft, das sie in vierter Generation führt, die Stellung. Ihre Mitarbeiterin aber schickt sie nach Hause. Die hat Angst – trotz des gewaltigen Polizeiaufgebots, das zum Schutz des Rathauses in der Nähe steht. Es gibt immer neue Gerüchte, wohin sich der Mob von der Elbchaussee nun weiterbewegt. Die 54-Jährige bleibt. „Wenn etwas passiert, will ich meinen Laden schützen.“ Und sie will sich nicht von der Atmosphäre beeindrucken, „mich nicht einschüchtern lassen“.
Sie bleibt in ihrem Geschäft in der Innenstadt bis zum Ende des G-20-Gipfes sicher. Die Umsatzeinbußen aber belaufen sich auf etwa 20.000 Euro.
Laquer distanziert sich vom Elbchaussee-Mob
Inzwischen sind zwar alle Staatsgäste in den Messehallen angekommen, und der Gipfel hat gerade noch pünktlich begonnen, aber Emily Laquer spricht gegenüber Journalisten trotzdem von einem „Erfolg“. Sie distanziert sich nicht von Aktionen wie an der Elbchaussee.
Das ZDF hat sie wieder zu einem Fernsehinterview eingeladen, Laquer guckt mit Knopf im Ohr in das kalte Glas einer Kamera und wartet auf den Beginn der Liveschalte, 20 Minuten, 30 Minuten, eine ganze Stunde. Dann wird ihr abgesagt, weil just die Bundeskanzlerin am Rand des Gipfels zur Presse spricht. „Man gewinnt nicht jede Medienschlacht“, sagt sie.
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Andy Grote hat zur Pressekonferenz in der Innenbehörde geladen. Er behält eine klare, feste Stimme. Sein Gesicht glänzt, die Sonne heizt den Raum durch die Fensterläden unerbittlich auf. Ob die Stadt noch die Kontrolle habe? Derzeit sei die Lage im Griff, aber man rechne mit weiteren schweren Krawallen, sagt der Innensenator in die Kameras.
„Hamburger Polizei lässt Atomrakete vorfahren“
Es wurden weitere Waffen beschlagnahmt, Stahlseile und Zwillenmunition. „Jetzt ist gerade Blindflug angesagt, wir wissen, dass es noch einmal turbulent wird, aber nicht genau, wo und wie“, sagt ein Beamter mit müden Augen.
Minütlich gibt es neue Meldungen über angebliche und wirkliche Gruppen von bewaffneten Linksextremen, die die durch die Stadt ziehen sollen. Die Satireseite „Der Postillon“ verbreitet einen Artikel im Netz mit der Schlagzeile: „Zur Deeskalation: Hamburger Polizei lässt Atomrakete vorfahren“. Das Social-Media-Team im Präsidium sieht sich gezwungen, per Tweet darauf hinzuweisen, dass es nur ein Scherz ist.
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Hoteldirektor Ingo Peters bekommt einen Anruf. Am Apparat ist ein amerikanischer Sicherheitsoffizier. Ein hochrangiges Mitglied der Delegation wolle am Abend im Restaurant Nikkei Nine des Vier Jahreszeiten speisen, einen Tisch für acht Personen reservieren. Bald darauf steht eine Truppe des Bundeskriminalamts im Foyer, durchsucht dann mit Hunden das Restaurant. „Es kann nur Donald Trump oder seine Tochter mit ihrem Gatten sein“, sagen sie da im Vier Jahreszeiten. Oder beide.
„Betonroute“ von und zur Elbphilharmonie
Fotograf Michael Arning hat schon mehr als 40 Kilometer in den Beinen und begibt sich in Richtung Elbphilharmonie. Dort wird später das große Konzert für die Staats- und Regierungschefs stattfinden. Rund um das Konzerthaus hat die Polizei einen undurchdringbaren Schutzriegel mit Wasserwerfern aufgebaut, flankiert von Beamten mit Maschinenpistolen. Das Konzept der Stadt, die Zufahrtswege immer flexibel abzusperren, landet endgültig in der Tonne. Stattdessen wird eine „Betonroute“ von und zur Elbphilharmonie eingerichtet.
Wer sie überqueren will, hat Pech gehabt. „Nicht mal, wenn Sie der Papst wären“, sagt ein Polizist einem Journalisten. Auch mehrere Dutzend Anwohner werden über Stunden nicht nach Hause dürfen.
