Celle/Gelsenkirchen. . Er machte ein Einser-Abitur und studierte Medizin, dann reiste Anil O. nach Syrien und schloss sich dem IS an. Heute ist er ein Kronzeuge.

Der Mann, der einst den Staat gehasst hat, ist nun auf dessen Schutz angewiesen. Woche für Woche steht Anil O. vor dem Oberlandesgericht in Celle, er trägt eine blonde Perücke, eine runde Hornbrille, ein blaues Jackett, Schal. Sein Rücken sieht von hinten aus wie ein Brett, die Arme hält er abgewinkelt, als trage er unter der Kleidung einen Schutz. Der gebürtige Gelsenkirchener wird bedroht, er befindet sich im Zeugenschutzprogramm, lebt an einem geheimen Ort. Drei Personenschützer verfolgen ihn auf Schritt und Tritt.

Es ist kein leichter Auftritt für den 24-Jährigen. Etwas mehr als eine Armlänge entfernt sitzen der Hildesheimer Prediger Ahmad Abdulaziz Abdullah A., genannt Abu Walaa. Daneben Hasan C., Boban S. und zwei weitere Angeklagte, ehemalige Glaubensbrüder von Anil O.. Sie sitzen hinter einer Wand aus Panzerglas, doch ihre Blicke sind bohrend, zuweilen verächtlich.

Der Zeuge gilt in der Szene als Verräter

Abu Walla, hier bei dem Prozess in Celle im September.
Abu Walla, hier bei dem Prozess in Celle im September.

Die Bundesanwaltschaft ist überzeugt, dass Abu Walaa der Kopf eines Netzwerks ist, das junge Männer wie Anil O. radikalisierte, sie hält ihn für den „IS-Repräsentanten“ in Deutschland. Auch der Attentäter vom Berliner Breitscheidplatz, Anis Amri, soll Kontakt zum Netzwerk gehabt haben. Die Aussage des Syrien-Rückkehrers Anil O. hat maßgeblich dazu beigetragen, dass sich die Männer unter anderem wegen Mitgliedschaft und Unterstützung der Terrormiliz Islamischer Staat verantworten müssen. In der Szene gilt er als Verräter.

Es ist auch nicht leicht für die Richter: Sie müssen in dem derzeit wohl wichtigsten deutschen Terrorverfahren darüber entscheiden, wie glaubwürdig Anil O. ist. Als Kronzeuge kann er einzigartige Einblicke in eine Szene geben, zu der die Ermittler nur schwer Zutritt haben. Weil er auspackte, erhielt er im vorigen Jahr eine milde Strafe vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf: zwei Jahre auf Bewährung. Informationen gegen Straferlass? Was sind die wahren Motive von Anil O.?

Der Deutschtürke wächst mit zwei Brüdern in Gelsenkirchen auf. Weder sein Vater noch seine Mutter hätten zuhause gebetet oder seien regelmäßig in die Moschee gegangen, erzählt er vor Gericht. Zu seinem Vater hat er ein angespanntes Verhältnis, mehrere Jahre sitzt dieser wegen verschiedener Delikte in Haft. Als Anil O. mit etwa 16 Jahren seine jetzige Frau kennenlernt, sind seine Eltern gegen die Beziehung. Als er 18 Jahre ist, heiraten sie trotzdem, bekommen einen Sohn. Er nimmt sich eine zweite Frau nach islamischen Recht, doch die Dreier-Beziehung gestaltet sich schwierig, die Ehe wird geschieden. Trotz der familiären Probleme ist er ein herausragender Schüler. Sein Abitur am Grillo-Gymnasium schließt Anil O. 2014 mit 1,0 ab. Er träumt von einer Karriere als Arzt.

Vor Gericht gibt sich der 24-Jährige reflektiert, aber wortkarg, was seine persönlichen Hintergründe anbelangt. Mit 16 Jahren kommt Anil O. in Kontakt mit dem radikalen Islam. Er sieht sich im Internet Vorträge von Salafisten-Predigern wie Pierre Vogel an, wird einer der Verantwortlichen im Ruhrgebiet für die Koran-Verteilaktion „Lies“. Im Winter 2013 reist er das erste Mal nach Syrien, um „humanitäre Hilfe“ zu leisten, wie er sagt. Er sieht die Zerstörung, Kinder mit amputierten Gliedmaßen. „Ich habe das erste Mal erlebt, was Krieg bedeutet.“ Seine Sympathien für den IS wachsen.

Das Medizinstudium in Aachen bricht Anil O. nach dem ersten Semester ab. In ihm ist längst der Gedanke gereift, mit seiner Familie nach Syrien zu reisen, um sich der Terrormiliz anzuschließen. Er wollte ihr als Arzt dienen, sagt er.

