Essen. . Seit der Pflegereform haben deutlich mehr Menschen Anspruch auf Leistungen aus der Pflegeversicherung. Betroffene und Verbände loben Verbesserung.
Es hatte beim Familienfest begonnen. Grete hatte von einem Moment auf den anderen vergessen, wo sie war. Orientierungslos saß sie am Tisch zwischen ihren Liebsten und suchte nach Anhaltspunkten. Die Ärzte gaben ihr Tabletten, doch auch die vergaß sie zu nehmen. So wie sie vergaß, wo die Sparbücher lagen, die Bilder standen. Immer wieder rief sie den Sohn an, wieso er ihr alles wegnehme. Als die über 80-Jährige auch nicht mehr wusste, wann sie ihre Kleidung zuletzt gewechselt hatte, war für Sohn Karl-Heinz D. klar: Grete braucht professionelle Hilfe.
Doch für Senioren wie Grete war das lange schwierig. In Deutschland waren es über Jahre vor allem körperliche Einschränkungen, die dazu führten, dass jemand als pflegebedürftig eingestuft wurde. Demenzkranke sind oft durchs Raster gefallen. Unter Federführung des damaligen Bundesgesundheitsministers Hermann Gröhe (CDU) hat der Bund eine der weitreichendsten Pflegereformen entwickelt und 2017 umgesetzt. Seitdem gibt es statt drei Pflegestufen fünf Grade, deren Zuordnung auch davon abhängt, wie selbstversorgend oder mobil jemand ist.
Deutlich mehr Menschen beanspruchen Leistungen
In NRW beanspruchen nun deutlich mehr Menschen Leistungen der Pflegeversicherung, wie die Medizinischen Dienste der Krankenversicherung (MDK) zeigen. Die MDK sind für die Einstufung in einen Pflegegrad zuständig. 2017 haben ihre Experten rund 450 000 Versicherte begutachtet, davon 280 000 erstmals. Das sind 90 000 Erstanträge mehr als 2016. Mit einem Plus von 44 Prozent war die Antragsflut in Westfalen-Lippe besonders groß. Insgesamt erhielten in NRW 235 000 Senioren erstmals Pflegehilfen. Ihre Anzahl steigt weiter: Anfang 2018 wurden beim MDK Nordrhein bereits wieder so viele Anträge gestellt wie 2017.
Für die Medizinischen Dienste war die Umstellung infolge der Reform groß: Sie haben seit 2015 zusätzliche Mitarbeiter eingestellt, um die im Akkord gestellten Anträge zu bearbeiten. Zudem gilt die neue Art der Begutachtung von Versicherten als aufwendiger. In sechs Lebensbereichen muss detailliert bewertet werden, wie hilfsbedürftig jemand ist. Die Reform bewertet Ulrich Heine, Vizechef beim MDK Westfalen-Lippe, aber als positiv. „Jetzt steht die Erfassung des Grades der Selbstständigkeit mit seinem tatsächlichen Unterstützungsbedarf im Mittelpunkt.“ Insbesondere Demenzerkrankte profitierten vom neuen Verfahren, lobten die MDK-Experten.
„Neben der Pflege fehlte etwas“
Zum Beispiel Grete. Die 89-Jährige hatte vor der Reform über die Pflegestufe zwei Leistungen erhalten. Sie besuchte Demenzgruppen und bekam zu Hause ambulante Hilfe durch die Sozialstation der Diakonie Oberhausen. „Aber wir haben gemerkt, dass ihr neben der Pflege etwas fehlte, sie sich mehr und mehr isolierte“, sagt ihr Sohn Karl-Heinz D. 2017 habe der MDK seine Mutter unbürokratisch in einen neuen Grad eingestuft – wie Hunderttausende andere: Für Versicherte, die bereits Leistungen bezogen, galt bei der Reform eine Art Bestandsschutz.
Für Grete war mit dem neuen Grad drei plötzlich Geld für eine Tagespflege in der Woche da. Zwei Mal in der Woche fährt sie nun nach Mülheim – eine professionelle Betreuung, die die Familie nicht aus eigener Tasche hätte stemmen können. „Die Tagespflege ist ein richtiger Segen“, sagt Karl-Heinz D., „meine Mutter ist gesprächiger geworden, sie redet viel von ihrem Tag, wenn ich sie abhole.“ Wenn Grete früher lange schlief, weil sie nachts durch ihre Wohnung irrte, sei sie nun jeden Morgen pünktlich wach. „Sie hat wieder einen geregelten Tagesablauf.“
Rentenbeiträge für Angehörige
Rund 640 000 Menschen in NRW sind nach Angaben des Sozialverbandes VdK pflegebedürftig. Mehr als 70 Prozent von ihnen werden zu Hause versorgt und betreut – auch für sie habe sich die Situation verbessert, sagte Christian Pälmke von der Interessenvertretung „Wir pflegen NRW“. Zu loben sei, dass pflegenden Angehörigen ab dem zweiten Grad Beiträge zur Renten- und Arbeitslosenversicherung bezahlt würden, sie zudem gesetzlich unfallversichert seien. „Das ist eine deutliche Verbesserung“, sagt Pälmke. Ungelöst sei indes, dass viele Pflegende ihre Arbeit aufgeben müssen und in Hartz IV abrutschten: Heute dauere die Pflegezeit durchschnittlich zehn Jahre – den Einstieg in den Beruf zu finden, sei schwierig, sagt Pälmke: „Der Staat spart durch die häusliche Pflege, deshalb sollte er uns mehr unterstützen.“
Nachholbedarf sieht auch Horst Vöge, NRW-Vorsitzender des größten deutschen Sozialverbandes VdK. Das gelte besonders bei der Pflegeberatung, die gefördert werden sollte. Anders als geplant arbeiteten Kommune und Pflegekassen aber zu selten Hand in Hand, um Betroffene zu beraten. „Gerade im ländlichen Raum von NRW fehlen Pflegestützpunkte“, sagt Vöge. Die Städte müssten ihrer Verantwortung gerecht werden und die Beratung ausdehnen.