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Die zweite Welle rollt. Emily Laquer gibt im Millerntor-Stadion weiter Interviews, diesmal sind noch viel mehr Menschen auf der Straße als am Morgen. Verschiedene Gruppen versuchen, zur Elbphilharmonie durchzudringen. Aber die Situation verselbstständigt sich. An den Landungsbrücken kommt es zu schweren Gefechten, Vermummte werfen Böller und Steine; die Polizei antwortet mit Wasserwerfern. Bei Twitter teilt das Bündnis Block G 20 mit, dass seine Aktion nun zu Ende sei.
Kein Herauskommen, auch nicht für den Senatschef
Bevor Olaf Scholz zum Konzert in die Elbphilharmonie fährt, telefoniert er mit Andy Grote. Sie stimmen sich ab, über die aktuelle Lage, aber auch bereits über die betroffenen Geschäfte, Besuche und mögliche Entschädigungen. Scholz hat lange überlegt, ob er sich wirklich ruhigen Gewissens zu den Staatsgästen gesellen könne.
Am Ende geben wohl zwei Aspekte den Ausschlag: Scholz glaubt, dass es die Regierungschefs „verunsichern“ würde, wenn der Bürgermeister nicht in der Elbphilharmonie dabei wäre. Und Scholz an einen anderen Platz in der Stadt zu fahren, würde viele Polizeikräfte binden. Außerdem gibt es an der Elbphilharmonie für die Dauer des Konzerte kein Herauskommen aus dem Sicherheitsring mehr – auch nicht für Senatschef Grote.
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Michael Arning folgt der Spur der Krawalle. Die Gefechte zwischen G-20-Gegnern und Polizei verlagern sich nun in Richtung St. Pauli und Sternschanze. An den Landungsbrücken sieht Arning noch völlig erschöpfte Beamte, denen Feuerwehrleute Wasser in den Mund träufeln. Einige müssen auf Tragen zu den Rettungswagen gebracht werden.
Auf der Reeperbahn geben Wasserwerfer gezielte Stöße auf Demonstranten ab, die in die Nebenstraßen flüchten, sich dort munitionieren und Steine auf die Polizisten werfen. „Katz und Maus“, wie üblich für Arning. Aber diesmal ist es nur die Keimzelle für eine viel größere Eskalation.
Räumung könnte erst recht Krawallmacher anlocken
Konzertbeginn in der Elbphilharmonie. Kent Nagano und das Philharmonische Staatsorchester stellen sich auf für Beethovens Neunte Sinfonie. Donald Trump und Wladimir Putin sind wegen eines Zweiergesprächs zu spät gekommen. Angela Merkel und ihr Mann Joachim Sauer werden vom Publikum bejubelt, winken zum Gruß.
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Hartmut Dudde glaubt, die richtige Strategie zu verfolgen. Von seinem Abschnittsleiter im Schanzenviertel erhält er die Rückmeldung, dass dort immer wieder Gruppen von Randalierern auftauchen. Dudde weiß, dass viele Linksextreme nach der Demonstration „Welcome to Hell“ noch auf Revanche sinnen. Und ihnen sofort mit voller Wucht entgegenzutreten, das Schulterblatt zu räumen, würde erst recht Krawallmacher anlocken, glaubt er.
Einige erklimmen ein Baugerüst
Tatsächlich sorgt jeder Anblick der Polizei im Schanzenviertel für Eskalation. Auf der Piazza scheint das friedlich trinkende Publikum noch in der Überzahl zu sein, auch wenn Randalierer bereits Barrikaden anzünden – als die Polizei kurzzeitig zum Löschen vorrückt, fliegen Steine, danach beruhigt sich die Situation rasch wieder.
Am Neuen Pferdemarkt ganz in der Nähe stehen ebenfalls Wasserwerfer und Polizisten aufgereiht, aber abwartend. Eine einzelne Barrikade wird an der Kreuzung zum Schulterblatt entzündet. Im Falafel-Restaurant gegenüber wird gegessen und geplaudert. Einige Personen erklimmen das Baugerüst am Schulterblatt 1.
Die Polizei hatte einen Schlüssel für das Gebäude, hat das Gerüst aber nicht abbauen lassen. Dass es zu schwereren Krawallen im Schanzenviertel kommen könnte, sehen die Vorbereitungen der Polizei nicht vor.
