Hamburg. . Michael Otto hat die Otto Group gemeinsam mit seinem inzwischen verstorbenen Vater groß gemacht. In dieser Woche wird der Familienunternehmer aus Hamburg 75. Ein Gespräch über die Anfänge der Firma, die Macht des Internets und der Daten und die Konkurrenz zu Amazon.
Michael Otto hat die Otto Group gemeinsam mit seinem inzwischen verstorbenen Vater groß gemacht. In dieser Woche wird der Familienunternehmer aus Hamburg 75. Ein Gespräch über die Anfänge der Firma, die Macht des Internets und der Daten und die Konkurrenz zu Amazon.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs mussten Sie im Alter von zwei Jahren mit Ihrer Familie von Kulm, heute Chelmno in Polen, Richtung Westen fliehen. Ihr Vater wurde im Krieg schwer verwundet. Wie war das damals genau?
Michael Otto: Mein Vater lag im Lazarett, sodass meine Mutter mit meiner Schwester und mir geflohen ist. Der Anfang der Flucht verlief unproblematisch. Wir sind mit der Fähre über die Weichsel gefahren, dann mit dem Zug. Aber in Mecklenburg-Vorpommern ging es in Pferdetrecks weiter. Wir kamen in die großen Flüchtlingsströme und wurden auch von Tieffliegern beschossen, sodass sich meine Mutter mit uns in Gräben verstecken musste. Gott sei Dank haben wir überlebt.
Wie ging es für Sie als Flüchtlingsfamilie weiter in Norddeutschland?
Wir kamen nach Bad Segeberg und wurden zwangseinquartiert. Der Hausbesitzer, zu dem wir kamen, war darüber natürlich nicht besonders glücklich. Er durfte zwei Zimmer für sich behalten, in den anderen Räumen musste er zwei Familien aufnehmen. Wir hatten ein Zimmer zu fünft: meine Oma, meine Eltern, meine Schwester und ich. Wenn wir Kinder zu laut gespielt haben, bekamen wir schnell Ärger mit dem Hausbesitzer – daran erinnere ich mich noch gut. Das war für meine Schwester und mich keine schöne Zeit – auch wenn ich das Verhalten des Hausbesitzers heute nachvollziehen kann.
Deutschland musste in den vergangenen Jahren wieder einen großen Zustrom an Flüchtlingen verkraften. Haben Sie sich bei den Bildern 2015 an Ihre Flucht erinnert gefühlt?
Durchaus. Ich habe vor allem mit denen gefühlt, die wegen Krieg und Zerstörung zu uns geflohen sind. Das war ja wie bei uns damals. Für sie ging es auch ums nackte Überleben. Und ich bin bis heute der Meinung, dass man diesen Menschen einen sicheren Ort bieten muss, an dem sie leben können. Anders verhält es sich mit Wirtschaftsflüchtlingen. Denn wir können ja nicht die ganze Welt aufnehmen. Deshalb sollten wir Wirtschaftsflüchtlinge wieder in ihre Heimatländer zurückführen. Da können wir uns die Schweiz als Beispiel nehmen. Sie hat mit vielen Ländern Abkommen geschlossen, nach denen finanzielle Unterstützung für die Flüchtlinge gezahlt wird, die wieder in ihre Heimat zurückmüssen – für soziale Projekte und anderes. Zudem brauchen wir endlich ein Einwanderungsgesetz, welches dafür sorgt, dass Menschen, die wir auf dem heimischen Arbeitsmarkt benötigen, auch zu uns kommen können und integriert werden.
Haben Sie den umstrittenen Satz von Bundeskanzlerin Angela Merkel, „Wir schaffen das“, nachvollziehen können?
Es ging ja damals darum, dass die in Budapest gestrandeten und nicht ausreichend versorgten Flüchtlinge in anderen Ländern unterkommen. Man musste ein großes Elend beheben. Frau Merkel wollte den Menschen mit ihrer Aussage Mut zusprechen – das fand ich in Ordnung. Schließlich sind wir ein reiches Land. Wahrscheinlich hätte die Politik aber damals stärker betonen müssen, dass es sich um eine einmalige humanitäre Aktion handelt. Das wurde versäumt.
In den knapp 26 Jahren, die Sie Otto-Chef waren, vervielfachte sich der Umsatz auf rund 11,5 Milliarden Euro. Die Anzahl der Mitarbeiter kletterte auf mehr als 50.000. Was waren neben der Internationalisierung und dem Zukauf von Firmen Garanten für diesen Erfolg?
