Duisburg. . Vor allem in sozialen Brennpunkten steigt der Frust über die Politik. Damit sinkt auch die Wahlbeteiligung, sagen Forscher.

Enttäuscht, abgehängt, frustriert – arme und arbeitslose Menschen erkennen offenbar immer weniger einen Sinn darin, bei Wahlen ihre Stimme abzugeben. Sozialwissenschaftler sehen bereits einen Trend zu „demokratiefreien Zonen“ in den ehemaligen Arbeitervierteln des Ruhrgebiets.

Der Niedergang der etablierten Parteien und der Aufstieg der AfD zeigten, welche Folgen die Erfahrung von Perspektivlosigkeit und sozialer Unsicherheit haben kann. „Viele Menschen aus der großen Gruppe der Nichtwähler beschäftigen sich gar nicht mehr mit Politik, sie haben resigniert“, sagt Paul Marx, Politikwissenschaftler der Universität Duisburg-Essen. Doch nicht nur die unteren sozialen Schichten wendeten sich mehr und mehr vom politischen Geschehen ab. Bedrohlich findet Marx, dass Unsicherheit und Angst um den Arbeitsplatz auch nach der Mittelschicht greifen.

Analysen der Landtags- und Bundestagswahlen ergaben, dass bei der Wahlbeteiligung die Kluft zwischen armen und reichen Stadtvierteln größer wird, vor allem im Ruhrgebiet. So lag bei der NRW-Wahl in der unteren Gruppe der Stimmbezirke die Wahlbeteiligung im Schnitt bei gut 49 Prozent. In den Bezirken mit den höchsten Wahlbeteiligungen lag der Wert bei über 79 Prozent – eine Differenz von rund 30 Prozent. Dabei finden sich in den Bezirken mit geringer Wahlbeteiligung nach einer Untersuchung der Bertelsmann-Stiftung 50 Prozent mehr Haushalte aus wirtschaftlich schwachen Milieus, fast viermal so viele Arbeitslose und knapp doppelt so viele Menschen ohne Schulabschluss.

Die Folgen dieser Entwicklung führten indes nicht dazu, dass sich die Politik stärker um die Belange ärmerer Wählerschichten kümmerte, um diese bei der nächsten Wahl zur Stimmabgabe zu motivieren. Im Gegenteil: Die Schere geht offenbar immer weiter auf. Eine aktuelle Untersuchung der Uni Osnabrück im Auftrag der Bundesregierung zeigt, dass politische Entscheidungen weitaus häufiger mit den Interessen höherer Einkommensgruppen übereinstimmen als mit den Interessen der Menschen aus sozial schwachen Schichten. Mehr noch: „Was Bürger mit geringem Einkommen in besonders großer Zahl wollen, hatte in den Jahren 1998 bis 2013 eine besonders geringe Wahrscheinlichkeit, umgesetzt zu werden“, so die Studie. Damit drohe ein sich „verstärkender Teufelskreis“: sozial benachteiligte Gruppen wenden sich von der Politik ab, wodurch sich die Politiker noch stärker an den Interessen der Bessergestellten orientieren, denn dort können sie Wähler gewinnen. Er sei wenig optimistisch, so Marx, dass sich dieser Prozess unterbrechen lasse. „Man sieht es an der SPD: Verlorenes Vertrauen lässt sich nur schwer zurückgewinnen.“

„Digitalisierung betrifft Millionen“

Dabei bleibt eine Frage offen, betont Marx: Bleiben sozial schwache Menschen der Politik fern, weil sie sich übergangen fühlen? Oder werden sie übergangen, weil die Politik hier ohnehin keine Stimmen erwartet? Auch um diese Frage dreht sich das neue Forschungsvorhaben des 35-Jährigen Spitzenforschers, das er mit Förderung des Landes an der Uni Duisburg-Essen startet. Für die politische „Apathie“ bestimmter Gruppen sieht Marx aber nicht nur soziale, sondern auch psychologische Gründe: „Soziale Probleme, Armut und Unsicherheit schnüren die Menschen stark ein. Dann fehlt einfach die Energie, sich mit politischen Themen auseinanderzusetzen“, vermutet er. Bisher habe sich die Forschung zu sehr mit der Erhebung von Daten befasst und weniger nach den Beweggründen der Menschen gefragt. Marx und sein Team wollen daher die Perspektive der Menschen einbeziehen und mit ihnen ins Gespräch kommen. „Mir ist die Haltung und die Einstellung der Leute wichtig“, sagt er.

Marx hebt hervor, dass die soziale Unsicherheit auch immer mehr die Mittelschicht ergreift. „Die Furcht wächst“, sagt er. „Die Digitalisierung betrifft Millionen Arbeitnehmer, auch mit akademischer Ausbildung.“ Er habe große Zweifel daran, dass im Zuge der Digitalisierung aller Wirtschaftsbereiche im gleichen Umfang neue Stellen geschaffen werden wie alte wegfallen.