Vermummte rennen wild hin und her
Wolfgang Schmidt hat in der Elbphilharmonie kaum Sinn für die Musik. Er ist schwer beschäftigt. Weil die U-Bahn nicht mehr fährt, haben es viele Besucher nicht ins Konzerthaus geschafft. Da es peinlich wäre, wenn die Sitzreihen leer blieben, muss umgesetzt werden. Dann wird per SMS die Entschädigungsfrage geklärt. Olaf Scholz hat schon am Nachmittag die Idee entwickelt, Entschädigungen zu organisieren für die Betroffenen. Merkel sagt noch in der Elbphilharmonie ihre Unterstützung zu.
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Der Gastronom Falk Hocquél hält sich wie den vergangenen Tagen mit Mitarbeitern im Foyer seines Kulturzentrums Haus 73 bereit, er rechnet mit dem Schlimmsten. Bald brennen die ersten Barrikaden, im hinteren Teil des Schulterblattes steigt Rauch auf, es knallt immer wieder, Vermummte rennen wild hin und her. Die Szenen reichen dennoch, um den syrischen Freund einer Mitarbeiterin massiv zu irritieren. „In Syrien haben wir Krieg; warum spielt ihr hier Krieg?“ Hocquél, der seit 2006 auf dem Schulterblatt lebt und etliche Krawalle erlebt hat, wundert sich über die Polizei, die einfach nicht da ist.
Plötzlich geht ein Schuss los
Ein Pistolenschuss knallt im Schanzenviertel. Randalierer haben einen Mann angegriffen, der mit seiner Handykamera filmte, wie Vermummte immer mehr Barrikaden bauten, sich bewaffneten, die Steine aus dem Asphalt rissen. Ein in der Nähe stehender Zivilfahnder hielt den Mann offenbar für einen Kollegen in Gefahr und gab den Warnschuss ab.
Das Schulterblatt füllt sich weiter mit Menschen, die ihre Chance wittern, es ist eine seltsame Mischung. Militante in schwarzer Kleidung. Jugendliche, die ihr T-Shirt ausziehen und sich über Mund und Nase wickeln. Selbst wenige kahl geschorene Männer, die Jacken mit Hooligan-Symbolen tragen.
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Der Anwohner Henning Brauer ist mit seinem Nachbarn Klaus im Dauereinsatz. Autonome schichten vor der S-Bahn-Brücke am Schulterblatt wieder und wieder Unrat, Stadträder, eigentlich alles, was brennt, zu Barrikaden auf. Ein ums andere Mal ziehen Brauer und Co. den Unrat von der Straße, bevor ihn die Randalierer anzünden können.
Anwohner wollen für Ordnung sorgen
Die meisten Randalierer wüten am anderen Ende des Schulterblattes. Aber von der Roten Flora am Schulterblatt bis zur Brücke lassen Brauer und Co. buchstäblich nichts anbrennen. Die aus der Not geborene Bürgerwehr will für Ordnung sorgen.
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Die Staats- und Regierungschefs gehen mit Beethovens Neunter unterschiedlich um. Chinas Präsident Xi Jinping schaut regungslos zu. Joachim Sauer zeigt ein entrücktes Lächeln. Trump fängt bald an, den Kopf im Takt zu wippen. Olaf Scholz hat nur Augen für sein Smartphone, liest Informationen über die Sicherheitslage. Dann ertönt die „Ode an die Freude“. Angela Merkel lächelt EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker zu: die Europahymne.
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„Abendblatt“-Fotograf Michael Arning sieht, dass es „zu viele Chaoten“ werden. Die Polizei schickt einen Wasserwerfer ins Schanzenviertel, um eine brennende Barrikade zu löschen – von beiden Seiten wird er von den Autonomen unter Beschuss genommen. Der Fahrer setzt zurück. Das Wasser an Bord reicht nicht, um damit weit zu kommen. Und eingeschlossen zu werden von Randalierern wäre für die Beamten an Bord möglicherweise fatal.
Warum geht die Polizei da nicht rein?
Als vor der Sparkassen-Filiale am Schulterblatt ein Scheiterhaufen brennt, direkt neben den Wohnhäusern, fürchtet Henning Brauer um das Leben der Schanzenbewohner. Er denkt: „Hier geht etwas richtig schief.“ In seiner Wahrnehmung sind es nur Gruppen von etwa 20 Mann, die marodierend durch die Gegend ziehen. Rund um die Rote Flora: Partyvolk, Gaffer, die üblichen Krawalltouristen. Warum zur Hölle, fragt sich Brauer, warum geht die Polizei da nicht rein? Warum lassen die uns im Stich?