Wichtig für den Erfolg war die Digitalisierung. Ich bin schon Anfang der 80er-Jahre als Vorstandschef alle zwei Jahre mit unserem IT-Vorstand für eine Woche in die USA gereist – ins Silicon Valley und an die Ostküste. Dort haben wir viele Anregungen bekommen. Ende der 80er-Jahre stand zum Beispiel bei immer mehr Unternehmen das Thema interaktives Fernsehen auf der Agenda. Schon damals habe ich gedacht: Das könnte die Zukunft des Versandhandels sein. Dann haben wir in den USA mit Time Warner einen sehr aufwendigen Test gemacht. Dabei ging es uns um Modeangebote und Bestellungen und bei Time Warner um Video on demand. Haushalte wurden in Orlando verkabelt und konnten sich per Knopfdruck Modeangebote und Videos anschauen. Als 1995 das Internet seinen Siegeszug begann, haben wir sofort umgeschwenkt und sind ebenfalls ins Internet gegangen. Nur weil wir so früh dabei waren, konnten wie unsere Mitarbeiter auch gut auf die neuen Herausforderungen vorbereiten. So ein Prozess dauert eben zehn, zwanzig Jahre. Man darf nicht vergessen: 1995 besaßen gerade einmal 250.000 Menschen bundesweit Zugang zum Internet – und wir waren als Unternehmen mit dabei; obwohl wir im Netz nur ein paar Tausend Kunden hatten. Viele Konkurrenten, die zu spät auf das Internet gesetzt haben, die gibt es heute nicht mehr. Die Otto Group hingegen hat es geschafft, heute weltweit unter den fünf größten Internethändlern zu sein.
Ihr Vater fing mit einem 14-seitigen Versandhaus-Katalog auf Papier an, nun bestellen die Kunden in Sekundenschnelle am Smartphone. Wohin wird diese Entwicklung in zehn, zwanzig Jahren führen?
Es gibt verschiedene Trends. Zum einen werden wir über die umfangreichen Daten, die uns vorliegen, den Kunden immer individuellere Angebote machen können. Dann wird die Spracherkennung eine größere Rolle spielen. Bestellen mit Sprachassistenten gehört aus meiner Sicht die Zukunft. Zudem wird die sogenannte Augmented Reality, also die erweiterte Realität, an Bedeutung gewinnen. So kann man sich schon heute seine Wohnung auf dem Smartphone anschauen und Möbel von Otto dort virtuell platzieren und verschieben.
Sie haben das Sammeln von Daten angesprochen. Der jüngste Facebook-Skandal hat gezeigt, wohin diese Entwicklung führen kann. Stimmt Sie das nicht nachdenklich?
Die Kunden müssen gerade beim Thema Daten vertrauen können. Solange das Sammeln und die Nutzung von Daten den Kunden dienen, halte ich es für sinnvoll. So muss ein Kunde sich zum Beispiel bei otto.de nicht mühsam durch 2,8 Millionen Artikel klicken, sondern bekommt maßgeschneiderte Angebote. Die Daten müssen aber so abgesichert sein, dass mit ihnen kein Missbrauch getrieben werden kann – so wie das jetzt offenbar bei Facebook geschehen ist.
Können Sie garantieren, dass die Daten bei Otto sicher sind?
Wir haben umfangreiche Sicherungssysteme, die das gewährleisten. In regelmäßigen Abständen führen wir eigene Belastungstests durch. Das heißt: Hacker versuchen unsere Sicherungssysteme zu knacken. Das habe ich vor langer Zeit einmal eingeführt. Ganz am Anfang habe ich eine Prämie von 100.000 D-Mark versprochen, wenn jemand unsere Sicherungssysteme knackt – gelungen ist das allerdings bisher niemandem.
Ihr mächtiger Konkurrent in Deutschland heißt Amazon. Wie beurteilen Sie die Dominanz der Amerikaner?
Amazon ist ein tolles Unternehmen, technisch perfekt. Sie investieren viel in Soft- und Hardware. Dennoch bin ich der Meinung, dass in Deutschland mindestens zwei bedeutende Handelsplattformen im Netz existieren können – und das sind Amazon und otto.de. Wir profilieren uns in diesem Wettbewerb eigenständig. Amazon ist eher technisch, maskulin, wir sind modischer ausgerichtet, femininer – und serviceorientierter. So bieten wir rund um die Uhr eine gute telefonische Beratung an. Zudem sind wir im Online-Möbelhandel bereits die Nummer eins hierzulande – also vor Amazon. Jede zweite Waschmaschine, die in Deutschland verkauft wird, kommt von Otto. Und als Gruppe sind wir weiterhin Deutschlands größter Textileinzelhändler.
Wollen Sie Amazon eines Tages in Deutschland überholen?
Das werden wir wohl nicht schaffen, da muss man realistisch bleiben, und es ist auch nicht unser Ziel. Wir haben auch nicht die finanziellen Mittel wie Amazon, deshalb müssen wir unsere begrenzten Mittel intelligenter einsetzen. Und ich finde, dass uns das ganz gut gelingt.