Der erste Kontakt

Im Sommer 2015 kommt es zu den ersten Kontakten mit zwei der Angeklagten im Celler Terror-Prozess, Hasan C. (52) und Boban S. (38). Im Hinterzimmer eines Duisburger Reisebüros und in einer Dortmunder Wohnung radikalisierten die beiden gezielt junge Männer und führten diese dem IS als Kämpfer zu, behauptet Anil O. „Im Unterricht hat man eine unsichtbare Art der Gemeinschaft gespürt. Eine Atmosphäre der Brüderlichkeit.“ Es habe sich alles um die Pflicht zu kämpfen gedreht, darum, dass man die Ungläubigen töten soll. „Das sollte wiederholt werden, bis man es auswendig konnte. Es ging immer um Kampf, Kampf, Kampf, Pflicht, Pflicht, Pflicht.“

Im Juli 2015 reist Anil O. auf Vermittlung seiner beiden „Lehrer“ zu einem Treffen nach Hildesheim, er sieht sich als Delegierter einer Ruhrgebiets-Gruppe von IS-Sympathisanten. Sein Ziel: die Moschee eines in der Szene hoch angesehenen Gelehrten, Abu Walaa. Er will seinen Segen haben für die Ausreise nach Syrien. „Für uns war ausschlaggebend, was Abu Walaa dazu sagt – er war ja bekannt dafür, dass er solche Reisen organisiert.“

Anil O. beschreibt die Moschee des inzwischen verbotenen „Deutschsprachigen Islamkreises“ als Sammelbecken für IS-Anhänger, als eine Art „Mini-IS-Version“, wo Menschen aus vielen Ländern zusammenkommen. Dort trifft er auch auf die beiden Angeklagten Mahmoud O. (28) und Ahmed F. Y. (27). Sie sollen die Organisation der Ausreise übernehmen, geben ihm und seinem Freund den Aussagen zufolge Kontaktpersonen im IS-Gebiet und weisen sie an, Handys und Tablets auf Rechnung zu bestellen, ohne zu bezahlen – um sich so das Geld für die Reise zu erschwindeln.

Geschockt von der Brutalität

Anfang August packen Anil O. und seine Frau die Koffer und fliegen über Brüssel in die Türkei, von dort aus reisen sie nach Syrien und schließen sich der Terrormiliz an. Doch schon knapp ein halbes Jahr später fliehen sie wieder – geschockt von der Brutalität des IS, wie Anil O. in der Verhandlung sagt. Ihm sei sogar eine Zehnjährige als Sexsklavin angeboten worden. „Das war eines der schlimmsten Erlebnisse meines Lebens. Ich fand das krank.“

In der Türkei sitzt Anil O. ein dreiviertel Jahr fest, er muss sich als IS-Terrorist vor dem Gericht in Kilis verantworten. Parallel nehmen Ermittler des Landeskriminalamtes NRW Kontakt zu ihm auf. In Telefonaten mit seiner Frau diskutiert er, was er erzählen soll. Noch im Mai bezeichnet er Vertreter deutscher Sicherheitsbehörden als „Bastarde“. Doch dann fasst er Vertrauen zu einem Ermittler und packt aus.

Im September 2016 darf er – trotz laufenden Verfahrens in der Türkei – nach Deutschland ausreisen. Im Mai 2017 verurteilt ihn das Gericht in Düsseldorf wegen Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung lediglich zu einer Bewährungsstrafe. Weil er dem Staat noch als wichtiger Zeuge nützlich sein soll?

„Es gibt keinen Handel mit den deutschen Behörden“, beteuert Anil O. mehrfach. „Man hatte Interesse an dem Netzwerk, an Abu Walaa, aber mir ist nichts versprochen worden.“

In der Türkei wurde er in Abwesenheit verurteilt

Die Verteidiger der fünf Angeklagten in Celle versuchen trotzdem alles, um Widersprüche herauszufiltern. Sie halten Anil O. für einen Geschichtenerzähler, der es mit der Wahrheit nicht so genau nimmt. Anil O. antwortet eloquent, manchmal etwas patzig. Er tritt so sicher auf, dass er seit etlichen Verhandlungstagen ohne Rechtsbeistand auskommt, die Richter trauen ihm das zu. Doch es gibt Ungereimtheiten. Nach Recherchen des Anwalts Ali Aydin verurteilte das Gericht in Kilis Anil O. im Januar vorigen Jahres in Abwesenheit zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren und drei Monaten. Als Aydin ihn damit in Celle konfrontiert, gibt sich dieser überrascht. Er habe von dem Urteil nichts gewusst. Kann das sein? Zumal dagegen Rechtsmittel eingelegt wurden? In der Türkei habe er teils ganz andere Angaben über seine Reise nach Syrien gemacht, sagt Aydin. „Er erzählt immer nur das, was man hören möchte.“ Geht es Anil O. also darum, seine eigene Rolle als IS-Anhänger kleinzureden?

Andererseits: Anil O. ist rechtskräftigt verurteilt worden und müsste sich nicht bei einem weiteren Terrorverfahren als Zeuge der Gefahr aussetzen, weiterer Straftaten beschuldigt zu werden. Aber er hat sich an 20 Tagen von den Verteidigern in die Mangel nehmen lassen und konnte vermeintliche Widersprüche oft plausibel erklären. Zum Schluss wirkt er sichtlich mitgenommen, reagiert häufig genervt auf die Fragen, die sich zuweilen in Details verlieren. „Ich versuche, mich zusammenzureißen“, sagt er auf die mahnenden Worte des Vorsitzenden Richters, Frank Rosenow. „Aber es ist der 20. Verhandlungstag.“ Er wischt sich mit der Hand müde über die Stirn.