Polizisten in schwerer Schutzmontur haben vor der Brücke am Schulterblatt einen Posten bezogen. Doch sie greifen nicht ein. Auch nicht, als Vermummte aus Verärgerung über die Zerstörung ihrer Barrikaden mit erhobenen Fäusten auf Brauer und die anderen Anwohner losgehen. „Ihr wollt uns doch nicht in unserem eigenen Viertel angreifen“, schreit Brauer ihnen entgegen. Da lassen die Autonomen von ihnen ab, ihre Barrikaden bauen sie weiter. Für Brauer sind sie „kleine Pisser, die nur Krieg spielen wollen“.
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Als er hört, dass auch auf dem Schulterblatt Barrikaden brennen, ahnt Andy Grote, wie schwer dieser Abend werden könnte. Er fährt ins Polizeipräsidium, schaut mit Polizeipräsident Meyer und seinem Stab die Live-Bilder an, lässt sich mit Informationen versorgen. Angespannt, mit hochgekrempelten Ärmeln verfolgen alle das Geschehen. Grote fragt, wann man eingreifen könne. Noch nicht, heißt es. Warten.
Schreckensmeldungen in immer dichterem Takt
Aus dem Schanzenviertel kommen die Schreckensmeldungen in immer dichterem Takt. Anwohner wählen die 110, es gibt das Gerücht, dass der Mob schon in Hauseingänge gestürmt sei und Frauen vergewaltigen wolle. Der Verfassungsschutz hat Hinweise, dass italienische, spanische und griechische Autonome unter den Randalierern sind. Auch solle ein Hinterhalt von den Dächern vorbereitet werden. Mit Gehwegplatten, Molotowcocktails, dem ganzen Arsenal blinder Gewalt. Bald ziehen sich auch die zivilen Tatbeobachter der Polizei zurück. Sie fürchten um ihr Leben.
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Olaf Scholz wird in der Elbphilharmonie laufend informiert. Er fühlt sich jetzt persönlich gefragt. Die Idee entsteht, sich mit einer Fernsehbotschaft zu Wort zu melden. Das Problem: Die Fernsehstudios gegenüber den Landungsbrücken sind nur wenige Hundert Meter entfernt, doch sie liegen außerhalb des Sperrkreises.
Scholz im Bunker
In der Elbphilharmonie gibt es dagegen nur eine einzige Kamera für eine Botschaft – sie ist eigentlich dafür gedacht, die Gäste bei dem Abendessen nach dem Konzert zu filmen. Die Kamera hat ein extremes Weitwinkelobjektiv, ist für Raumaufnahmen gedacht, nicht für Porträts, die Optik ist nicht vorteilhaft – doch es muss gehen. Scholz appelliert in der Botschaft an die Straftäter, „ihr Tun zu unterlassen“. Seine Stimme ist dünn und leise. Das Bild sieht aus, als wäre es in einem Bunker entstanden.
Um 21.30 Uhr hält auch Hartmut Dudde eine komplette Räumung trotz der unübersichtlichen Lage für die beste Option. Es sind nach der Lageeinschätzung 1500 gewaltbereite Randalierer, aber auch ein gutes Dutzend behelmte Hundertschaften um das Schanzenviertel aufgestellt. Dudde gibt den Befehl.
Hildebrand verweigert den Befehl
Aber mehrere leitende Beamte vor Ort haben Zweifel. Einer der Hundertschaftsführer, Steffen Hildebrand aus der Südpfalz, sieht das Risiko als „unkalkulierbar“ an, wie er später der „Welt“ erzählt. Er denkt demnach an die Zwillen und Stahlgeschosse der Militanten. Auch daran, dass einem Beamten am selben Tag von einem Militanten der Kopf mit einer Eisenstange halb eingeschlagen worden sei. Es ist eine Falschmeldung.
Aber das ist in diesem Moment nicht mehr zu trennen. Er meldet seinem eigentlichen Dienstherrn seine Bedenken. In der anschließenden Meldung an die Hamburger Einsatzführung wird daraus eine „Remonstration“, in Alltagssprache: Hildebrand habe den Befehl verweigert. Bald schließen sich mehrere andere Hundertschaftsführer an.
