Erfurt. . Ein Gespräch mit Regisseur Volker Schlöndorff über seinen Krimi „Der namenlose Tag“, Hauptdarsteller Thomas Thieme und über die Liebe zur Aktentasche

Im Frühjahr 2017 drehte Oscarpreisträger Volker Schlöndorff in Erfurt den Kriminalfilm „Der namenlose Tag“ nach dem gleichnamigen Roman von Friedrich Ani. Darin spielt Thomas Thieme einen pensionierten Kommissar, der oft als „Todesbote“ Angehörige informieren musste und jetzt hofft, ein Leben jenseits der Toten führen zu können. Doch die Vergangenheit holt ihn ein, als sich ein verzweifelter Mann an ihn wendet, dessen Ehefrau sich gerade erhängt hat. Er gibt dem Kommissar eine Mitschuld an ihrem Tod. Wir sprachen mit dem Regisseur.

Herr Schlöndorff, als Sie Friedrich Anis Roman gelesen haben, was für Bilder hatten Sie da im Kopf?

Obwohl der Roman in München spielt, habe ich sofort eine Kleinstadt vor mir gesehen. Und das zweite Bild war dieser einsame, alte Kommissar, der als „Todesbote“ durch eine Straße mit lauter Einfamilienhäusern geht.

Machten Sie sich sofort ans Drehbuch oder haben Sie erst den passenden Hauptdarsteller gesucht?

Der war schon da. Als ich den Roman in die Hand bekam, hat man mir gleich gesagt: Übrigens, Thomas Thieme würde sich dafür interessieren, die Rolle zu spielen.

Wie war die erste Begegnung mit ihm?

Durchaus spannend, denn er hatte, glaube ich, ein falsches Bild von mir. Er dachte wohl, ich sei so ein Machtmensch, der einschüchtert. Vielleicht sah er in mir den Abwickler der Defa und was weiß ich noch alles. Ich bin auf meine übliche nette Art auf ihn zugegangen, und das hat ihn völlig verblüfft.

Anders als der Roman beginnt Ihr Film, den Sie in Erfurt gedreht haben, wie eine antike Tragödie: Der Todesbote geht um, in Gestalt des pensionierten Kommissars, der nicht zur Ruhe kommt ...

Das war meine Vorstellung, dass er auf die Stadt zugeht. Das hat sich aus der ersten Besichtigung ergeben, als wir auf dem Hügel an dieser wunderbaren Allee entlangfuhren, hinter der im Tal Erfurt liegt. Das ist wie Bilderbuch! Da wusste ich: So muss der Film anfangen.

Auffällig ist die alte Aktentasche, die Thiemes Kommissar stets bei sich hat. Auch, um sich daran festzuhalten?

Das sagt ja auch seine Frau: Da hast du die wieder rausgekramt. Eigentlich ist er ja im Ruhestand und braucht keine Aktentasche mehr, aber das ist sein Selbstbild. Er braucht die Jacke, die wie eine Rüstung ist, und er braucht die Tasche, daran hält er sich fest. Da ist, glaube ich, nichts drin, höchstens die Zeitung von vorgestern.

Der Kommissar ist das filmische Medium. Der Zuschauer erlebt alles aus dessen Perspektive. Was hat die Figur mit Ihnen zu tun?

Diese sogenannte „Gedankenfühligkeit“, wenn er sich da hinlegt und den Fall vor seinem inneren Auge ablaufen lässt, das ist genau das, was man tut, wenn man einen Film macht. Im Vorfeld, auch oft noch zwischen zwei Drehtagen, nimmt man sich die Zeit, um mal zu meditieren: Was machen wir hier eigentlich? Wie kommt die und die Figur rüber? Habe ich diese Figur genügend berücksichtigt? Ich habe zu Friedrich Ani gesagt: Du beschreibst hier das Berufsbild des Regisseurs! Denn es besteht nicht darin, den anderen zu sagen, was sie machen sollen, sondern es besteht zunächst darin, die anderen zu beobachten, wie sie’s machen. „Gedankenfühligkeit“ trifft das ganz gut, denn es kommt aus dem Gefühl, aus dem Bauch, es ist eine Emotionalisierung.

In „Der namenlose Tag“ wird kein Mörder gejagt, es gibt keine Actionszenen. Ist es das Schuldgeflecht, das da aufgedeckt wird, was Sie als Filmemacher gereizt hat?

Ich glaube, wenn man hier überhaupt von Schuld sprechen kann, dann ist der Schuldige die Familie. Das ist eine kollektive Neurose, die spielen sich gegenseitig heile Welt vor. Leider ist das ja weitverbreitet und wahrscheinlich verantwortlich für viele Tragödien. Diese Sprachlosigkeit – wobei, sie könnten ja sprechen, sie tun’s bloß nicht! Aus Angst, die Gefühle des anderen zu verletzen. Aus Angst, sich getäuscht zu haben. Wenn man über Konflikte nicht spricht, dann passiert das Schlimmste. Das Thema ist, dass jeder sich in seiner Einsamkeit einmauert und nicht kommuniziert.

Der von Devid Striesow gespielte Ehemann ist ein Meister der Verdrängung. Doch es gibt auch die Sprachlosigkeit zwischen den Generationen. Was sagen Sie zu den jungen Darstellern, die sicher noch wenig Filmerfahrung hatten?

Die Kinder sind die eigentlichen Opfer. Wenn die Eltern ihnen nicht vorleben, dass man miteinander spricht, dann wird das zur zweiten Natur auch bei den Jungen. Immerhin haben sie die Gruppe als Bezug und gründen absurde Geheimbünde, wie diese Gothic-Kids, damit sie wenigstens das Gefühl einer Zugehörigkeit haben.

Sie haben die Gruppentreffen auf die Erfurter Domstufen verlegt. Normalerweise finden die auf dem Petersberg statt.

Das mag sein. Aber wenn man Go-thic sagt und hat einen gotischen Dom vor der Nase ...

Wurden die Jugendlichen gecastet?

Die beiden Mädchen und der junge Mann sind noch auf der Schauspielschule, die haben wir dort beim Vorsprechen entdeckt. Aber die Komparsen um sie herum, zum Teil auch echte Gothic-Kids, sind alle aus Erfurt.

Sie haben mit fast 79 Jahren eigentlich alles erreicht. Trotzdem halten Sie an Ihrer Aktentasche fest.

Vielleicht geht’s mir wie dem Kommissar. Im Ruhestand würde ich mich langweilen.