Berlin. Da sitzt er. Im Garten der Parlamentarischen Gesellschaft, einem edlen Club für Politiker neben dem Reichstag, zwitschern die Vögel. Ein paar Bundeswehrsoldaten auf Besuch in der Hauptstadt schlendern über den Rasen, schauen zu Sigmar Gabriel herüber. Sie tuscheln, ist das nicht …?! Aber das wird bald weniger werden. Jahrzehntelang war er mächtig. Ministerpräsident, SPD-Chef, zuletzt Vizekanzler, Außenminister. Drei Monate ist das her. Jetzt klingelt in eineinhalb Stunden das Handy einmal. Nach neun Jahren ist er gerade aus der Top 10 der beliebtesten Politiker gefallen. Die Karawane zieht weiter.

Da sitzt er. Im Garten der Parlamentarischen Gesellschaft, einem edlen Club für Politiker neben dem Reichstag, zwitschern die Vögel. Ein paar Bundeswehrsoldaten auf Besuch in der Hauptstadt schlendern über den Rasen, schauen zu Sigmar Gabriel herüber. Sie tuscheln, ist das nicht …?! Aber das wird bald weniger werden. Jahrzehntelang war er mächtig. Ministerpräsident, SPD-Chef, zuletzt Vizekanzler, Außenminister. Drei Monate ist das her. Jetzt klingelt in eineinhalb Stunden das Handy einmal. Nach neun Jahren ist er gerade aus der Top 10 der beliebtesten Politiker gefallen. Die Karawane zieht weiter.

Auf die Frage, wie stark der Phantomschmerz ist, geht Gabriel nur oberflächlich ein: „Es ist neu und anders. Und es macht Spaß.“ Nach abgeschlossenen Lebensabschnitten müsse man sich neu orientieren und nicht ständig über die Vergangenheit nachdenken. Die Sätze wirken wie ein Schutzpanzer, den der 58-Jährige sich angelegt hat. Anfang Februar schmissen ihn Martin Schulz, Andrea Nahles und Olaf Scholz raus. Mit Schulz, über den er in der ersten Wut öffentlich böse herzog, ist es wieder okay. Jetzt sind beide weg, Nahles hat als erste Frau in der SPD die ganze Macht.

Er bekommt viele Einladungen von SPD-Ortsvereinen

Gabriel bestellt sich noch eine Tasse Kaffee. Er spricht leise, aber intensiv. Man könnte das sofort live im Fernsehen übertragen. Trump, Handelskrieg, Italien, Bamf – es gibt sehr wenige Politiker, die die großen Fragen in eine Nussschale packen können. Über die SPD wollte er eigentlich gar nicht reden. Aber wie soll das gehen? No way.

Der Mann war fast acht Jahre Vorsitzender. Er richtete die SPD nach dem Absturz 2009 wieder auf, überzeugte 2013 die Mitglieder im Alleingang von der GroKo. Machte Frank-Walter Steinmeier zum Bundespräsidenten. In der Parteiführung um Nahles und Scholz sind sie froh, dass sie ihn los sind. Durch die Bank sagen Spitzengenossen, endlich werde offen miteinander geredet, Teamgeist statt Basta-Mentalität. An der Parteibasis sieht das anders aus. Gabriel bekommt viele Einladungen von Ortsvereinen. „Es ist schon dramatisch, wie viele weiße Flecken wir als Volkspartei auf den Landkarten haben“, sagt er nachdenklich. „Sie müssen hin zu den Menschen, mit denen reden und die überzeugen, dass das ein gutes und starkes Land ist und Nationalismus und menschenfeindliche Propaganda nicht weiterhelfen. Ich finde, das ist für einen ehemaligen Parteivorsitzenden schon eine lohnende Tätigkeit.“

Sein Vater war ein eingefleischter Nazi. Gabriel litt als Kind furchtbar darunter, bevor er nach langem Sorgerechtsstreit endlich zur Mutter durfte. Der Aufstieg der AfD, die Flüchtlingskrise, die etwas in der Gesellschaft ins Rutschen gebracht hat, das alles bewegt und beunruhigt ihn. Schlimm sei, dass die Debatte zu den „Vogelschiss“-Äußerungen von AfD-Fraktionschef Alexander Gauland über die Nazizeit nach zwei Tagen weg gewesen sei.