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Molotowcocktails prallen gegen die Fassaden eines Rewe-Supermarkts und einer Budnikowsky-Filiale am Schulterblatt, dann werden die Reste der Scheiben eingetreten. Eine Gruppe von Journalisten hat einen aberwitzigen Sprint angezogen, vorbei an den immer höher lodernden Flammensäulen auf der Straße. Die Polizei werde doch jetzt bestimmt bald eingreifen, einrücken, mit aller Macht. Oder nicht?
Die Flammen schlagen ständig näher
Michael Arning trägt seine grüne Jacke. Es geht jetzt auch für die meisten Berichterstatter darum, die eigene Haut zu retten. Arning dreht um und geht direkt zurück in Richtung des Budnikowsky. Klick, die Plünderer reißen alle Haarspraydosen und Hygieneartikel aus den Regalen, füttern damit draußen das Feuer. Ein Vermummter hat Plastikblumen und zwei Flaschen „Club Mate“ in der Hand, posiert damit wie ein Gangster-Rapper. Die Flammen schlagen ständig näher an die Fassaden der Häuser.
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Es ist für Andy Grote nicht nur mental quälend, den erlösenden Zugriff abzuwarten, auch körperlich, alle Muskeln spannen sich an, der „absolute Horror“. Alles scheint möglich zu sein, lebensgefährlich Verletzte oder gar Tote. Auch Olaf Scholz sitzt jetzt im Präsidium.
Grote bleibt nur das Vertrauen, dass Hartmut Dudde und die Polizisten vor Ort die richtigen Entscheidungen treffen werden. Aber nun erscheint als die einzige Möglichkeit, ein Spezialkommando in das brennende Viertel zu schicken. Es läuft ein ganz anderer Film, als in den Aberhunderten Stunden der Vorbereitung vorempfunden wurde.
Alarm für Einheit „Cobra“
Kurz nach 22 Uhr ruft Hartmut Dudde den zuständigen Polizeiführer für die Spezialkräfte an. 20 Minuten später heißt es, dass unter anderem die österreichische Einheit „Cobra“ eingesetzt werden soll. Doch die Elitepolizisten brauchen besondere Ausrüstung, etwa Bolzenschneider, sie müssen noch in das Schanzenviertel gebracht werden und Häuserpläne studieren.
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Für Hoteldirektor Ingo Peters ist es ein herrlicher Abend. Recht plötzlich standen Ivanka Trump und ihr Ehemann Jared Kushner im Nikkei Nine, stellten sich lässig mit Vornamen vor und nahmen einen Hochtisch mitten im Restaurant statt eines Separees.
Peters ist verzückt, wie „down to earth“ die Tochter des US-Präsidenten und ihr Ehemann sind. Zur Vorspeise gab es Sushi, als Hauptgericht Ente, Kabeljau und Tomahawk Steak. Danach wurde eine Auswahl japanisch-peruanischer Desserts serviert.
Der Mob feiert sich selbst
Nach dem Essen posieren Ivanka Trump und ihr Gefolge bereitwillig für Fotos mit dem Restaurantteam und rufen dabei mit bestem Lächeln „America“. Auf den Fernsehern laufen die Krawallbilder aus dem Schanzenviertel. „Ein bizarrer Kontrast“, sagt Peters. Gegen 22 Uhr fahren Trump und Kushner zurück ins Marriott-Hotel.
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Anarchie. Der Mob feiert sich selbst auf dem Pflaster des Schulterblattes, schnell kursiert ein Video, auf dem sich ein Pärchen wie die Tiere auf einem der Balkone vergnügt. Der Mann hält dabei die Kamera und schwenkt genüsslich über das brennende Schulterblatt.
Wer kein Randalierer ist und irgendwie konnte, hat sich in Hausflure oder Wohnungen gerettet. An einem Hauseingang in der Nähe des Hauses 73 versucht eine Gruppe von muskelbepackten Männern, an drei friedliche junge Frauen zu kommen, die rein zufällig inmitten der Randale gelandet sind „Kommt raus, ihr Ratten.“ Sie verschanzen sich bald bei einer fremden Anwohnerin, eine Holzpalette blockiert die Tür von innen.
Gefühl der Ohnmacht überkommt die Anwohner
Es ist ein Gefühl der Ohnmacht, das den Anwohner Brauer überkommt. Fassungslos, ungläubig und „maßlos enttäuscht“ registriert er, dass die Polizei nicht einschreitet, obwohl die Randalierer wie die Irren schon Straßenschilder aus dem Boden reißen. „Wollen die die etwa als Speere benutzen?“, fragt Brauer einen Nachbarn. Bald darauf gibt die spontane Bürgerwehr auf. Es wird zu gefährlich. Tränengas füllt die Luft im Schanzenviertel.
