Dortmund. . Seit 2017 steigt die Zahl der Pflegebedürftigen. Ambulante Dienste kommen kaum nach: Wegen Fachkräftemangels lehnen sie vermehrt Anfragen ab.
Wenn die Arbeiterwohlfahrt (Awo) eine Position in der Altenpflege besetzten muss, ist Geduld angebracht. Sechs Monate dauert es im Durchschnitt, bis einer der großen Sozialverbände Nordrhein-Westfalens einen geeigneten Kandidaten für eine ausgeschriebene Stelle gefunden hat. Ein Durchschnittswert, aber für Awo-Landeschef Uwe Hildebrandt ist er symptomatisch: „Der Markt ist regelrecht abgegrast“, sagt er und benennt die, die darunter am meisten leiden: „Die Folgen spüren die Alten und Pflegebedürftigen.“
Auch interessant
Denn wenn Personal fehlt, kann Nachfrage nicht bedient werden: Überall im Land lehnen die Pflegedienste inzwischen Anfragen von Angehörigen und Pflegebedürftigen ab, die ambulante Betreuung benötigen. In Köln haben Träger der Freien Wohlfahrtspflege innerhalb eines Monats über 200 Menschen vertröstet, in Duisburg waren es im gleichen Zeitraum 93, in Essen 55. Landesweit zählten die rund 900 ambulanten Diensten der Freien Wohlfahrt wie Caritas, Diakonie, DRK oder Awo im April über 2600 Ablehnungen.
Senioren suchen Hilfe in den Heimen
Die Situation sei inzwischen überall ähnlich, sagt Hildebrandt mit Blick auf diese interne Abfrage. „Noch vor wenigen Jahren haben wir viel Geld für Werbeanzeigen in den Gelben Seiten ausgegeben“, sagt der Pflegefachmann. „Inzwischen fragen die Angehörigen nicht mehr nach einem konkreten Angebot, sie suchen nur noch einen freien Platz.“
Begrüßenswert findet Hildebrandt diese Entwicklung keinesfalls. Er beobachtet mit Sorge, dass immer mehr Senioren, die noch mit wenig Hilfe zu Hause leben könnten, aus Mangel an Angeboten zunehmend ins Pflegeheim ziehen müssten. Inzwischen hätten die meisten Pflegeheimbewohner der Awo den Hilfsgrad 3 – bei fünf möglichen. Je höher der Pflegegrad, umso höher die Leistungen aus der Pflegekasse.
Hoher Zuwachs in der ambulanten Versorgung
Der Versorgungsnotstand hat auch mit jener Reform zu tun, die Pflegebedürftige besser stellen sollte: Seit 2017 gilt ein neuer Pflegebegriff, nach dem unter anderem Demente eher Leistungen aus der Pflegeversicherung beziehen können als bisher. Die Zahl der Leistungsempfänger ist bis Ende 2017 bundesweit um rund 20 Prozent auf über drei Millionen Menschen gestiegen.
Während sich die Zahl der stationär Versorgten mit einem Plus von rund 5000 Fällen im Bund kaum verändert hat, ist die der ambulant Versorgten um über eine halbe Million gestiegen. Mehr Personal hat Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) zuletzt aber vor allem für die Heime zugesagt. „Den Versorgungsnotstand vor der stationären Pflege hat niemand auf dem Schirm“, sagt Elke Herm-Riedel von der Awo.
Zwar ist die Zahl der Azubis in NRW von 10 000 auf 18 000 Schüler gestiegen, seit alle Pflegebetriebe mit einer 2012 eingeführten Umlage die Lehrkosten gemeinsam finanzieren. Problematisch sei indes, sagt Christoph Treiß vom Landesverband freie ambulante Krankenpflege NRW, dass die wenigsten Kräfte lange im Job bleiben. „Wir bekommen hoch ambitionierte junge Leute aus der Ausbildung, die dann im Alltag unter hohem wirtschaftlichen Druck arbeiten müssen.“ Er fordert mehr Geld für die Pflege und nennt als eine Stellschraube die sogenannte Behandlungspflege: Wenn ambulante Dienste auch krankenpflegerische Maßnahmen wie etwa die Medikamentenvergabe übernehmen, werde das von der Krankenkasse finanziert, so Treiß. „Die Erhöhung der Vergütung liegt aber seit den 90ern unterhalb der Teuerungsrate.“
Fachkräfte aus Serbien und Vietnam
Die Awo Westliches Westfalen sucht inzwischen auch abseits des deutschen Marktes nach Lösungen. Seit Jahresanfang umwirbt sie in Kooperation mit der Bonner Vispero GmbH Fachkräfte aus Serbien. Dort sind laut Awo derzeit bis zu 20 000 Krankenpfleger arbeitssuchend. 24 Bewerbungsgespräche wurden in Belgrad geführt, mit den ersten zehn Serben hat die Awo Arbeitsverträge geschlossen. Sie sind bis zur Anerkennung ihres Abschlusses als Pflegeassistenten angestellt. Die Awo investiere „enorme finanzielle Mittel“ in das Pilotprojekt, so Hildebrandt. Als nächstes sucht der Verband Kontakt zu Pflegeschulen in Vietnam. „Retten wird uns das nicht, aber es könnte den Mangel abfedern.“
>> KRANKENPFLEGE STOCKT AUF
Sozialverbände fordern höhere Landespauschalen für die Altenpflegeschulen – bisher erfolglos. Anders in der Krankenpflege: Laut Caritas bieten 13 katholische Krankenpflegeschulen ab Herbst 398 weitere Ausbildungsplätze an. Möglich sei das auch, weil sich Land, Kliniken und Krankenkassen für eine Finanzierung weiterer Azubi-Plätze stark gemacht hätten.