„Die Behauptung, man dürfe der AfD nicht zu viel Aufmerksamkeit schenken, die halte ich für falsch. Die wollen die Grenzen dauerhaft verschieben und setzen auf Gewöhnung. Auschwitz als Vogelschiss der deutschen Geschichte zu bezeichnen, daran will ich mich nicht gewöhnen. Gauland und seine Anhänger stehen außerhalb unserer Gesellschaft. Es sind Brandstifter im Gewand der Biedermänner.“ Gabriel warnte 2015 als einer der ersten, dass mit den Flüchtlingen viele Probleme ins Land kommen. Traumatisierte Jugendliche mit Gewalterfahrung und auch Kriminelle. Seine Genossen wollten nicht auf ihn hören. Die SPD sei in der Flüchtlingspolitik zu naiv gewesen.

Gabriels Idee eines großen Solidarpaktes, um Einheimischen die Angst vor Benachteiligungen zu nehmen, verlief im Sand. „Dafür habe ich viel Kritik gerade auch in meiner eigenen Partei einstecken müssen, weil die Stimmung damals eine relativ unpolitische und naive war. Dort liegen unsere eigentlichen Fehler.“ Aber ist Gabriel da nicht ein wenig selbstgerecht? Saß er anfangs nicht mit einem „Refugees-Welcome“-Sticker auf der Regierungsbank? Dass seine Erzrivalin Nahles härtere Töne anschlägt („Wir können nicht alle aufnehmen“), erfüllt ihn jedenfalls mit Genugtuung. „Ich freue mich, dass die Parteivorsitzende der SPD mittlerweile einen wesentlich unideologischeren Zugang zu dem Thema hat. Das war nicht immer so.“

Nahles sitzt an diesem Montag mit der Parteispitze zusammen, um von Experten zu hören, warum die SPD bei der Wahl auf 20 Prozent abstürzte und wie ein Neuanfang gelingen kann. Gabriel sagt nur ein Stichwort: Digitalisierung. Die Reform der SPD dürfe sich nicht „in liberalen und in Teilen eliten-bezogenen Diskursen“ erschöpfen. „Sonst ergeht es uns so wie den Demokraten in den USA. Wer sich um den Arbeiter im Rust Belt nicht kümmert, den wird der Hipster in Kalifornien auch nicht retten.“ Die Digitalisierung biete Beschäftigten neue Freiheitsspielräume: „Das auszubauen und nicht defensiv zu sagen, wir brauchen ein solidarisches Grundeinkommen, einige arbeiten 70 Stunden, andere gar nicht und bekommen dafür 1500 Euro, das ist fast schon ein euphorisierendes Thema“, glaubt er.

Und was euphorisiert einen Sigmar Gabriel, der vielleicht das Zeug zum Kanzler hatte, sich aber zu oft selbst im Weg stand? „Ich habe genug um die Ohren und bin ja auch Bundestagsabgeordneter.“ In Bonn hält er Vorlesungen, bald auch an der Elite-Uni Harvard in den USA. Im nächsten Jahr zieht er in den Verwaltungsrat des neuen deutsch-französischen Eisenbahnriesen Siemens Alstom ein. Aber erst einmal ist Sommer. Bevor Marie, die mittlere von drei Töchtern, in die Schule kommt, fährt die Familie, Ehefrau Anke ist in Goslar Zahnärztin, drei Wochen mit dem Wohnmobil durch Schweden. Angeln, Elche gucken, Köttbullar essen. Keine Politik? Nicht ganz. Ein Schwede wird dazustoßen. Stefan Löfven, der Ministerpräsident, ein Freund. Die Genossen werden auf einer Frage herumkauen: Wie ist Europas Sozialdemokratie zu retten?