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Das Spezialkommando ist endlich bereit. Es gibt die Erlaubnis, auch scharfe Schusswaffen freizugeben. Über die großen Bildschirme im Präsidium der Polizei flackern die Fernsehbilder. Im Schutz der Wasserwerferkanonen rücken die Beamten vor, brechen zunächst die Tür am Schulterblatt 1 auf, gehen in geschmeidigen Bewegungen von Flur zu Flur und von Haus zu Haus.
Wen die Beamten antreffen, ob Anwohner oder möglicher Krawallmacher, wird mit einer Laserzielvorrichtung anvisiert. Anwohner sagen später, dass sie erneut Todesangst durchleiden mussten.
Spezialkräfte finden keinerlei Waffen
Die Spezialkräfte stoßen auf keinen Widerstand. Ein großer Teil der Randalierer ist wie in Luft aufgelöst, durch die Seitenstraßen entkommen. Dann ist plötzlich Ruhe. Die Wasserwerfer löschen die Barrikaden. Es werden keine Gehwegplatten sichergestellt oder andere Waffen für einen Hinterhalt. Der Kiosk in der Häuserreihe des Hauses 73 hatte die ganze Zeit geöffnet. „Moin“, sagt der Kassierer, als wäre nichts passiert.
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Irgendwann fährt Außen-Staatsrat Wolfgang Schmidt in dieser Nacht, in der die Gewalt im Schanzenviertel explodiert ist, zurück ins Atlantic-Hotel. Es gibt eine Krisenbesprechung im Umfeld des Bürgermeisters. Nach einer sehr kurzen Nacht ist die Parole am Sonnabendmorgen: „Den Gipfel halbwegs in Würde zu Ende bringen.“
„Ja, ja, wir kennen Sie doch aus dem Fernsehen“
Die First Ladies sind ins Rathaus geladen. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier will kurzfristig nach Hamburg kommen, um den Polizeibeamten zu danken. Ein Besuch, der normalerweise mit monatelangem Vorlauf vorbereitet wird, muss nun innerhalb weniger Stunden organisiert werden.
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Die Linksaktivistin Emily Laquer hat viele Anrufe bekommen, aufgebrachte Journalisten, die wissen wollten, was dort im Schanzenviertel gerade passiert ist. Die PR-Arbeit ist nun ein Tanz auf dem Drahtseil: Distanzieren oder nicht? Laquer entscheidet sich dagegen, sagt nur, dass ihre Leute an der Aktion nicht beteiligt gewesen seien. In der Nacht geht sie nach Hause, aber vor ihrer Straße steht eine Polizeikette. „Ja, ja, wir kennen Sie doch aus dem Fernsehen“, sagt ein Beamter. Sie darf nicht durch.
Politiker lassen sich in der Schanze nicht blicken
Während am Sonnabendmorgen ein Bagger die Barrikade vor dem Haus 73 zerpflückt, schleppt Falk Hocquél eines seiner Gitter zum Haus 73 zurück. Er fühlt sich ausgelaugt und erschöpft wie nie zuvor. Seinen Schaden schätzt er auf rund 2000 Euro. Insgesamt, so ermitteln die Gewerbetreibenden in der Schanze, belaufen sich die Kosten für Sachbeschädigungen und den wirtschaftlichen Ausfall auf rund 400.000 Euro.
Danach kommt wie bei so vielen anderen Gewerbetreibenden in der Schanze auch bei ihm die Wut. Auf die Politik, die aus seiner Sicht als moralische Instanz versagt hat. Auf die Politiker, die für den ganzen Schlamassel verantwortlich sind, sich aber in der Schanze nicht blicken lassen.
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Es ist ruhig im Rathaus. Für das Partnerprogramm der G-20-Teilnehmer ist ein Sicherheitskreis gezogen, nur wenige Beamte der Senatskanzlei dürfen überhaupt im Haus sein. Olaf Scholz steht in seinem Dienstzimmer, Hände in den Hosentaschen, an die Wand gelehnt. Ihm sei klar, sagt er seinen engsten Mitarbeitern, dass am Ende dieses oder des nächsten Tages sein Rücktritt stehen könne. Nur, um es ausgesprochen zu haben. Geschäftsmäßig gibt Olaf Scholz sich, berichten die Vertrauten später. „Er war gefasst, aber auch angefasst.“
Je länger es ruhig bleibt, desto mehr weicht die Anspannung
Dieselben Fragen gären in den Köpfen aller Spitzenpolitiker. Hat Hamburg die Lage unterschätzt? Hat man bei der Vorbereitung etwas übersehen? Wird dieser letzte Tag des Gipfels eine abermalige Eskalation bringen? Sie werden erst einmal beiseitegeschoben, es gilt, noch einmal zu funktionieren.
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Die Großdemonstration in der City läuft an. 76.000 Demonstranten sind auf der Straße und noch einmal ein großes Aufgebot an Beamten, die sofort einschlafen, wenn sie sich auch nur für eine Sekunde in den Mannschaftswagen hinsetzen dürfen. Je länger es ruhig bleibt, desto mehr weicht die Anspannung. Bis auf die Abtrennung eines kleinen Schwarzen Blocks aus dem Demonstrationszug bleibt es ruhig.
Spitzenpolitiker, Polizisten und Anwohner werden später sagen, dass es diese Stunden waren, in denen langsam die Verarbeitung ihrer Eindrücke begonnen hat, die manchmal noch Wochen, manchmal gar Monate dauerte.
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Es ist so, wie es ist, hat Ulla Mazkouri sich gesagt, als ihr Auto am Donnerstag plötzlich abbrannte. Am Sonnabend liegt sie im Uniklinikum Eppendorf. Sie redet wirres Zeug, fragt ihre Söhne wieder und wieder: „Ist mein Auto abgebrannt?“ Ulla Mazkouri hat einen schweren Schock erlitten, ihre Erinnerungen sind verschwommen.
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Im Bundeswehrkrankenhaus im Stadtteil Wandsbek behandeln sie die Beamten. Andy Grote fährt quer durch die Stadt dorthin. Einer von ihnen sitzt auf dem Bett, eine hässliche Wunde am Bein von einer Stahlkugel aus der Schleuder eines Militanten. Aber da ist kein Meckern und keine Wut darüber, dass sie für den Gipfel mit ihrer Gesundheit zahlen mussten. Stattdessen sagen er und fast alle anderen Verletzten, dass sie gern sofort wieder zurück in den Einsatz würden. Grote wird später sagen, dass dies für ihn einer der beeindruckendsten Momente während des Ausnahmezustands war.
Wie konnte das alles geschehen?
Der große Saal im Polizeipräsidium ist am Sonntag, dem 8. Juli, überfüllt und die Stimmung angespannt. Innensenator, Bürgermeister, Gesamteinsatzleiter und Polizeipräsident kommen eine halbe Stunde zu spät. Sie haben im engsten Kreis diskutiert, müssen sich jetzt stellen. Gleich zu Beginn der Pressekonferenz steht ein Reporter der „Bild“-Zeitung auf, gestikuliert, klagt an. Wie konnte das alles geschehen?
Die Herren auf dem Podium versuchen, zu parieren. Polizeipräsident Ralf Martin Meyer betont nach einer Reihe von Nachfragen: „Ich sage nicht, dass es exzellent gelaufen ist – nur, dass wir exzellent vorbereitet waren.“
Olaf Scholz sieht zuerst tief erschüttert aus, seine Augen scheinen gar nichts mehr zu sehen, nur sein Gehirn noch zu arbeiten. Dann geht er doch in die Offensive, er verbitte sich Kritik an der Polizei, verspricht Aufarbeitung. Längst hat Scholz sich entschieden, nicht zurückzutreten, sondern weiterzumachen. Er ist sich bewusst, dass diese nächsten Tage und Wochen sehr unbequem werden für ihn, für den Hamburger Senat. Aber er wolle den Gewalttätern „nicht diesen Triumph gönnen“. So hat er sich entschieden – und davon rückt er auch nicht mehr ab.
Keine Toten, kein Rücktritt
Eine klare Entschuldigung kommt ihm erst vier Tage später über die Lippen, bei einer Regierungserklärung in der Bürgerschaft.
Andy Grote sitzt vergleichsweise gefestigt auf dem Podium. Es hat für ihn zwei Szenarien gegeben, in denen er sofort als Senator zurückgetreten wäre: Tote während des Gipfels oder ein schwerer, vermeidbarer Fehler in der Vorbereitung.
Auch Letzteres habe es nicht gegeben; das wird noch ein Jahr später seine tiefe Überzeugung sein. Er wird auch sagen, dass er nicht zu jenen gehört habe, die vor allem um die Staatsgäste besorgt waren.
Die Bevölkerung zu schützen sei doch wichtiger für einen Innensenator – und deshalb belasteten ihn die Ereignisse auch weiterhin. Am Ende ist es aber auch eine Typfrage, welche Konsequenzen man zieht. Grote entscheidet sich dafür, mit aller Macht gegen die Randalierer vorzugehen. Noch im Rahmen der Pressekonferenz wird die Idee der Soko „Schwarzer Block“ geboren.
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Falk Hocquél und die anderen Gewerbetreibenden im Schanzenviertel werden sich noch oft treffen, unterschiedlich angeschlagen, aber nahezu geschlossen wütend. Zwar reguliert in vielen Fällen die Versicherung die materiellen Schäden. Aber eben auch nur die – nicht die Verluste, die durch die unplanmäßige Schließung der Geschäfte, Hotels und Kneipen aufgelaufen sind.
Bestellt, aber nicht bezahlt
Aus Protest hängt er am Balkon des Hauses 73 ein Transparent auf: „Zechpreller“ steht darauf. Gemeint ist: Die Politik hat bestellt, aber sie hat nicht bezahlt. Sie hat sich einfach aus dem Staub gemacht.
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Die Köpfe der G-20-Proteste testen bei einer Stadtteilversammlung im Millerntor-Stadion, wie viel Rückhalt sie noch genießen. Sie sind bald erleichtert. Viele der Teilnehmer im Ballsaal geben der Polizei die Schuld an der Eskalation.
Emily Laquer wird fast genau ein Jahr später in einem Café sitzen und sagen, dass der G-20-Gipfel für sie insgesamt ein Erfolg war. Die Polizei wird erstmals davon reden, dass es „direkte Verbindungen“ zwischen den gefährlichsten Krawallmachern und den Gruppen gibt, in denen Laquer aktiv ist.
Ob sie jemals Reue empfunden hat, dafür, fahrlässig auch die blinden Krawallmacher für die Proteste nach Hamburg eingeladen zu haben? Laquer überlegt lange, dann sagt sie: „Meine größte Sorge vor dem Gipfel war, dass niemand zu den Protesten kommt.“
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Außen-Staatsrat Wolfgang Schmidt treibt bis heute um, dass es „Linken, Autonomen und Gewalttätern gelungen ist, die Deutung der Ereignisse zu übernehmen“. Schmidt findet es auch weiterhin richtig, dass Hamburg den Gipfel ausgerichtet hat. „Politische Spitzentreffen wie G 20 sind wichtig, und sie können im jetzigen Format nur in größeren Städten mit der entsprechenden Infrastruktur stattfinden“, sagt Schmidt.
Spender aus aller Welt für Ulla Mazkouris Auto
Was zumindest bleibt für die Hamburg, sei das Gefühl, dass man staatspolitische Verantwortung übernommen habe. „Hätten wir das nicht getan, hieße das, dem Mob nachzugeben.“
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Zumindest für Ulla Mazkouri gibt es ein Happy End. Kurz nach G 20 initiiert eine Freundin ihres Sohnes Pascal eine Spendenaktion im Internet für Ulla Mazkouri – damit sich die 73-Jährige ein neues Auto kaufen kann. Über den Spendenstand hält Pascal sie auf dem Laufenden. Und es wird immer mehr, erst 7000, dann 11.000 Euro, schließlich 15.000 Euro. Die Spender leben in Ohio und Neuseeland, in Lima und New York. Viele schreiben ihr, mitfühlend und liebevoll.
Ulla Mazkouri, die Frau mit den starken Nerven, ist gerührt, sie muss weinen. Mitte Januar 2018, ein halbes Jahr nach dem Gipfel, fährt sie mit Pascal zu einem Autohändler. Dort holt sie ihren neuen Wagen ab, einen Mitsubishi Space Star, ein Jahr alt, 11.000 Kilometer, Automatikgetriebe.
„Please, lets forget the past“
Im Handschuhfach liegt ihre neue Elvis-Sammlung, die hatte ihr ein wildfremder Mann nach G20 in die Hand gedrückt. Mit ihrem neuen, grauen Kleinwagen fährt die Rentnerin wie früher mit dem Audi A2 einfach mal so an die Elbe und hört Elvis, „Surrender“ oder „Don’t Be Cruel“. In letzterem Song heißt es: „Please, lets forget the past, the future looks bright ahead“.
Dieser Text erschien zuerst auf www.abendblatt.de.